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Profil

Raumplanungsstudium an der TU Wien, Dr. techn.; Tätigkeit als Stadtplaner und Berater, Filmemacher und Fachpublizist; schreibt u.a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Die Presse (Spectrum); mehrere Buch- und DVD-Veröffentlichungen sowie Produktionen für Fernsehen (arte, 3sat, ORF, BR, phoenix, RAI, …) und Hörfunk (Ö1, Deutschlandradio, WDR, …); Gestaltung zahlreicher Fachveranstaltungen und mehrerer Ausstellungen; internationale Lehr- und Vortragstätigkeit

Lehrtätigkeit

Bauhaus-Universität Weimar (Lehrauftrag 1998)
Kunst-Universität Linz (Lehraufträge 2005-08 und 2014/15)
Technische Universität Wien (Lehraufträger 2007/08 und 2009/10)
Akademie der bildenden Künste Wien (Lehrauftrag 2011/12)
Technische Universität Wien (Gastprofessur 2014/15)
FH Joanneum Graz (Gastvorlesungen seit 2012)

Mitgliedschaften

Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (seit 2004)
Baukulturbeirat der Österreichischen Bundesregierung (seit 2009)
Stadtplanungsbeirat von Dornbirn (seit 2019)

Publikationen

Der automobile Mensch. Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege
(Dokumentarfilm 2024, modular 90-400 min, deutsch/englisch/französisch, www.urbanplus.at/de/filme/der-automobile-mensch)

Häuser für Menschen. Humaner Wohnbau in Österreich
(Dokumentarfilm 2013, 125 min, www.urbanplus.at/de/haeuser-fuer-menschen-humaner-wohnbau-in-oesterreich)

Architektur der Erinnerung. Die Denkmäler des Bogdan Bogdanovic
(Dokumentarfilm 2008, 125 min, deusch/bosnisch-kroatisch-serbisch, www.urbanplus.at/de/architektur-der-erinnerung-denkmaeler-des-bogdan-bogdanovic)

Harry Glück. Wohnbauten
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2014/2024 - 3. Auflage, 240 S.)

Wer baut Wien?
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2007/2013 - 4. Auflage, 216 S.)

Veranstaltungen

Der Blick von außen (Baukulturelles Ausstellungsformat)

• Saalfelden, 2021-2023 (in Kooperation mit dem Kunsthaus Nexus)

• St. Pölten, 2018-2020 (in Kooperation mit ORTE Architekturnetzwerk Niederöster-reich und Stadtmuseum St. Pölten)

• Klagenfurt 2017-2018 (in Kooperation mit dem Architektur Haus Kärnten)

Auszeichnungen

Förderungspreis der Stadt Wien für Volksbildung (2009)
Rudolf-Wurzer-Würdigungspreis für Raumplanung (2002)

Karte

Artikel

19. Juli 2025 Spectrum

Warum ist Österreich so schiach?

Glaubt man unserer Bundeshymne, sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben, schreibt der Wiener Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß.

Österreich hat seine Zukunft in vielen Bereichen den Bundesländern überantwortet. Zentrale Nachhaltigkeitsthemen wie Raumordnung, Bauordnung, Naturschutz oder auch der geförderte Wohnbau fallen in die Zuständigkeit der Länder, ebenso wie die Errichtung von Straßen – abgesehen von Autobahnen und Schnellstraßen. Aber auch die entstehen seltener aufgrund bundespolitischer Überlegungen als auf Zuruf der neun Landesregierungen. In fünf davon sitzen die Freiheitlichen bereits als Partner der Volkspartei, mit der gemeinsam sie ihre Klientel nachhaltigkeitspolitisch nicht gerade verschrecken. Wie das konkret aussieht, bekam die Öffentlichkeit vor zwei Jahren vor Augen geführt: Da stieß das damals noch grüne Umweltministerium mit seiner Initiative zur Eindämmung der horrenden Bodenvergeudung auf einhelligen landesfürstlichen Widerstand, angeführt vom schwarz-blau regierten Oberösterreich – und biss auf Beton.

