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Ein Modell für die Komplexität der Welt
Neue Zürcher Zeitung

Daniel Libeskind und die Fragwürdigkeit der Architektur

2. Februar 2001 - Michael Marek
Vielen gilt Daniel Libeskind als renommiertester Vertreter des Dekonstruktivismus. Gleichwohl hat er bisher erst das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück und das Jüdische Museum Berlin verwirklichen können. Zurzeit arbeitet er an Grossprojekten wie dem Erweiterungsbau des Victoria & Albert Museum in London, der JVC-Universität in Guadalajara, Mexiko, und dem Imperial War Museum in Manchester. Nun hat er für das Freizeit- und Einkaufszentrum «Nexus» in Bern Brünnen den Zuschlag bekommen. Mit Libeskind in Berlin sprachen Michael Marek und Matthias Schmitz.

Erinnern Sie sich noch an Ihre Kindheit?

Natürlich, bis zu meinem elften Lebensjahr lebte ich in Lodz. Dort ging ich zur Schule. Ich spreche noch immer Polnisch, lese und schreibe polnisch. Polen stand in der Nachkriegszeit unter kommunistischer Herrschaft. Meine Eltern waren Juden, ich war Jude. Es gab einen starken Antisemitismus in Polen. Wir gehörten nicht zur Kommunistischen Partei oder zu ihren Sympathisanten. So wurden wir zur Zielscheibe. Ja, es war eine interessante Kindheit.

Ihre Familie wanderte dann nach Israel aus.

Ende der fünfziger Jahre stimmte die polnische Regierung erstmals zu, dass Juden Polen verlassen durften. Ich war mir von Kindheit an bewusst, was es heisst, in einem politischen Zusammenhang zu stehen. Als Juden in Polen wurde uns nicht gerade Wohlwollen entgegengebracht. Wie überlebt man mit einer jüdischen Identität unter solchen Bedingungen? Als Kind hatte ich keine Familie. Meine Tanten, Onkel und Cousinen wurden während des Holocausts ermordet. Nur wir waren übrig geblieben. Wir kamen uns einsam vor, und das traf ja auch zu. Natürlich gab es noch andere Juden in Polen. Die jüdische Gemeinde zählte einst drei Millionen Menschen, nach dem Krieg waren es aber nur noch einige tausend. Das war eine gewaltige historische Veränderung.


Shoah und Architektur

Haben diese Erfahrungen Sie beeinflusst?

Ich denke, dass die Shoah nicht nur für mich persönlich auf Grund meiner Familiengeschichte sehr wichtig ist. Dass ich jetzt vor Ihnen sitze, habe ich in gewisser Weise nur einem Zufall zu verdanken. Der Holocaust beeinflusst jeden Menschen, denn nach Auschwitz ist eigentlich jeder ein Überlebender, egal, was ihm widerfuhr oder wer er ist. Was das genau bedeutet, das wird für Europa, für die Gesellschaft insgesamt zur zentralen Frage. Deshalb ist der Holocaust keineswegs etwas, das tragischerweise einmal passiert und nun vorbei ist, sondern eher ein Horizont, der einen anderen Blick auf die Welt eröffnet.

Wie haben Ihre Verwandten darauf reagiert, als Sie nach Berlin umzogen?

Als ich mit dem Museumsprojekt in Berlin begann, haben mich viele meiner Verwandten verleugnet. Sie konnten nicht verstehen, dass meine Frau und ich mit den Kindern nach Deutschland zogen, um hier zu leben und zu arbeiten. Die haben uns für verrückt gehalten.

In Ihrem Buch über das Jüdische Museum Berlin gibt es eine Widmung für Ihren Vater.

Heute ist mir klar, dass mein damals über achtzigjähriger Vater als Überlebender des Holocausts meine Entscheidung, nach Berlin zu gehen, nicht verstehen konnte. Als er aber nach Deutschland kam, sah er, dass sich etwas zum Positiven gewendet hat.


