Artikel

Kulturprodukt, Handelsware?
Spectrum

Die Rolle der Architektur als eine dauerhaft kulturbildende künstlerische Disziplin ist vordergründig unbestritten. Eine Entschließung des Rates der Europäischen Union dringt nun darauf, die Konsequenzen aus diesem Konsens zu ziehen.

17. Februar 2001 - Walter Zschokke
Nicht zufällig hat der 1902 in Leipzig geborene, 1933 nach England emigrierte Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner seiner 1943 erstmals erschienenen Publikation zur Architekturgeschichte, die eine Zeitspanne vom Parthenon bis zu Asplunds Krematorium in Stockholm umfaßt, den Titel „Europäische Architektur“ gegeben. Der für seine Verdienste zum Sir geadelte Forscher und Kunstvermittler hielt in einer Phase erbitterten Zerwürfnisses in Europa, die - auch - von beiderseitigen Zerstörungen von Architektur noch nie dagewesenen Ausmaßes gekennzeichnet ist, daran fest, daß das europäische Architekturschaffen gemeinsame Wurzeln und wechselnde Einflüsse in verschiedensten Richtungen aufweist, daß dessen Eigenart in der Wechselhaftigkeit und Vielfalt, zugleich in einer gegenseitigen Verflochtenheit und Interdependenz zu erkennen ist.

Pevsners leicht lesbarer Rückblick auf über 2000 Jahre Architekturentwicklung beweist, welche Bedeutung das Zusammenwirken von Bauherrschaften und Architekten für das Entstehen dessen hatte, was heute auf deutsch etwas ungelenk „Kulturerbe“ - französisch „patrimoine“, englisch „cultural heritage“ - genannt wird. Er zeigt auch, daß Handwerk und Bautechnik zu allen Zeiten wesentlich an der Qualität der Bauwerke beteiligt waren.

Dieser materiell unübersehbaren Präsenz gegenüber hält sich eigenartiger Weise das primitive ideologische Vorurteil, mit ihren Bauwerken würden sich die Architekten bloß persönliche Denkmale schaffen wollen. Dem ist entgegenzuhalten, daß nur in Ausnahmefällen der Name des Architekten allgemein mit dem des Hauses verbunden bleibt. Selbst das Haus am Michaelerplatz für die Herrenschneiderei Goldmann & Salatsch würde wohl kaum „Looshaus“ genannt, wenn nicht der bloß eine Silbe kurze Name des Architekten und der zur Bauzeit entfachte Skandal dem Volksmund entgegengekommen wäre.
Ein mehrsilbiges Präfix wie Hinterleitner oder Schwellengruber hätte sich kaum eingebürgert. Vielmehr heißen und hießen die Häuser zum einen nach ihrem Aussehen: Maison carrée, NŒmes; Maison de verre, Paris; Cristal Palace, London; das Graue Haus, Wien. Zum anderen und überwiegenden Teil werden sie nach dem Bauherrn oder gar nach der Bauherrschaft eines Vorgängerbaus benannt: Haas-Haus, Wien, BMW-Hochhaus, München; Pirelli-Hochhaus, Mailand; AEG-Turbinenhalle, Berlin - niemand redet vom Hollein-Haus am Stephansplatz, dem Schwanzer-Vierzylinder, dem Ponti-Haus oder der Behrens-Halle. Soviel zum angeblich persönlichen Denkmalskult der Architekten.

Weil aber die ureigenste Aufgabe des Architekten - auch wenn heute verschiedenste Fachplaner in die Projektierungsarbeit integriert werden müssen - die der Zusammenschau aller wesentlichen, Erscheinung und Gestalt bestimmenden Faktoren im Hinblick auf das Werden des Bauwerks ist, das er als erster vorausgeschaut, eben projektiert hat - und das er, lange bevor es dasteht, in- und auswendig kennt -, kann er nicht anders, als die konzeptionelle Idee gegen unpassende Einfälle zu verteidigen. Denn nur so läßt sich die Qualität des architektonischen Konzepts halten. Diesem Bestreben stehen sachliche außerarchitektonische Einwände nicht entgegen, sie lassen sich in aller Regel einarbeiten, wenn sie zeitgerecht vorgebracht werden.

Natürlich gibt es in jedem Berufsstand - wie auch unter Politikern und Politikerinnen - bessere und schlechtere Fachleute. Aber Architekten sind es gewohnt, sich immer wieder in Qualitätswettbewerben zu messen und sich dabei einer Fachjury zu stellen. Und die Zahl der nicht gewonnenen Verfahren übersteigt bei fast allen Architekten jene, die nach einem ersten Preis ausgeführt werden konnten, bei weitem. Steht das Gebäude fertig da, kommen die Kritiker, berufene und unberufene. Jedenfalls ist es immer einfacher, hinterher gescheit zu reden. Und für den Architekten gilt es einiges hinzunehmen und wegzustecken.