Der Sektor Bauen und Mobilität verursacht aber nicht nur die Versiegelung des Landes, sondern ist auch für zwei Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich. Daher fordern Fachleute seit Langem eine Abkehr von der bisherigen Architektur, Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung. Nicht so die FPÖ – allein schon, weil sie den Zusammenhang zwischen unserem CO₂-Ausstoß und dem Klimawandel, ja sogar den Klimawandel an sich, in Frage stellt. Während Experten etwa das freistehende Einfamilienhaus samt politisch verordneter Doppel- oder Dreifachgarage mit einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung für unvereinbar halten, plädiert die FPÖ unisono mit der ÖVP weiterhin für ein Recht der Menschen auf ihre liebste Wohnform – wachsende Speckgürtel hin, zunehmende Autoabhängigkeit her.

Gleichzeitig steht die FPÖ immer wieder auf der Bremse, wenn es um Alternativen zum für viele nicht mehr erschwinglichen Einfamilienhaus geht. In Innsbruck, wo Bauland und Wohnungen so knapp und so teuer wie kaum sonst in Österreich sind, beschloss die Stadt jüngst für 23 größere, seit Jahrzehnten spekulativ gehortete Baulandflächen eine Zweckbindung für sozialen Wohnbau. Die Einzigen im Gemeinderat, die – im Sinne der betroffenen Grundeigentümer – dagegen stimmten, waren die Freiheitlichen, die von „Enteignung“ sprachen.

Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus

Glaubt man unserer Bundeshymne, so sind wir ein „Volk, begnadet für das Schöne“. Baukulturell betrachtet kann dies freilich nur mit Blick auf die Vergangenheit unwidersprochen bleiben. Denn was sich heute landauf landab an gebauter Scheußlichkeit und ignoranter Verunstaltung findet, deutet vielmehr auf eine kollektive ästhetische Abstumpfung hin. Gut, Gewerbehallen und Supermärkte schauen nicht nur in der Alpenrepublik unsäglich banal aus. Aber deren Bauherren geht es auch nicht um Dauerhaftes oder gar Repräsentatives, sondern um Kostenminimierung – auf Kosten des Stadt- und Siedlungsbilds.

Dagegen ist von den 1,5 Millionen Einfamilienhäusern in Österreich ein jedes geradezu ein Lebenswerk, in das oft ein Vermögen fließt. Und was verraten die Hunderttausenden Eigenheime aus den letzten drei, vier Jahrzehnten über ihre Erbauer? Dass vielen der Gedanke an so etwas wie Einheitlichkeit oder Einordnung in ein Siedlungsgefüge völlig abhandengekommen ist. Vielmehr geht es darum, sich von allen zu unterscheiden, etwas Einzigartiges in die Landschaft zu stellen, der eigenen Individualität baulichen Ausdruck zu verleihen – ja, sich selbst in Ziegel oder Beton zu verwirklichen. Aedifico, ergo sum! Die Gemeinden wiederum haben längst damit aufgehört, den Häuslbauern irgendetwas vorzuschreiben. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack gäbe – und auf seine bauliche Manifestation.

So lässt das stilistische Potpourri innerhalb einer einzigen Wohnsiedlung unserer Tage die gesamte bisherige Architekturgeschichte armselig aussehen. Die Baumarkt-Kreationen aus Kunststoff oder Aluminium jedweder Form und Couleur für Haustüren und Garagentore, Fenster und Außenjalousien, Vordächer und Zäune kennen keine Grenzen – und lassen Neubauten zigtausendfach zur Peinlichkeit geraten. Bei Umbau und Sanierung bestehender Substanz rauben sie den Altbauten ihre Seele. Und nein, in anderen vergleichbaren europäischen Ländern gibt es einen derartigen Wildwuchs nicht! Man muss unsere „Baukultur“ als Spiegel der Gesellschaft sehen – und kann sie nicht (allein) der Politik anlasten. Was man der Politik – und hier vor allem den Rechtspopulisten – allerdings zuschreiben darf, ist, dass sie seit Jahrzehnten ein Klima schafft, in dem Egozentrik über die Gesellschaft gestellt wird, also der Vorteil des Einzelnen über das Gemeinwohl. „Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome“ heißt es zu Beginn der Bundeshymne – laut Umfragen sind die Österreicher, wenn es um ihr Land geht, auf nichts stolzer als auf die Natur- und Kulturlandschaft. Und doch gehen wir unglaublich sorglos mit dieser Landschaft um: sei es durch die unaufhörlich wachsenden Verkehrswege, sei es durch die ungebremst fortschreitende Zersiedlung – nicht zuletzt durch Handel und Gewerbe auf der grünen Wiese. Obwohl Österreich schon jetzt von allen EU-Staaten die meisten Autobahn- und Schnellstraßenkilometer sowie die größte Einzelhandelsfläche pro Kopf hat.