Disneyland oder Geniestreich?

Denken Sie bei Ihren Entwürfen auch an die späteren Nutzer?

Als Architekt muss man daran interessiert sein, wie Gebäude auf Menschen wirken und wie diese damit umgehen. Bezogen auf das Jüdische Museum habe ich nie an ein bestimmtes Verhalten gedacht, also wie die Leute auf etwas reagieren könnten. Es ist ein Werk, bei dem man nicht nur an die konkreten Nutzer denkt, sondern gerade auch an jene, die nicht in einem physischen Sinne, sondern in einer Art potenzieller Anwesenheit mit da sind, das heisst all die jüdischen und nichtjüdischen Bewohner Berlins, die Anteil am Kulturerbe der Stadt haben.

Wie stehen Sie zum Vorwurf der Zweckfeindlichkeit des Jüdischen Museums im Besonderen und Ihrer Bauten allgemein?

Ich denke, man muss anerkennen, dass Hunderttausende von Menschen das Gebäude besucht haben, obwohl es leer ist. Das heisst, sie haben eine Verwendung dafür gefunden - auch ohne Ausstellungsstücke, ohne Museumsführer. Sie haben es mit Sinn erfüllt, weil es nicht nur von einer geistigen Beziehung abhängt, dass man es für sich nutzen kann, sondern auch von Gefühlen, von Hoffnungen. Ich würde deshalb bestreiten, dass diese Architektur weniger nützlich ist als einige dieser geistlosen Bauten am Potsdamer Platz. Vielleicht ist sie sogar nützlicher.

Bietet das Jüdische Museum mehr als nur ästhetisierende Betroffenheitsarchitektur oder eine didaktische Manipulation der Sinne?

Wenn man sich der Architektur bewusst wird, dann geht es um etwas anderes als um Manipulation oder Erziehung. Ich glaube, es ist gut, dass man zu fragen beginnt, dass Menschen sich über die Beziehung von Architektur und Raum wundern und sich kritisch ihrer eigenen Sichtweise innerhalb des Gebäudes stellen müssen. Das ist genau jener Funke, der zu etwas ganz anderem führt als zu jener Trägheit, mit der man Gebäude wie Konsumartikel in der Art von Autos oder anderen Industrieprodukten ansieht.

In Ihren theoretischen Arbeiten monieren Sie einen Mangel an «mythischer Erfahrung» in der zeitgenössischen Architektur. Gibt es in Ihrer Architektur einen geistigen Bezug, oder ist das nur eine sprachliche Projektion?

Man sollte Rationalität nicht mit Vernunft verwechseln, denn diese muss von instrumenteller Rationalität unterschieden werden. Natürlich gibt es einen geistigen Aspekt in der Architektur - in jeder Architektur, auch dann, wenn sie ohne Ausdruck ist und nichts als geformte Banalität darstellt. Dort ist es unglücklicherweise eher ein zerstörerischer, negativer Geist. Wenn man aber Architektur als Teil der menschlichen Beziehungen zur Welt betrachtet, dann gibt es diesen geistigen Aspekt wie in der Literatur oder der Musik.

Welche Bedeutung hat dann für Sie der technische Aspekt in der Architektur?

Architektur hat immer etwas Technologisches an sich: von der Art, wie man die Fundamente gräbt, bis hin zur Konstruktion eines Gebäudes. Die meisten Architekten sind geradezu besessen von der Technik. Für sie ist der Grund zu bauen letztlich ein technischer. Dagegen ist in meiner Architektur Technik nicht der Endpunkt, sondern ein Mittel, um einen Raum, eine Atmosphäre, einen Ort zu schaffen - also nicht etwas Abstraktes, sondern etwas sehr Konkretes.


Kriegsmuseum und Monumentalität

Die Grösse Ihrer Bauten erscheint uns problematisch. Das Imperial War Museum in Manchester etwa wirkt im Modell fast übermächtig und beherrscht mit seiner Geste geradezu die Umgebung.

