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Aussergewöhnlich phantasievoll
Neue Zürcher Zeitung

Junge flämische Architekten in Antwerpen

1. Dezember 2000 - Marc Zitzmann
Gibt es eine typisch flämische zeitgenössische Architektur? Wenn das Antwerpener Kunstzentrum deSingel in seiner Ausstellung «Homeward» zehn Arbeiten jüngeren Datums vorstellt, welche laut Katalog «ein paar allgemeine Aussagen über die Baukunst in Flandern während der letzten zehn Jahre» vermitteln, so soll gezeigt werden, dass das Spezifische im Schaffen der oft als Vertreter einer «stillen Generation» bezeichneten flämischen Nachwuchsarchitekten nichts mit einem landestypischen Genius zu tun hat, sondern vielmehr mit dem liebe- und phantasievollen Umgang mit den jeweiligen urbanistischen, topographischen oder architektonischen Vorgaben.


Überzeugende Inszenierung

Die didaktisch und inszenatorisch überzeugende Ausstellung selbst ist hierfür ein gutes Beispiel: Sie passt sich dem extrem langen Raum, in dem sie untergebracht ist, bestens an. An einer Längswand reihen sich Tische mit Plänen, Modellen und (Luft-)Aufnahmen der Projekte. Auf zehn Fernsehbildschirmen wird jedes Bauwerk so gezeigt, wie seine Benutzer es im Alltag erleben: Die Anfahrt mit dem Auto vermittelt einen Eindruck von der Umgebung, dann bekommt man das Gebäude von aussen und innen zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Glaswand illustrieren Statistiken und Diagramme die soziokulturellen Charakteristika des Bauens und Wohnens in Flandern, von der Bevölkerungsdichte bis zur Einkommensverteilung.

Drei Werke seien hier herausgegriffen. In dem ostflämischen Städtchen Sinaai hat Erik Van Belleghem ein Funerarium entworfen. Während das Bestattungsunternehmen in einem kleinen Haus untergebracht ist, das mit seinem Ziegeldach und den gelben Backsteinmauern die ländliche Normalität verkörpert, mutet die anliegende Garage, von wo aus die Leichenzüge starten und an die sich die Leichenhalle anschliesst, wie eine fremde, surrealistisch-schwarze Box an. Der Tod ist hier in den Alltag eingebunden, sticht zugleich jedoch heraus als etwas, das letztlich unbegreiflich ist. Ähnlich überraschend wirkt die von Paul Robbrecht und Hilde Daem konzipierte Galerie mit Penthouse auf dem Dach eines banalen Wohngebäudes in Brüssel. Der grosse Glaskasten hat für seine Bewohner die Funktion einer Lanterne magique: Indem er immer wieder neue, stets ausschnitthafte Ausblicke auf die Stadtlandschaft bietet, verfremdet er deren Hässlichkeit. Ein grosser, auf der Terrasse nahezu vertikal aufgestellter leerer Metallrahmen expliziert das (künstlerische) Konzept.

Ganz anders das von Xaveer De Geyter in dem Antwerpener Nobelviertel Brasschaat erbaute Einzelhaus. Hier geht es um das Wohnen in einer feinen suburbanen Umgebung. Zwei Attribute charakterisieren den Entwurf. Einerseits ist da die zentrale Position des Autos. Fahrzeuge werden über eine leicht ansteigende Kurve zu einer Plattform mit einer Garage aus Milchglas geführt, die nachts von innen her beleuchtet ist. Anderseits verkörpert das Gebäude den Wunsch seiner Auftraggeber nach Diskretion. Betreten wird das Haus von der Plattform her entweder über eine Treppe in der Garage oder über eine absteigende Rampe. Dass es dann keineswegs bunkerhaft-klaustrophobisch wirkt, sondern dank drei Innenhöfen und der nach hinten auf eine tiefer gelegene Terrasse hinausführenden Glasfront sogar licht und durchsichtig, ist die Überraschung dieses unprätentiösen Gebäudes, das seinen Bewohnern gleichsam auf den Leib geschneidert ist.


Erweiterungsprojekt

Das Kulturzentrum deSingel veranstaltet seit 1985 durchschnittlich vier Architekturausstellungen im Jahr. Katrien Vandermarliere, die seit 1991 für das Programm zuständig ist, verfügt über ein bescheidenes Jahresbudget (zwischen zwei und drei Millionen belgische Francs), aber über viel Freiheit. Ausstellungsschwerpunkte sind neben internationalen Projekten junge flämische Architekten sowie die Baukultur der Nachkriegszeit. Ein besonderes Anliegen ist es, die niederländischsprachige Forschung und Kritik zu stimulieren, u. a. durch sorgfältig edierte, textreiche Kataloge. Nächstes Jahr soll in den 1968-87 nach Plänen von Léon Stynen erbauten Gebäudekomplex, in dem auch ein Radiosender und das Königliche Flämische Konservatorium untergebracht sind, das Vlaams Architectuurinstituut einziehen. Form und Inhalt dieser neuen Institution sind noch nicht spruchreif. Dafür gilt als fast sicher, dass der gesamte Komplex bis etwa 2005 für rund eine Milliarde belgische Francs umgebaut werden soll. Der Entwurf des Architekten Stéphane Beel sieht neben Logen und Umkleideräumen für die Konzert- und Theatersäle auch einen Neubau vor, in dem die Architekturausstellungen dann endlich eigene Räumlichkeiten haben werden.


[Bis zum 17. Dezember (www.desingel.be). Katalog (niederländisch, italienisch oder englisch) bFr. 850.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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