Paradoxerweise geriert sich ausgerechnet die FPÖ, die dem Raubbau an Umwelt und Klima am wenigsten entgegensetzt, als „Heimatschutzpartei“. So wettern die Freiheitlichen in gleich mehreren Bundesländern gegen die Wind- und Sonnenenergiegewinnung – weil sie „Heimat und Landschaft zerstört“. In Kärnten initiierten die Freiheitlichen im Jänner ein Volksbegehren gegen Windräder auf Bergen und Almen, nachdem Windkraftwerke schon davor bloß dort genehmigt wurden, wo sie in einem Umkreis von 25 Kilometern von maximal zwei Prozent der Wohnbevölkerung des Landes gesehen werden können. Der freiheitliche Landesparteiobmann befand einfach, „dass Windräder nicht zu Kärnten passen“ – und das Votum ging knapp in seinem Sinne aus, weshalb nun faktisch ein landesweites Windkraftverbot herrscht. In Oberösterreich ist die FPÖ aus Sorge um Wildtiere gegen die Errichtung von Windrädern – und im Burgenland zum Schutz wertvoller Landwirtschaftsflächen gegen den Bau von Solaranlagen.

Tatsächlich fehlt bei der rasanten Ausweitung von Wind- und Solarkraftwerken allzu oft jede ästhetische Sensibilität. Und die sorglose Verbauung von fruchtbarem Ackerland ist nichts weniger als ein Verbrechen an der Zukunft. Doch wäre die einzige ernsthafte Alternative zur Stromgewinnung aus Wind und Sonne, unseren verschwenderischen Energiekonsum drastisch zu senken. Das steht allerdings nicht auf der politischen Agenda der Rechtspopulisten. Diese fordern vielmehr den Rücktritt vom Ausstieg aus Erdöl, Erdgas und Kohle. Und ihr Engagement für den Heimatschutz endet dort, wo sie ihre Interessen gegenüber Landschaft und Natur durchsetzen wollen. So unterstützte die FPÖ in Oberösterreich im Vorjahr Probebohrungen nach möglichen Gasvorkommen in einer Nationalparkregion, während sie sich in Niederösterreich für „Bio“-Fracking zur Förderung der dortigen Ölvorkommen stark macht.

Politik aus dem Bauch heraus

Ebenso wenig Thema ist der Heimatschutz für die Freiheitlichen beim Bau neuer Verkehrsachsen – selbst in noch unversehrten Landschaften. So fordern sie in Niederösterreich gleich zwei neue Autobahnen respektive Schnellstraßen in extrem dünn besiedelten Regionen: eine quer durchs Waldviertel und die andere von St. Pölten ins Mariazeller Land. Kein ernst zu nehmender Verkehrsplaner oder Regionalökonom würde diesen Projekten irgendeinen Nutzen zubilligen, der auch nur ansatzweise in Relation zu den damit verbundenen Kosten und vor allem Schäden stünde. Wer aber Politik aus dem Bauch heraus macht, den kümmern rationale Argumente wenig. Zumal die FPÖ auch in Niederösterreich eine Koalition mit der ÖVP bildet, mit der gemeinsam sie medienwirksam ein „Bekenntnis zum Individualverkehr“ abgegeben hat, finden derlei Ideen im Landtag trotz allem ihre Mehrheit. Während anderswo Arbeitslose oder ­Alleinerzieherinnen den Schutzinstinkt der ­Politik wecken, sind es in Niederösterreich Pendler und Spediteure. Und für ihre Notlage gibt es nur eine „rechte“ Lösung: neue Straßen! Insbesondere nach fünf langen Jahren „willkürlicher Straßenbaublockade“ durch das grüne Verkehrsministerium.