Dennoch sind sie nicht die einzigen, die an Qualität in der Architektur interessiert sind. Denn Bauherrschaften wünschen sich Bauwerke, die sie herzeigen können. Zwar sind sie als Private mit ihrem Kapital oder eingegangenen Verpflichtungen existentiell beteiligt. Der Architekt ist jedoch mit seinem Entwurf, den er verinnerlicht hat, auf zutiefst persönliche Weise verhängt. Dies ist nicht anders, wenn auf der Auftraggeberseite eine öffentliche Körperschaft steht, deren Vertreter als Gremium finanziell nicht haften. Der Architekt allerdings ist für seine Architektur verantwortlich, leider auch dann, wenn seine Fachkompetenz nicht ausreichte.

Dennoch soll nicht so getan werden, als konzentrierte sich das gesamte Architekturwollen nur auf die Entwerfer im Sinne einer privaten Marotte. Die Verantwortung der Bauherrschaft, insbesondere öffentlicher Stellen, ist längst bekannt. Diese kulturelle Verantwortung gilt auch, wenn die Aufgaben an Private delegiert werden.

E rfreulicherweise ist nun, nach vorbereitenden Kon- ferenzen unter Kulturbeamten und Fachvertretern aus allen 15 EU-Staaten, der Rat der Europäischen Union unmißverständlich mit einer „Entschließung zur architektonischen Qualität der städtischen und ländlichen Umwelt“ hervorgetreten. Nach mehreren Hinweisen auf vorangegangene Entschließungen zu Kultur und Bildung, in Kenntnis der Schluß- folgerungen der Umweltministertagung in Porto vom April 2000, in denen die Bedeutung der Qualität der baulichen Umwelt hervorgehoben wurde; erwägend, daß im Juli 2000 ein
„Europäisches architektur-politisches Forum“ stattfand mit Architekturfachleuten aus Beruf und Verwaltung aus allen 15 Mitgliedstaaten; begrüßend, daß weitere Arbeitskreise inhaltlich beigetragen haben, erklärt der EU-Rat: „Daß die Architektur einen grundlegenden Bestandteil der Geschichte, der Kultur und der Lebenswelt jedes unserer Länder bildet und eine
der wesentlichen künstlerischen Ausdrucksformen im Alltagsleben der Bürger sowie das Kulturerbe von morgen darstellt; die Qualität der Architektur ein konstituierendes Merkmal der ländlichen wie auch der städtischen Umwelt und der Landschaft ist; die kulturelle Dimension und die Qualität der materiellen Raumgestaltung in der Regional- und Kohäsionspolitik der Gemeinschaft berücksichtigt werden müssen; die Architektur eine intellektuelle, kulturelle, künstlerische und berufliche Arbeit darstellt, und die architektonische Dienstleistung somit eine sowohl kulturelle wie auch ökonomische berufliche Dienstleistung ist.“

Der EU-Rat unterstreicht die Bedeutung, die er Folgendem beimißt: „den den europäischen Städten gemeinsamen Merkmalen wie etwa der Bedeutung der geschichtlichen Kontinuität, der Qualität der öffentlichen Räume, dem Zusammenleben verschiedener Gesellschaftsschichten und der reichen städtischen Vielfalt; der Tatsache, daß eine hochwertige Architektur, durch die der Lebensrahmen und das Verhältnis der Bürger zu ihrer ländlichen oder städtischen Um- welt verbessert werden, einen wirksamen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt, zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Förderung des Kulturtourismus und zur regionalen wirtschaftlichen Entwicklung leisten kann.“

Der EU-Rat empfiehlt daher den Mitgliedstaaten: „Ihre Anstrengungen zu verstärken, die auf eine bessere Kenntnis von Architektur und Stadtplanung und auf deren Förderung sowie auf eine verstärkte Sensibilisierung der Bauherren und der Bürger für die architektonische, städtische und landschaftliche Kultur sowie die Vermittlung entsprechender Kenntnisse abzielen; die Besonderheit der architektonischen Dienstleistung im Rahmen der Beschlüsse und Maßnahmen, in denen dies zum Tragen kommen muß, zu berücksichtigen; die architektonische Qualität durch beispielhafte Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Bauvorhaben zu för- dern; den Erfahrungs- und Informationsaustausch im Bereich der Architektur zu fördern.“
Und der EU-Rat fordert die Kommission auf: „Darauf zu achten, daß die architektonische Qualität und die Besonderheit der architektonischen Dienstleistung im Rahmen ihrer Politiken, Aktionen und Programme Berücksichtigung finden.“

W eiters dazu, „im Benehmen mit den Mitgliedstaaten und im Einklang mit den entsprechenden Strukturfondsregelungen nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie die architektonische Qualität und die Erhaltung des Kulturerbes im Rahmen der Strukturfondsmaßnahmen stärker berücksichtigt werden kann.“

Das ist ein eindeutiges Bekenntnis zur Wahrung und Verbesserung der architektonischen Kultur in Europa, damit die Pevsners, Poseners, und Achleitners des 22. Jahrhunderts über die europäische Architektur des 21. Jahrhunderts etwas zu berichten haben, sie schätzen und würdigen können, wenn sie nicht, was mehr zu wünschen wäre, Allgemeingut geworden ist.

Eine Aufgabe ist allerdings für die nächsten Jahrzehnte vordringlich: Die Bauten für Institutionen und Verwaltung der EU, ob in Luxembourg, Bruxelles, Strasbourg oder anderswo, sollten dem architektonischen Mittelmaß, dem sie leider mehrheitlich verpflichtet sind, entrissen werden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: