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Landschaft als Grundlage des Bauens
Neue Zürcher Zeitung

Japanische Architektur in Rotterdam

Das Niederländische Architektur-Institut in Rotterdam (NAI) lässt mit seiner Ausstellung «Towards Totalscape» das vergangene Jahrzehnt japanischer Architektur Revue passieren. Der Parcours führt von der Metropole Tokio in die ländlichen Regionen und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Landschaft auf.

3. November 2000 - Hubertus Adam
Zeitgenössische japanische Architektur wird in Europa zumeist als Kaleidoskop spektakulärer Preziosen rezipiert. Es sind die expressiven Kulturzentren von Itsuko Hasegawa, die gross dimensionierten Verwaltungskomplexe von Hiroshi Hara oder die zwischen einer reduktionistischen Formensprache und traditionellen Allusionen oszillierenden Betonstrukturen von Tadao Ando, welche unser Bild vom heutigen Bauen des asiatischen Inselstaats bestimmen. Aufmerksamkeit finden auch Einzelgänger: Shigeru Ban etwa, der mit seinen Pappröhrenkonstruktionen in diesem Jahr auf auf der Architekturbiennale in Venedig, der Expo in Hannover sowie im Londoner Millennium Dome reüssierte, und Riken Yamamoto, dessen auf neostrukturalistischen Konstruktionsrastern basierende Universitäts-, Schul- und Wohngebäude der informellen Kommunikation Freiräume schaffen. Als Hauptvertreterin einer minimalistischen Tendenz gilt Kazuyo Sejima, seit Beginn des Wintersemesters Gastdozentin an der ETH Zürich und - wie jüngst vermeldet wurde - Trägerin des Erich-Schelling-Architekturpreises der Stadt Karlsruhe.


Künstliche Natur

Wer durch Japan reist, bemerkt, dass das auf eine Reihe von Persönlichkeiten beschränkte Bild so falsch nicht ist: Architektur bedeutet hier zumeist punktuelle Intervention - stadträumliches Denken, Kontextualität, Raumplanung gar sind kaum entwickelt. Moriko Kira und Mariko Terada suchen nun als Gastkuratorinnen mit ihrer Ausstellung «Toward Totalscape. Contemporary Japanese Architecture, Urban Design and Landscape» im Niederländischen Architektur-Institut in Rotterdam (NAI) nach einer Alternative zur konventionellen Präsentation von Einzelbauten. Während üblicherweise Chronologie, Typologie oder Stil das Gliederungsprinzip darstellen, wird hier die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Landschaft zur Leitlinie. Wer seinen Blick nur auf die dicht bebaute Tokyo Area, also die Kanto-Ebene, richtet, übersieht, dass Hügel, Berge und Waldgebiete die Landesnatur in starkem Masse prägen. Traditionell zeichnete der Bezug zum nichtbebauten Umraum Japans Architektur aus; und auch heute noch lässt sich die Landschaft als mehr oder weniger dicht besiedeltes räumliches Kontinuum auffassen, nachgerade als «Grundlage» des Bauens. Dabei bilden Natur und Kultur keine sich abstossenden Pole, sondern fliessen ineinander, mischen sich und ergeben Legierungen unterschiedlicher Intensität.

Vom Zentrum der Schau im NAI aus durchmisst der Besucher in spiralförmiger Bewegung die vier Bereiche «metropolitan», «urban», «rural» und «natürlich», um dann zur «Artificial Landscape» im Obergeschoss zu gelangen. Gliederungselement ist das aufwendige Ausstellungsdesign: Die metropolitane Situation wird repräsentiert durch repetitive Bilder eines Computer-Game-Highways, das rurale Ambiente durch vergrösserte Aquarelle des Filmsetdesigners Yokei Tanado, die in traditionalistischer Manier die Transformation der suburbanen Regionen veranschaulichen. Eine elliptische Box aus Silberfolie schliesslich bildet den Hintergrund für die künstliche Landschaft - vom artifiziellen holländischen Dorf «Huis ten Bosch» bei Nagasaki über Shin Takamatsus Community Center Minatosakai bis hin zu dem nahezu fertiggestellten multifunktionalen Komplex von Tadao Ando auf der Insel Awaji vor Kobe. Die Zuordnung der einzelnen Bauten bleibt allerdings mitunter fragwürdig: Die Planung einer «Island City» im Meer vor Fukuoka und die Indoor-Skipiste an der Tokyo Bay, von den Ausstellungsmacherinnen als urban bzw. metropolitan rubriziert, liessen sich genauso den künstlichen Landschaften zuordnen.