Dass der Berufsverkehr insbesondere in den Ballungsräumen auf die Bahn verlagert werden müsste und die Politik in der Verantwortung stünde, die Möglichkeit dafür zu schaffen, lassen die Wortführer des Autobahnausbaus ebenso unter den Tisch fallen wie die Notwendigkeit, den Gütertransport von der Straße auf die Schiene zu bringen. Lieber poltern sie gegen den „ideologisch bedingten Spritpreiswahnsinn“ und eine „CO₂-Sinnlossteuer“, die Autofahrer weit über Gebühr zur Kasse bitten würden. Dass alle wissenschaft­lichen Berechnungen den Pkw- und Lkw-Verkehr als chronischen Subventionsfall entlarven, greifen nicht einmal die Medien gern auf.

Nicht nur Fachleute, sondern so gut wie alle vernunftbegabten Bürger schütteln den Kopf darüber, dass die FPÖ in regelmäßigen Abständen eine Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnen fordert. Österreich liegt hier im europäischen Spitzenfeld, doch das ist den Freiheitlichen nicht genug. Während beider bisherigen schwarz-blauen Koalitionen führten die freiheitlichen Verkehrsminister auf ausgewählten Strecken höhere Limits ein, die von den nachfolgenden Regierungen angesichts fehlenden Nutzens aber altbekannter Nachteile wieder gesenkt wurden. Im Vergleich zu Tempo 130 steigen bei 150 km/h die CO₂-Emissionen um 19 Prozent, die Feinstaubbelastung um 31 Prozent und der Stickoxid-Ausstoß um 44 Prozent. Und ähnlich drastisch nehmen der Verkehrslärm und das Unfallrisiko zu.

Ungeachtet dessen brachte Herbert Kickl in den Koalitionsverhandlungen Anfang des Jahres erneut Tempo 150 aufs Tapet, unterstützt von freiheitlichen Landespolitikern. Niederösterreichs Parteichef Udo Landbauer meinte: „Ich stelle mich damit klar gegen die grüne Klimareligion, deren Evangelium Tempo 100 ist.“ Und Oberösterreichs Verkehrslandesrat Günther Steinkellner behauptete, Tempo 150 könne sogar „weitere Inflation verhindern“. Denn „Zeit ist Geld, heißt es im Volksmund. Vice versa bedeutet mehr Transportzeit auch höhere Kosten“. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt kommentierte die Gedankengänge des Verkehrspolitikers vornehm zurückhaltend als „wirklich weit hergeholte Schlussfolgerung“. Intellektuelle Bloßstellung hält einen selbstbewussten FPÖ-Politiker aber nicht davon ab, der Öffentlichkeit beinah in Trump’scher Vereinfachungsmanier auch noch andere Zusammenhänge zu erklären: „Am täglichen Gütertransport hängt die ganze Wirtschaft. Bricht dieser zusammen, dann droht ein massiver Wohlstandsverlust mit einem existenzgefährdenden Versorgungsnotstand“, so Steinkellner.

Wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs

Niemand sieht den Straßengütertransport vor dem Zusammenbruch. Die Freiheitlichen aber sind Meister darin, realitätsferne Horrorszenarien aufzubauen, um daraus mitunter irrwitzige Maßnahmen abzuleiten: So fordert der Landesrat in Sorge um den Lkw-Verkehr „Versorgungssicherheit durch die Abschaffung der CO₂-Abgabe, eine Preisdeckelung für Treibstoff sowie ein Aussetzen oder Senken der Mineralölsteuer“. Um solches auch umzusetzen, braucht es die FPÖ freilich gar nicht einmal mehr: Was ÖVP, SPÖ und Neos jüngst an verkehrspolitischen „Reformen“ präsentierten, liest sich wie der Wunschzettel von Straßenbaulobby und Autofahrerclubs: Abschaffung der Normverbrauchsabgabe für Klein-Lkw und Pick-ups mit Verbrennungsmotoren, Verdreifachung des Pendlereuros, Verteuerung des Klima­tickets, Budgetkürzungen beim Schienenausbau, Infragestellung weiterer Regionalbahnen.

In der Steiermark haben die Wähler im Vorjahr die FPÖ zur stimmenstärksten Partei gemacht und sich damit ganz bewusst für eine Abkehr von einer nachhaltigen Entwicklung entschieden. Mit Sagern wie „Autofahren ist keine Schande“ gibt sich auch Neo-Landeshauptmann Mario Kunasek als Schutzpatron der Autofahrer – und tut alles, um sie vor „Klima­alarmismus und Autofahrerschikane“ zu bewahren. So lehnt sein Regierungsteam „Maßnahmen zur Ausgrenzung von Autofahrern“ ab, will im urbanen Raum nicht etwa dem Fahrrad oder der Straßenbahn, sondern „der Verfügbarkeit von Parkplätzen Priorität einräumen“ und pocht auf die „Gleichberechtigung der Pkw-Lenker mit anderen Verkehrsteilnehmern“.

Damit betreibt er in klassisch rechtspopulistischer Manier eine „Täter-Opfer-Umkehr“: Selbst in der linksregierten Landeshauptstadt, die zu den Vorreitern der Verkehrswende in Österreich zählt, okkupieren fahrende und parkende Kraftfahrzeuge nach wie vor einen überproportionalen Anteil am Straßenraum. Wenn Fußgänger und Radfahrer in Graz nun wieder mehr Platz bekommen, nehmen sie den Autos nichts weg, sondern erhalten einen kleinen Teil dessen zurück, was ihnen über Jahrzehnte streitig gemacht wurde. Anders sieht das die FPÖ: „Die Steiermark ist Autoland, und das soll sie auch bleiben!“

Abschaffung des Lufthunderters

Und die „Heimatschutzpartei“ belässt es nicht bei Worten: 20 Jahre lang galt auf den Autobahnen rund um Graz ein immissionsabhängiges Tempolimit von 100 km/h – als wirksame Maßnahme, um die aufgrund ihrer Kesselllage Feinstaub-geplagte 300.000-Einwohner-Stadt zu entlasten. Kurz nach seinem Amtsantritt kippte Landeshauptmann Kunasek diese Regelung unter dem Beifall freiheitlicher Verkehrslandesräte anderer Bundesländer, die Ähnliches planen oder bereits umsetzten. „Diese Entscheidung ist ein Ausdruck von Vernunft und Realitätssinn“, war Oberösterreichs Günther Steinkellner begeistert. „Die Abschaffung des Lufthunderters in der Steiermark zeigt, wie eine moderne Politik für die Menschen im eigenen Land aussehen kann, wenn Fakten statt Ideologie die Richtung vorgeben.“

Dass der Vorwurf der ideologie- statt faktenbasierten Politik ausgerechnet aus dem rechten Lager kommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Umso vehementer erhebt die FPÖ ihn bei ihrem Reizthema Nummer eins – der Klimapolitik. Mit Begriffen wie „Klimaterror“ oder „Klimakommunismus“ entzieht sie sich jeglicher sachlichen Diskussion, die sie in Wahrheit gar nicht führen will – und prägt damit umso mehr den Nachhaltigkeitsdiskurs. Bei vielen Zielen sind die Freiheitlichen derweil an ihrer Erfüllung gescheitert, was sich angesichts wachsender Stimmenanteile aber bald ändern kann. Ihr größter „Erfolg“ bisher ist vermutlich jener, das Niveau der öffentlichen Debatte über Jahrzehnte dermaßen abgesenkt zu haben, dass politisch inzwischen so gut wie alles möglich ist.

14. Dezember 2019 Spectrum

Wo bleibt da der Protest?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit Struktur und Idee von Stadt gemein. Es ist den heimischen Ratsherren offenbar auch längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen. Über die Emanzipation der Geschmacklosigkeit.

Im Jahr 1297 verfügte der Stadtrat von Siena, die Fenster der Gebäude am Hauptplatz, der Piazza del Campo, seien gleichmäßig zu gestalten. Ab 1309 mussten die Bürger neue Häuser zur Straßenseite hin mit Ziegelmauerwerk errichten, auch das ausdrücklich des Stadtbildes wegen. Hässliche Bauten hingegen wurden sogar abgerissen, um „la bellezza della città“, die Schönheit der Stadt, zu fördern, weiß Michael Stolleis, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. 1370 schließlich bildeten drei Stadtväter einen Ratsausschuss, eine Art spätmittelalterlichen Gestaltungsbeirat, der bei sämtlichen Bauarbeiten im Straßenraum „den Kriterien der Schönheit zur Beachtung verhelfen“ sollte.

