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Lyrische Abstraktion
Das Architektenduo Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa in der Basilica Palladiana in Vicenza
Die in Tokio bald selbständig, bald unter dem gemeinsamen Büronamen Sanaa tätigen Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa zählen derzeit zu den international meistbeachteten Baukünstlern Japans. Eine Ausstellung in Vicenza präsentiert nun ihre Bauten und Projekte, denen dank der Reduzierung der Ausdrucksmittel etwas Immaterielles eignet.
In der Basilika von Vicenza, einem Hauptwerk Andrea Palladios, werden seit einigen Jahren wichtige zeitgenössische Architekten mit grossen Ausstellungen geehrt. Doch noch kein Architekturbüro war in der Konzeption seiner Schau so radikal wie die Japanerin Kazuyo Sejima und ihr Partner Ryue Nishizawa. Die beiden beschränken die Ausstellung, die von einem attraktiven Katalogbuch begleitet wird, auf einen eigens im Innern der Basilika geschaffenen, von Kunstlicht erhellten weissen Raum. Dadurch geht die Präsentation auf Distanz zur dominanten Architektur von Palladio. Im atmosphärisch gestalteten Ausstellungsraum wirken die mittels Plänen, Fotos und Modellen vorgestellten Bauten und Projekte wie Kunstwerke. Gleichzeitig wird den Besuchern auf sinnliche Weise die architektonische Essenz der Arbeiten nähergebracht.
Architekturlandschaften
Bevor sich Kazuyo Sejima 1987 in Tokio selbständig machte, war sie im Büro des einflussreichen japanischen Architekten Toyo Ito tätig. Ihr heutiger Partner Nishizawa arbeitete nach seinem Studium 1990 zuerst als Angestellter von Sejima. Gemeinsam gründeten sie dann 1995 das Büro Sanaa, das schnell internationale Beachtung fand. Hier entwerfen die beiden Partner ihre grösseren Projekte. Neben dem gemeinsamen Architekturbüro besitzen Sejima und Nishizawa aber weiterhin auch eigene Studios, wo sie kleinere Projekte bearbeiten. Ihr erstes gemeinsames Bauwerk war das Museum «O» in den Bergen bei Nagano (1996). Das reduzierte, elegant auf Stützen schwebende Gebäude ist aussen vollkommen verglast, wobei die transparente Hülle mit einem abstrakten Muster bedruckt ist, das sich auf die umliegenden Bambuswälder bezieht.
Als bis anhin wichtigstes Bauwerk von Sanaa gilt das unlängst eröffnete Museum für zeitgenössische Kunst in Kanazawa (NZZ 10. 9. 05). Das weitgehend eingeschossige Gebäude wurde auf einer kreisrunden Plattform errichtet und verwebt die öffentlichen Nutzungen - Bibliothek, Vorlesungssaal, Buchshop, Café und Kinderatelier - mit den Ausstellungsräumen. Das nicht ganz einfache Konzept einer Durchmischung von Museumsbetrieb und Öffentlichkeit wurde zusammen mit den Auftraggebern erarbeitet und verfeinert. Entstanden ist ein räumlich komplexer Bau, der zwischen den einzelnen Ausstellungssälen und Höfen städtische Qualitäten aufweist. Dabei tritt die von Sejima und Nishizawa angestrebte Präzision der architektonischen Mittel vor allem in Form von Decken und raumhoch verglasten Öffnungen in Erscheinung.
In der Schweiz arbeitet das Büro Sanaa derzeit an zwei Bauwerken. Auf dem Novartis-Campus in Basel werden sie in diesem Jahr ein schmales, verglastes Bürogebäude mit einem parkartigen Innenhof fertigstellen. Die nur 5,5 Meter breiten Büroräume sind frei unterteilbar und bieten allen Angestellten einen Arbeitsplatz in Fensternähe. Dank den völlig transparenten Glasfassaden kommen die Geschossplatten als strukturierende Elemente des eleganten Baus voll zur Geltung.
