Artikel

Vom Moloch zur Charakterstadt
Neue Zürcher Zeitung

Ägyptische Städtebauer greifen auf alte Pläne zurück

Das geschichtsträchtige Alexandrien zählt zu jenen Metropolen, die sich durch Bevölkerungsexplosion und Vernachlässigung in seelenlose Megastädte verwandelt haben. Nun soll die ägyptische Hafenstadt wieder zur «Perle des Mittelmeeres» werden.

10. Januar 2001 - Kristina Bergmann
Knirschend und kreischend fährt der Zug im alten Kopfbahnhof ein. «Iskindiriya! Iskindiriya!», rufen die Schaffner aufgeregt und wecken diejenigen, die der Zug auf der Fahrt von Kairo nach Alexandrien sanft in den Schlaf gewiegt hat. In der altmodischen Bahnhofshalle herrscht wie immer hastiges Treiben; dennoch scheint sich etwas verändert zu haben. Draussen wird der Wandel deutlich: Die Ziegelmauern mit ihren weiss abgesetzten Bögen sind von ihrer fast neunzigjährigen Schmutzschicht befreit und renoviert worden! Ihr eigenwilliger Stil - halb neoklassizistisch, halb osmanisch - war wie die übrigen Bauformen aus der Verquickung der verschiedenen Nationalitäten entstanden, die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Alexandrien niedergelassen hatten. Zu Zehntausenden waren damals Griechen, Türken, Italiener und Franzosen dem Ruf des Statthalters des Osmanischen Reiches, Mohammed Ali, gefolgt. Mit ihrem Wissen und ihrer Tatkraft wollte dieser aus dem mittelalterlichen Ägypten einen modernen Staat schaffen.


Bröckelnde Fassaden

Mit der Unabhängigkeit 1952 kamen andere Ideale auf, und bald galt das europäisch-arabische Stilgemisch nicht mehr als erhaltenswert. Der bald völlig heruntergekommene Bahnhof wäre abgerissen worden, hätten nicht die arabisch-israelischen Kriege von 1967 und 1973 den radikalen Städteplanern Einhalt geboten. Um den vorerst geretteten Bahnhof gingen Vernachlässigung und Schlendrian aber weiter. Besonders schlimm erging es dem als grünem Blickfang vor dem Bahnhof angelegten ovalen Märtyrerplatz, der nun zum Treffpunkt von fliegenden Verkäufern und Dealern wurde. Als Sträucher, Rosen und Rasen gänzlich niedergetrampelt waren, verwandelte man ihn mit einer dicken Lage Asphalt in einen lärmenden Busbahnhof. Auch der T-förmige Manshiya-Park im Stadtzentrum, einst das «Juwel der Städteplanung des 19. Jahrhunderts», wurde asphaltiert; quer hindurch zog man Tramlinien.

Anfang der neunziger Jahre waren die Alexandriner der Verzweiflung nahe. Vierzehn Gouverneure hatten sie seit der Erlangung der Souveränität über sich ergehen lassen und dabei erleben müssen, wie aus einer der schönsten Mittelmeerstädte ein hässlicher Moloch wurde. Nicht nur die Grünanlagen waren verschwunden; die ganze Stadt, deren Bevölkerung sich von einer auf fünf Millionen vermehrte, war eng und schmutzig geworden. Fassaden bröckelten - sowohl in den einfacheren Wohnvierteln im Süden als auch am einstigen städtebaulichen Prunkstück der Hafenstadt: der Corniche. Abfall- und Abwasserprobleme machten den Alltag zur Hölle. «Nach der Revolution von 1952 war Alexandrien schnell und gründlich vergessen worden», meint der Architekt Mohammed Auwad. Die Ausländer flohen vor dem aufkommenden Sozialismus zurück in ihre Heimat. Auch die ägyptische Elite verliess in Scharen das Land, und die neuen Machthaber zogen nach Kairo. In der Hafenstadt blieben die Alten, die Nostalgiker und die Armen.


Plätze für Menschen

Vor vier Jahren blies plötzlich ein frischer Wind durch die mit Schlaglöchern und Abfall übersäten Strassen und Gassen. Ein neuer Gouverneur war eingezogen. Ein General wie alle Provinzialpräsidenten in Ägypten, doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern liess er seinen Versprechungen vom ersten Tag an Taten folgen. «Er weiss die Leute zu begeistern», schwärmt der Ingenieur Hisham Seoudy. Als Seoudy eingeladen wurde, sich an der Neuplanung Alexandriens zu beteiligen, beschloss er, als Erstes den Menschen die verlorenen Plätze und Parks zurückzugeben. Bei der Wiedereinweihung des Märtyrerplatzes habe er beobachtet, wie die Leute reagierten, erzählt der Ingenieur. Ältere fühlten sich mit Tränen in den Augen an ihre Jugendzeit erinnert; Jüngere hätten gestaunt, dass sie den kleinen Park betreten, sich auf die Bänke setzen, ja sogar die Kinder im Gras spielen lassen dürfen. Was in Europa selbstverständlich ist, bleibt in Ägypten die Ausnahme.

Von den Alexandrinern wird Gouverneur Mahgub gerne «Mahbub» genannt, was so viel wie Liebling bedeutet. Dem beliebten Gouverneur gelang es, für sein Projekt, das alte, das schöne und das menschliche Alexandrien wiederauferstehen zu lassen, auch die Geschäftswelt der Hafenstadt zu gewinnen. Nur das «Skelett» des Urbanisierungsplans werde von der Stadt selbst finanziert, das «Fleisch an den Knochen» hingegen bleibe der Privatinitiative überlassen, erläutert der Vertreter des Gouverneurs, Ahmed Khalaf. So habe die Stadt zwei grosse Hochstrassen und eine Stadtautobahn gebaut, die die Innenstadt vom chronischen Verkehrschaos befreiten. Im Zentrum kämen nun moderne Lösungen wie unterirdische Parkings zum Zuge; weiter sei eine S-Bahn als Ersatz für das veraltete Tram geplant.

Eins der wichtigsten und ehrgeizigsten städtebaulichen, vor allem aber auch architektonischen Projekte ist die vom norwegischen Büro Snøhetta entworfene Bibliotheca Alexandrina, die mit ihrem ebenso eleganten wie extravaganten Rundbau schon jetzt für Aufsehen sorgt und bald schon mit ihrem intensiven Forschungsbetrieb an die glorreichen ptolemäischen Zeiten anschliessen soll. - Um das sogenannte urbanistische Verschönerungsprogramm, meint Khalaf, kümmerten sich hingegen grössere und kleinere Unternehmen. Die Pläne für die Begrünung von Plätzen und Strassen, die Errichtung von Statuen und Springbrunnen und die Verzierung von Mauern mit Mosaiken müssten sie bei einem Sonderkomitee der Stadtverwaltung einreichen. Nach Fertigstellung dürften die Firmen mit einer diskreten Reklametafel darauf hinweisen, dass der Wandel ihnen zu verdanken sei.


Eine Fülle von Stilen

Bei einer Droschkenfahrt entlang der geschwungenen Corniche wird die Zusammenarbeit von Stadt und Bürgern sichtbar. Die stark befahrene Meeresstrasse wurde auf einer Länge von knapp neun Kilometern auf vier Fahrbahnen verbreitert. Gleichzeitig bekamen die Fussgänger, die hier an den heissen Sommerabenden zu Zehntausenden die frische Meeresbrise suchen, fünf Meter breite Bürgersteige mit Schattendächern, Palmen und hübschen Sandsteinbänken. Sämtliche Gebäude sind crèmeweiss gestrichen worden. Im gemütlichen Trott bestätigt sich nun die Ansicht eines langjährigen Kenners der Stadt, des seit 45 Jahren im Land lebenden deutschen Journalisten Volkhard Windfuhr, dass Alexandrien eine der architektonisch reichsten Städte der Welt ist. Das Verschönerungsprogramm freilich bezeichnet er als «Kitsch». Klüger und zukunftsweisender wäre es gewesen, die Corniche zur autofreien Zone zu machen, findet er. Mohammed Auwad wiederum bezeichnet das Programm als reines «Facelifting». Es sei ein guter Anfang, doch nun gelte es, die 1700 Gebäude, die er und der «Alexandria Preservation Trust» als erhaltenswert deklariert hätten, von Grund auf zu renovieren.

Diese wurden fast ausnahmslos von italienischen Architekten entworfen, die bis weit in die vierziger Jahre das Alexandriner Baugewerbe monopolisierten. Sie beherrschten nicht nur sämtliche damals in Süd- und Mitteleuropa modernen Baurichtungen, sondern auch den türkischen, den andalusischen und den arabischen Stil. Die Architekten Rossi, Gorra, Gripari und andere jonglierten damit unbekümmert und genussvoll, wovon bis heute die eklektisch-phantasievollen Fassaden zeugen. An manchen Hauseingängen geben sich Neobarock und Neugotik ein Stelldichein, an Balkonen vereint sich der neovenezianische Stil mit mauresken Elementen. Den etwas pompösen italienischen Neoklassizismus wussten die damaligen Architekten mit franko-osmanischen Rosetten aufzulockern, während sie den grossen Moscheen einen Hauch von Hochgotik verliehen. Immer, so meint Windfuhr, stellten die Mischgebilde etwas Eigenes und Einzigartiges dar, was man bedenkenlos als Alexandriner Stil bezeichnen könne - auch wenn er in keinem Architekturfachbuch verzeichnet sei.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: