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Ordnungen niederwalzen. Befreiungen erzwingen.
Der Standard

Eine Fülle neuer Architekturpublikationen nimmt das Gestern, Heute und Morgen auf's Korn. Hier eine Auswahl.

16. Dezember 2000 - Ute Woltron
Wer wird in Zukunft die Umwelt gestalten? Die Architekten? Die Baukonzerne? Die Masse Mensch? In dem Buch Tokyo Superdichte (Ritter Verlag, öS 210,-) zeigt Wolfgang Koelbl ein Zukunftszenario, das bereits existiert. Er seziert fast literarisch die zentrale Bahnstation Shinjuku, einen Ort, den täglich rund 3,4 Millionen Menschen, also halb Österreich, durchhasten. Eine glatte Raumlandschaft sei dort entstanden: „Die Menschenmassen haben einfach alle Barrieren und offensichtlichen Ordnungen niedergewalzt und derart die befreiende Glätte erzwungen.“ Koelbls Abhandlungen über ungeheure Verkehrsdichten, „kommunizierende Netzwerke“ aus Rolltreppen, Rollbändern, Gängen, Autoabstellanlagen bis hin zu drei Quadratmeter kleinen Karaokeboxen zur Zerstreuung der Passagiere kommt fast ohne Fotos aus. Die Texte sind stark genug, um Bilder im Kopf entstehen zu lassen; das könnte ein Teil der Architekturpublikationszukunft sein.

Die Gegenwart ist da noch ein wenig beschaulicher, zumindest was das gute alte Europa anbelangt. Hoch im Kurs stehen hier etwa Jacques Herzog und Pierre de Meuron, und die beiden Schweizer haben nun endlich ihre mehrteilige Monographie durch den Band Herzog & De Meuron. 1992-1996 (Birkhäuser, öS 1287,-) erweitert. Die dokumentierten Jahre waren besonders spannend, entstanden sind etwa die Domus-Vinery in Kalifornien, die Tate Modern und etliches mehr, das in diesem Prachtwälzer von Gerhard Mack eingefangen wurde. Macht Lust auf die ersten beiden Bände.

Die österreichischen Kollegen Ortner & Ortner haben mit einem Wörterbuch der Baukunst (Birkhäuser, öS 926,-) ebenfalls frisch zugeschlagen. Zwischen den großteils sehr netten kleinen Texten zu (in Österreich) architekturrelevanten Begriffen wie „hausbacken“, „Unternehmenskultur“ und „x-beliebig“ kommt zum einen viel Ortner&Ortner-Architektur vor und auch das Wort „Mediator“. Museumsquartiertechnisch und ortnermäßig ist selbiges natürlich gewissermaßen brisant und die zugehörige Abhandlung auch in der Möglichkeitsform gehalten. Doch lesen Sie selbst, es zahlt sich aus.

Die zweite Moderne der niederländischen Architektur, die im vergangenen Jahrzehnt eine Fülle herausragender Gebäude und charismatischer Baugestalten hervorgebracht hat, versucht Bart Lootsma in Superdutch (DVA, öS 709,-) zu erklären: „Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es in den Niederlanden in diesem speziellen Zeitraum mehr Talente gegeben haben sollte als anderswo, aber diese Talente bekamen eben deutlich mehr Chancen als in anderen Ländern.“ Christkind! Erbarme dich unser und bedenke die heimischen Politiker und Bürgermeister mit dieser Fallstudie eines architektonischen Aufschwungs.

Einen tiefen Tauchgang in die Vergangenheit unternimmt hingegen der Band Erich Mendelsohn. Gedankenwelten (Hatje Cantz, öS 347,-). Bisher kannte man auszugsweise die Briefwechsel Mendelsohns; die Texte zur Architektur, geschrieben von 1918 bis 1948, bekommt man hier erstmals zu Gesicht. Sie mäandern durch damalige Kultur, Politik, Tagesgeschehen und zeichnen ein markantes Bild des Mannes und seiner Aura. 1948 blickte er auf sein Architektenleben zurück und bemerkte in einer Ansprache: „Seien Sie sich bewusst, dass es der Architekt ist, der die Geschichte unserer Kunst schreibt.“


[Herzog & de Meurons Caricature and Cartoon Museum in Basel, 1994-96 (li.) und ihr Küppersmühle Museum in Duisburg, 1997-99 (o.)
Fotos: aus dem Buch ]

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