Bauen in der Schweiz
Im vergangenen Frühling vermochte sich Sanaa ausserdem im internationalen Wettbewerb für das neue Learning Center der ETH Lausanne durchzusetzen - und zwar gegen Architekten wie balos & Herreros, Zaha Hadid oder Herzog & de Meuron (NZZ 12. 3. 05). Das Projekt von Sanaa sieht neben einer neuen Bibliothek ein Cybercafé, ein Restaurant, ein Forschungs- und Sprachzentrum sowie Multimedia-, Gruppen- und Konferenzräume vor, die einer neuartigen Form des Wissensaustauschs dienen sollen. Das rechteckige, eingeschossige Gebäude steht mit seiner enormen Ausdehnung von 145×195 Metern in diametralem Gegensatz zum strukturalistischen Komplex der sonst eher etwas gesichtslosen Lausanner Hochschulanlage. Der lyrisch geformte Baukörper bewegt sich wie ein leicht gewellter Teppich über den Erdboden und wird durch ovale Innenhöfe belichtet. - Dass sie aber auch mit kompakten Baukörpern umzugehen wissen, zeigen die beiden Entwerfer in der Ausstellung anhand der Projekte für die Erweiterung des Institut Valencià d'Art Modern in Valencia (2002) und für die Designschule Zollverein in Essen (2003). Europa scheint der Ort zu werden, wo sich die neue japanische Kreativität besonders eindrücklich entfalten kann.
[ Bis 29. Januar in der Basilica Palladiana in Vicenza. Katalog: Kazuyo Sejima & Ryue Nishizawa. Sanaa (in italienischer Sprache). Hrsg. Yuko Hasegawa. Electa, Mailand 2005. 267 S., Euro 49.-. ]
„Ich zeichne, weil ich sehen will“
Ausstellungen über Carlo Scarpa in Verona und Vicenza
Das Museo di Castelvecchio in Verona und der Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza zeigen eine Doppelausstellung über das architektonische Schaffen von Carlo Scarpa (1906-78). Während Verona Scarpas Ausstellungs- und Museumsarchitektur thematisiert, werden in Vicenza seine späten Bauten und landschaftlichen Eingriffe vorgestellt.
Er war lange wegen seiner «unmodernen» Haltung umstritten: Carlo Scarpa (1906-78), einer der wichtigsten italienischen Nachkriegsarchitekten. Seine Umbauten, oft für Museen, besassen in den fünfziger und sechziger Jahren internationale Ausstrahlung und sind bis heute Inbegriff eines respektvollen Umgangs mit bestehenden Bauten. Nun widmen Verona und Vicenza dem Meister zwei Ausstellungen, die sich auf die Nachkriegsarchitektur oder besser auf die reifen Werke des Meisters konzentrieren. Das Castelvecchio in Verona, dessen Innenausbau von Scarpa stammt, wird durch die Präsentation der zwischen 1944 und 1976 entstandenen Museumsbauten und Ausstellungsarchitekturen selbst zum Exponat. Demgegenüber konzentriert sich die Schau im Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza auf das architektonische Schaffen der Vicentiner Jahre zwischen 1972 und 1978, dem Todesjahr des Meisters. Scarpa war 1972 in die Stadt Palladios zurückgekehrt, wo er bereits als Kind «unter dem Portikus des Palazzo Chiericati» gespielt hatte.
Architektur als Kunst
Ausgangspunkt für beide Ausstellungen war eine Präsentation des Museo di Castelvecchio (Verona 1956-64) und der Tomba Brion (San Vito d'Altivole 1970-78) im Sommer vor einem Jahr im Canadian Centre of Architecture in Montreal. Diese Schau hatte auf zahlreiche blinde Flecken in der Biographie Scarpas aufmerksam gemacht. Die italienischen Ausstellungen wollen nun nicht ein Gesamtbild des Œuvres geben, sondern zwei zentrale Teilgebiete, die Ausstellungsarchitektur und das Alterswerk, näher untersuchen.
Scarpa studierte an der Accademia di Belle Arti in Venedig Malerei, Skulptur, Architektur und Design. Danach arbeitete er bei seinem Lehrer Guido Cirilli. Nach 1931 machte er sich selbständig und entwarf für private und institutionelle Auftraggeber Innenräume und renovierte die Ca' Foscari (1935-37), den mittelalterlichen Sitz der Universität von Venedig. Ab 1941 richtete er regelmässig Ausstellungen ein, vorab für die Biennale in Venedig. Sein eigentlicher Durchbruch gelang ihm mit der 1954 abgeschlossenen Renovation des vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Palazzo Abatellis in Palermo.
Analog zur holländischen De-Stijl-Bewegung arbeitete Scarpa an einer neoplastischen Dekomposition des Raumes. Doch interessierte ihn nicht die Dekonstruktion der Raumvolumen in imaginäre Flächen. Vielmehr richtete er sein Augenmerk auf jene Verknüpfungspunkte, die den Raum wieder zusammenbinden. Scarpa bestritt nie seine Verbundenheit mit der Wiener Sezession, trennte die bauliche Gestaltung nicht von der visuellen Tradition und betrachtete die Architektur immer als Teil der bildenden Künste. Vor allem Frank Lloyd Wrights Bauten waren für ihn wegweisend, auch wenn er bei deren Besuch in den sechziger Jahren enttäuscht jene konstruktiven Einzelelemente vermisste, die er doch eigentlich für kennzeichnend gehalten hatte.
