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Sasag goes City
Der Standard

London hat das „falsche Ufer“ entdeckt. Auf der rechten Seite der Themse, rund um die Tate Modern, wurde aus einem heruntergekommenen Viertel ein neues Vorzeigequartier

9. Februar 2001 - Robert Haidinger
ansässige Designer Ross Lovegrove. Wer heute durch London reist, gibt dem gebürtigen Waliser wohl früher oder später recht. Gleichmäßig verteilen sich nämlich die jüngsten Transformationen der größten europäischen Stadt; nicht zuletzt auch dank der zahlreichen Architekten von Weltrang, die ihre (Wahl-)Heimat zunächst rund um die Docklands gewaltig verändert haben. Wie Kühlanlagen ragen die atemberaubenden Glas-Stahl-Bauten der post-postmodernen Hightech-Architektur nun am Themseufer auf, und Ähnliches gilt für den Abstecher zum benachbarten und kaum weniger spacigen Millennium Dome. Furios verbindet auch Nicholas Grimshaws gläserner Schlauch des Waterloo-Terminals Star-Trek-Ambiente und Good Old England.

Der jüngste Anschlag aufs altehrwürdige Themseufer wurde nur wenige Meter von der St. Paul's Cathedral gestartet. „London swingt wieder“, ätzten die Zeitungen, als die hier beginnende Millennium Bridge nur drei Tage nach ihrer Eröffnung Ende Mai des Vorjahres wegen zu starken Schwingens wieder geschlossen wurde.

Besser als der Brücken-Architekt Sir Norman Foster kamen da schon die Schweizer Kollegen Herzog & de Meuron weg, die am anderen, südlichen Brückenende den subtilen Umbau eines stillgelegten Kraftwerks ins umjubelte zeitgenössische Kunst-Museum Tate Modern bewerkstelligten. Die Eröffnung dieses neuesten Titelbild-Stars der Nation bescherte dem ganzen Viertel und den umliegenden „Right Bank“-Bezirken - Southwark, Bankside und Borrough - einen ungeahnten Aufschwung.

Der im Art-déco-Stil gehaltene Oxo Tower, einst Teil einer Fabrik für Fleischextrakte, beherbergt heute Shops und Designwerkstätten, in alte Tonnengewölbe zogen trendige Vinotheken oder gestylte Restaurants wie das „Fish!“ ein, und sogar der, dank Gusseisen-Kolonnaden und rotzigen Lamb-Chops-Verkäufern sehr an Dickens erinnernde Borrough Market lockt heute mehr oder weniger professionelle Trendscouts aus aller Welt an.

Am schönsten ist der Blick auf dieses „andere Ufer“, auf dem auch das größte Riesenrad der Welt - nämlich das London Eye, schräg vis-à-vis von Westminster - steht, von der Terrasse des 12.500 Quadratmeter großen Super-Museums aus. Im Rücken der nach Frischluft schnappenden Museumsbesucher grölt Videokunst von Bruce Nauman, vorne breitet sich das Panorama mit der violett-grün illuminierten Millennium Bridge aus. Ideal als Skateboardrampe sind die Betonkegel an den beiden Enden der Brücke, ideal auch als Rastplatz für Stadtmüde. Nur: Stehen zu bleiben gestattet sich hier niemand, und schon gar nicht die seit kurzem rudelweise auftretenden Jogger mit ihren teuren Pulsmessern: The City must go on!

Dieser Devise ist die Hype City London, die sich seit geraumer Zeit als „kreativer Workshop der Welt“ feiern lässt (Zitat: Tony Blair), freilich schon lange treu. Entdeckt und vermarktet wurde der raue Reiz der Suburbs schon im Laufe der 90er-Jahre. Erfolgreiche Einzelgänger wie der Design-Papst Ron Arad, der schon vor vielen Jahren ins proletarische Vorstadt-Exil ging, zählten zu jenen Pionieren, die zunächst vor allem die backsteinerne Welt des Londoner Eastend zum „very wallpaper“, zum trendigen Pflaster, werden ließen. Avantgardistische Schweineblut-Eis-Skulpturen, die moderne Bildhauer vor Monaten an Hackneys Brick Lane zeigten, oder die fashionable Präsentation von PVC-Hemden mit lebender Wurmbefüllung schienen sich hier besonders gut zu machen. In unfeinen Gegenden wie Hackney oder Horton Square schossen die ausgeflippten Galerien und schicken Lofts aus dem Lagerhallenboden und machen nun dem traditionellen, superfeinen Dreieck zwischen Knightsbridge, Chelsea und Belgravia unerwartet Lifestyle-Konkurrenz. Am spannendsten ist dabei aber wohl die Geschwindigkeit, mit der sich das ewige Zuerst-die-Bohème-dann-der-Kommerz-Ringelspiel dreht. Southwark, das der echte Southwarker wie „Sasag“ prononciert, ist da keine Ausnahme.


Wer sich noch vor kurzem beim Themse-Spaziergang hierher verirrte, ballte wohl instinktiv

das Touristenhändchen in der Regenmanteltasche. Besonders einladend wirkte die zwar relativ zentral, aber eben am „falschen“ Ufer gelegene Gegend nämlich nicht. Ein abgefuckter Gemüsegroßmarkt, lange Zeit geschlossene Docks und in den lokalen Pubs vorwiegend Typen wie Charly Kappl - so sah die alte Hafengegend von Southwark noch vor wenigen Jahren aus. Arbeitercafés wie das „Bourrough Café“, in dem eine Riesenportion Bacon & Eggs noch immer gerade drei Pfund kostet, wurden damals höchstens von den Location-Managern des britischen Independent Cinemas entdeckt, und zwar als echte, gute Prolo-Kulisse.

Plötzlich ist alles anders. Das kann man nicht nur an der 330 Meter langen und nur vier Meter breiten Millennium Bridge erkennen, die von der altehrwürdigen St. Paul's Cathedral direkt ins Herz von Southwark, zur Modern Tate, hinüberführt, sondern auch am überall augenscheinlichen Restaurationsboom, der die drei angrenzenden Bezirke Southwark, Borrough und Bankside erfasst hat - und den charakteristischen, muffigen Viadukten des Viertels nun auch den Duft von frisch geröstetem Yuppie-Espresso beschert.

„Mushrooming“ nennen die alteingesessenen Southwarker diese Entwicklung und schütteln über so viel Rasanz die Köpfe. Tatsächlich sprießen die Galerien, Modeläden und schicken Weinbars seither wie Pilze aus dem Boden. Wer bereits während des Baus des benachbarten Design Museums und der Nachbildung des Shakespeareschen Globe Theaters - beide liegen ebenfalls hier - seine Business-Claims abgesteckt hatte, machte seither einen saftigen Schnitt. Und wer erst jetzt kommt, ist immerhin am Puls der Zeit.

Letzterer veränderte im traditionellen Arbeiterbezirk sogar die guten alten Barkeeper. Die unter der London Bridge gelegene „Cynthia's Bar & Lounge“ wäre so ein Fall: Zwei klobige Roboter gießen hier in der cool gestalteten Halle die Drinks ein. Nur mit den lauwarmen Pints hapert es noch.

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