Sicher ist es ein grosses Museum, aber es ist nicht grösser als die Fabriken und Lagerhäuser der Umgebung. Es ist nicht grösser als das nahe liegende Fussballstadion oder das Shopping-Center. Es ist Teil der neuen urbanen Orientierung.

Aber steht die Grösse des Gebäudes in einem angemessenen Verhältnis zu den Besuchern?

Es handelt sich hier um ein öffentliches Gebäude, ein Museum, das für die Bedürfnisse eines sehr grossen Publikums geschaffen wird. Natürlich ist es beeindruckend, aber ich denke, es wird räumlich gleichwohl eine sehr intime Beziehung zu ihm geben, weil das bis zu 22 Meter hohe Dach so gekrümmt sein wird, dass es seitlich fast den Boden berührt. Das macht einen Teil der Freude und des Interesses an der Architektur aus: wie sie auf Menschen bezogen ist, wie sich diese Beziehung bei grossen Gebäuden herstellt. Das hängt aber nicht von der Grösse allein ab, sondern vom architektonischen Ganzen. Man sollte sich deshalb nicht zur Annahme verführen lassen, dass grosse Gebäude schlecht sein müssen.


Nostalgie am Potsdamer Platz

Welche Bedeutung hat für Sie die Trennung von öffentlichen und privaten Räumen?

In Zukunft wird diese Unterscheidung keine Bedeutung mehr haben. Deshalb muss man erneut über Bauwerke nachdenken und diese banalen Trennungen aufheben. Denn wir leben im Horizont der ganzen Welt.

Sie haben in Ihrer Kritik am Potsdamer Platz gesagt, man könne Geschichte nicht simulieren. Stattdessen solle man sich der Geschichte erinnern und sich ihrer Dynamik bewusst sein. Was heisst das für die Architektur?

Man sollte der Öffentlichkeit nicht vortäuschen, man könne einen beliebigen Abschnitt der Geschichte herausgreifen und nur auf ihn hin eine Stadt ausrichten. Diese Vorstellung von einem selektiven Gedächtnis hat niemals funktioniert - bei keinem Entwurf, Masterplan oder irgendeiner Stadtidee. Wir müssen stattdessen die Architektur wieder auf die Ökonomie abstimmen, auf die Gesellschaft und die Kultur. Wir sollten aber nicht allzu nostalgisch auf den Pfaden einer illusionären Vergangenheit wandeln, sondern die Probleme so nehmen, wie sie sich stellen, und in einer Weise behandeln, die weiter reicht, interessant ist und von einer menschlichen Haltung zeugt, aber nicht diese gesichtslose Architektur produziert.

Wie erklären Sie sich in diesem Zusammenhang Ihren Erfolg bei Investoren oder Grossunternehmen wie - im Fall des für Bern Brünnen geplanten Einkaufszentrums - der Migros?

Ich bewerte meine Erfolge nicht nach den Kriterien eines Investors und auch nicht nach der Anzahl von Anrufen in meinem Büro. Erfolg heisst für mich, etwas einem grösseren Zusammenhang hinzufügen zu können. Es geht hier also nicht nur um einzelne Gebäude, die eine bestimmte Form haben. Eigentlich ist dies nur ein Mittel für das Ziel eines guten, interessanten und gedankenreichen Lebens. Und ich bin froh, dass ich das kann. Masse interessiert mich nicht.

Lange waren Sie in der universitären Lehre tätig. Jetzt arbeiten Sie als Architekt mit eigenem Büro. Was hat Sie zu diesem Wechsel bewogen?