Tokio als Modell

Als eine der Mega-Metropolen der Welt bildet Tokio den Schwerpunkt der Rotterdamer Ausstellung. Fast 33 Millionen Menschen leben in der Metropolitan Area; die durchschnittliche Fahrt zur Arbeit dauert 90 Minuten. Dies weist hin auf ein Spezifikum der japanischen Hauptstadt: ihre vergleichsweise geringe Verdichtung. Von einigen Hochhausquartieren und Geschäftszentren abgesehen, prägen bis heute niedrige, zumeist frei stehende Häuser das Stadtbild. In aller Deutlichkeit zeigt dies ein fünf mal fünf Meter messendes Stadtmodell, das bei näherem Hinsehen deshalb verwundert, weil es nur einen Ausschnitt aus der polyzentralen innerstädtischen Struktur zeigt; der Distrikt Shinjuku mit dem neuen Rathaus von Kenzo Tange, aber auch das Gebiet um die Tokyo Station sind nicht zu finden.

Funktion des Modells ist es aber auch nicht, einen Gesamtüberblick über die Stadt zu bieten, sondern das Projekt «Roppongi Hills» in den Mittelpunkt zu rücken, das bis 2003 realisiert werden soll. Auf 11 Hektaren bauen internationale Architekten (Kohn Peddersen Fox, John Jerde, Terence Conran, Richard Gluckman, Fumihiko Maki) Büros, Wohnungen, ein Medienzentrum, Hotels, Shopping Malls und ein Museum für die Mori-Kunstsammlung im obersten Stockwerk des Hochhauses. Anderenorts würde ein architektonisch derart wenig inspiriertes Vorhaben kaum auf Interesse stossen. In Japan indes, wo übergreifende Stadtplanung von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht existiert, gilt selbst ein Investorenprojekt als massstabsetzend.


Eine Dekade im Überblick

Die im NAI versammelten knapp 100 Projekte, anschaulich mit Hilfe von Zeichnungen, Fotos, Videoclips und Modellen vorgestellt, geben einen guten Überblick über das vergangene Jahrzehnt der japanischen Architektur in seiner ganzen Vielfalt. Mit jeweils mehreren, hierzulande nur teilweise bekannten Projekten sind Ito, Ando, Hasegawa, Yamamoto, Sejima und Shigeru Ban vertreten, der für die Ausstellung einen kleinen Lesepavillon aus Pappröhren errichtet hat. Daneben geraten einige Bauten von Büros ins Blickfeld, die durchaus als Entdeckungen bezeichnet werden dürfen - beispielsweise das Grass House (1995) und das Leek House (1997), mit denen Terunobu Fujimori jenseits jeglichen ökologischen Bauens nach einer Verschmelzung von architektonischer Struktur und begrünter Hülle suchte. Vom Einfamilienhaus spannt sich der Bogen bis hin zu den wenigen städtebaulichen Gesamtkonzepten, etwa der bemerkenswerten «Artpolis» von Kumamoto, die eines der raren Projekte des kommunalen Siedlungsbaus in Japan darstellt.

Dass neben Projekte hoher architektonischer Qualität auch eine Reihe wichtiger Kommerzbauten tritt (von denen die hybride Kombination von Riesenrad und «urban commercial facility for future generations» der Takenaka Corporation in Osaka zumindest urbane Signifikanz beanspruchen kann), zeugt von einem Ansatz, der sich von dem vielfach grassierenden Ästhetizismus kulinarischer Architekturausstellungen erfreulich weit entfernt. Dass allerdings die Tätigkeit ausländischer Architekten, die das japanische Baugeschehen massgeblich mitbestimmen, vollständig ausgeklammert bleibt, deutet auf eine fragwürdige nationale Verengung des Fokus hin. Seit den Zeiten von Frank Lloyd Wright ist Japan auch ein Land der Architekturimporte; man denke nur an die in jüngster Zeit entstandenen Bauten von Mario Botta, David Chipperfield, Nigel Coates, Peter Eisenman, Future Systems, Steven Holl, Rem Koolhaas oder Aldo Rossi.


[Bis 14. 1. 2001; Katalog: Moriko Kira und Mariko Terada: Japan: Towards Totalscape (in englischer oder niederländischer Sprache). NAI Publishers, Rotterdam 2000. 332 S., hfl. 85.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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