Durch die Kultivierung des Zeichnens als der bestimmenden Kraft des Entwurfs nutzte Scarpa eine Erkenntnismöglichkeit, die direkt in der handwerklichen Arbeit des Entwerfens wurzelt - oder wie er es ausdrückte: «Ich zeichne, weil ich sehen will.» Diese handwerkliche Vorgehensweise kultivierte er bis hin zum gebauten Objekt. Deshalb funktioniert Scarpas Architektur wie ein «Symbolsystem», wie eine Architektursprache. Scarpa suchte mit Hilfe des Lichtes und der Topographie den architektonischen Raum und die darin sich befindenden Objekte zu inszenieren. Seine Architektur ist fliessend, magisch, pulsierend und besitzt eine Intensität in der Komposition. Somit werden seine Entwürfe schliesslich zu räumlichen Kunstwerken.
Auf dem Gebiet der Museologie hat Scarpa mit der Ausstellung «Da Altichiero a Pisanello» im Castelvecchio 1958 seine Idee eines narrativen Rundganges erstmals in einem Museum verwirklichen können. Für jedes Ausstellungsstück versuchte er einen geeigneten Ausstellungsort zu finden, durch den er das Kunstwerk aus dem musealen, häufig verfälschenden Kontext lösen konnte. Die Beziehungen zu den andern Objekten - oder die bewusste Loslösung von ihnen - führten zu einer Ausstellungsstrategie, welche die Werke in einen Diskurs einbezog. Seine Ausstellungsarchitekturen in Mailand, Venedig, Possagno, Florenz oder Messina unterbreiten in ihrer Ganzheit ein Konzept, das den Fragmentcharakter der Ausstellungsstücke innerhalb eines radikal zeitgenössischen Kontexts unterstreicht. In seinen Einrichtungen für Canova, Klee, Mondrian, Wright oder Erich Mendelsohn ging er direkt auf das Raumkonzept der ausgestellten Künstler ein.
Gebaute Gedichte
Die funktionalen Beziehungen wurden von Scarpa nach eigenen abstrakten Gesetzen behandelt und weniger nach den rationalen Formen einer europäischen Praxis. Er stützte sich dabei auf eine Interpretation der irdischen Welt, die er von orientalischen Riten bei der Wahl des Bauplatzes sowie von der chinesischen und japanischen Tradition herleitete. Die gebauten Ergebnisse lassen sich nicht auf einfache Erklärungen reduzieren und entziehen sich von einem gewissen Punkt an einer rationalen Architekturauffassung. Scarpa experimentierte mit Zahlen und setzte diese in Bezug zum Gebäude, zum Bauherrn und zu sich selbst. Bei der Casa Ottolenghi in Bardolino (1974-79) verbirgt sich hinter bestimmten mathematischen Koordinaten der Hinweis auf die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Auftraggeber. Bei der Tomba Brion setzte Scarpa sein Gebäude in Beziehung zum Firmament und gelangte so zu expressiven Formen. Die Glastür, die symbolisch zwischen dem Reich der Lebenden und jenem der Toten vermittelt, ist an einem Rollensystem aufgehängt, das nach der Konstellation des Sternbilds Vega angeordnet ist.
Beim Entwurf der Aussenraumgestaltungen für die Villa Monselice bei Padua (1971-78) nutzte er Astronomie, Numerologie und Psychologie als ordnende Kräfte. Mit dem Besitzer Aldo Businaro verband ihn eine enge Freundschaft, die so weit ging, dass er beim Umbau freie Hand hatte. Die hier entwickelten Konstruktionen und deren Bedeutungsebenen tauchen in späteren Werken wieder auf. - Die Aktualität von Scarpas Architektur liegt in deren Mehrdeutigkeit. Ein Besuch der Ausstellungen in Verona und Vicenza gibt nicht nur einen gültigen Einblick in Scarpas Schaffen, sie lohnt sich auch wegen der handwerklichen Qualität der ausgestellten Zeichnungen. Um die Komplexität seiner Arbeiten und deren Poesie zu erleben, müssen die Bauten aber in natura besichtigt werden.
[Bis zum 10. Dezember im Museo di Castelvecchio in Verona und im Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza. Katalog: Carlo Scarpa. Mostre e musei 1944-1976. Case e paesaggi 1972-1978. Hrsg. Guido Beltamini und Kurt W. Forster. Electa, Milano 2000. 466 S., Lit. 80 000. - Bis zum 22. Dezember zeigt zudem die Universität von Venedig die Forschungen zur Kirche in Corte di Cadore von Carlo Scarpa und Edoardo Gellner. ]