Ich sehe dies nicht als einen Wechsel an. Nur weil man seine Adresse ändert, heisst das noch lange nicht, seine Tätigkeit zu ändern. Die Lehrtätigkeit, die Welt des Diskurses ist nicht wirklich von der der Arbeitswelt verschieden. Natürlich, von aussen sieht das vollkommen anders aus. Die heutige Trennung zwischen Diskurs, Philosophie, Ökonomie usw. ist falsch. Die Bereiche sind nicht klar getrennt, ihre Grenzen eher verworren, unscharf. In Zukunft werden wir sehen, dass es sich dabei um künstliche Kategorien handelt, ohne Bezug zum Leben, das wir führen.

Hatte Ihr Erfolg Auswirkungen auf Ihre konkrete Arbeit und Ihr Konzept von Architektur?

Man muss jeden Tag aufs Neue voller Zweifel und kritisch gegenüber dem sein, was man tut. Und ich bin sehr kritisch. Man muss die Gefahren sehen, die in der Anerkennung durch Kommissionen oder in öffentlichen Auszeichnungen liegen. Deshalb muss ich heute darüber anders nachdenken und zudem sehr viel Zeit mit Politikern, Stadtregierungen oder Vertretern der Kommunen verbringen, mehr als ich jemals für möglich gehalten habe. Das ist sicher etwas, was ich mir anfangs unter Architektur nicht so vorgestellt habe. Doch mittlerweile verstehe ich dies als kritischen Bestandteil meiner Arbeit. Seit dem Beginn der Moderne wurde Architektur nur als ein Ergebnis von Abstraktion gesehen, der menschliche Zusammenhang dagegen vernachlässigt.


Die Demokratie des Raums

Stimmt es, dass Ihrer Meinung nach Architektur im Gegensatz zu anderen Künsten starke moralische Implikationen hat?

Man muss immer an die anderen denken, stets die Tür öffnen und schauen, ob sich nicht dahinter jemand aufhält. Architektur ist eben nicht exakt. Sie ist kein Luxus, sondern notwendig, und das macht sie zu einem so schönen Arbeitsfeld. Es ist beinahe unmöglich, sie aus ihrem Kontext herauszunehmen oder zu delokalisieren, weil sie letztlich immer an einen bestimmten Ort gebunden bleibt und ihre Grenzen hat. Egal, wie frei Architektur auch erscheint, sie ist begrenzt. Deshalb ist Architektur ein gutes Modell für die Komplexität und Menschlichkeit der Welt jenseits aller Philosophien, radikalen Ansätze und aller Ideen von totaler Kontrolle.

Für Ihren Erweiterungsbau des Victoria & Albert Museum in London wählten Sie die Form einer Spirale und stellten diese in Beziehung zu den veränderten Bedingungen der Architektur im demokratischen Staat. Könnten Sie das erläutern?

Es ist keine klassische Spirale, die sich auf einen sicheren Blickpunkt ausrichtet oder zu einem Zentrum hinstrebt, sondern eine, die nach möglichen Koordinaten in einem unendlichen, möglichen demokratischen Raum sucht. In einer Demokratie kann man nicht einfach eine Alternative produzieren, weil es stets andere Möglichkeiten geben wird. Nach meiner Einschätzung ist diese Offenheit und Spannung von Alternativen Teil eines neuen räumlichen Ganzen. Dieses ist nicht länger auf einen einzelnen Blickpunkt oder eine einzige Perspektive hin ausgerichtet, nicht mehr bezogen gewissermassen auf die Macht einer Flugbahn, die bei Alpha beginnt und bei Omega endet. Es handelt sich stattdessen um ein Feld von Möglichkeiten. Was ich herausstellen möchte, ist die Fragwürdigkeit der Architektur. Sie steht nicht ausser Frage, sondern alles an ihr ist «fragwürdig». Und ich denke, dass Bauwerke diese Ansicht befördern müssen, anstatt die Leute zu betäuben, indem man sie glauben macht, in einer stabilen Welt zu leben, in der sich nichts ändert und alles in Ordnung ist. Wir leben in keiner stabilen Welt, sie ist es nie gewesen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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