Dem Ehrgeiz der Sienesen standen die Florentiner um nichts nach. Ihre Ratsherren ordneten 1322 aus rein ästhetischen Gründen an, dass alle, die Hütten oder Buden in der Stadt besaßen, diese bis zu einer Höhe von 2,36 Metern aufzumauern hatten. An der Via Maggio wiederum durften fortan keine Erker mehr angebracht werden, damit diese Straße weiträumig und schön sei, „ampla et pulchra satis“. Warum gerade toskanische Städte so früh schon auf ihre Schönheit bedacht waren, erklärt Michael Stolleis, im Übrigen Sohn eines Bürgermeisters, indem er die kommunalpolitischen Entscheidungen von damals in einen größeren Kontext stellt: Die an ästhetischen Prinzipien orientierte Urbanistik sei ein integrales Element von Renaissance und Humanismus – und diese hätten bekanntlich in mehreren Gemeinwesen Norditaliens ihren Ausgang genommen und bis weit in die Neuzeit hinein ihre kulturellen Vorreiter gefunden.

Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass unserer Art, Stadt zu bauen beziehungsweise Landschaft zu verbauen, auf eine gehörige geistige, musische und auch ethische Erosion in weiten Teilen unserer Gesellschaft hindeutet. Wie sonst sollte man etwa Wiens monofunktionale Wohnquartiere, in denen sich Menschen auf zehn und mehr Etagen widerspruchslos stapeln lassen, oder „urbane“ Wohntürme in unmittelbarer Autobahnnähe erklären, die nach Jahrzehnten der Ächtung nun wieder als modern gelten? Wie wären die öden „Business Districts“ mit ihren abweisenden „Office Buildings“, die zu allem Überfluss halb leer stehen, oder die alibihaften Restflächen zwischen heutigen Bauten, die wir tatsächlich als Freiräume bezeichnen, anders zu begreifen?

Unsere Neubauviertel haben kaum noch etwas mit der Struktur und Funktionsweise oder auch nur mit der Idee von Stadt gemein, wie sie auch in Österreich über Jahrhunderte kultiviert und weiterentwickelt wurde. Natürlich könnte man dies dem intellektuellen oder moralischen Verfall der handelnden Planungspolitiker, Bauherren, Immobilienspekulanten, Architekten und Planer zuschreiben. Doch können die nur tun, was wir sie tun lassen. Auch hierzulande gab es andere Zeiten, und andernorts gibt es bis heute Städte, in denen Bürger in wahrnehmbarer Zahl für eine andere Entwicklung, als von den Stakeholdern beabsichtigt, auf die Barrikaden gingen und gehen: sei es gegen den Abriss historischer Bauten, sei es gegen neue Straßen und den zerstörerischen Autoverkehr, sei es gegen unmaßstäbliche Spekulationsprojekte, die einen Schaden für ein ganzes Viertel bedeuteten. Wo ist der bürgerschaftliche Protest hier und heute? Der Anteil urbanistisch engagierter Österreicher bewegt sich gegenwärtig im Promillebereich – und entsprechend unbeeindruckt zeigen sich die Entscheidungsträger.

Aber wenn es nur die Passivität der Bevölkerung wäre! Fast alle von uns sind auch Mittäter! Wer sonst ist für die ausgedehnten Einfamilienhaussiedlungen im Fertigteil- oder Baumarkt-Stil samt Doppelgarage verantwortlich? Wer hält denn all die Einkaufs- und Fachmarktzentren mit vorgelagerten Parkplatzwüsten am Leben? Und wer nutzt sommers wie winters jene Freizeitgroßprojekte, die aus zahllosen Ortschaften peinlich überschminkte Gewerbeparks des Massentourismus machen? Andererseits, warum sollte sich unsere Konsumgesellschaft beim Wohnen, Arbeiten, Urlauben oder Verkehren in den Städten und Dörfern anders verhalten als sonst? Wer mit geschmacklosem Obst aus dem Supermarkt, Wegwerfprodukten der Haushalts- und Elektronikdiscounter oder Billigtextilien aus der Dritten Welt sein Glück findet und sich der vollen Tragweite seines Handelns nicht einmal ansatzweise bewusst ist, von dem ist kaum Engagement für ein schöneres Ortsbild oder den Bau einer neuen Straßenbahnlinie zu erwarten. Und schließlich: Wo sind die Medien, die sich konsequent in den Dienst einer nachhaltigeren und, ja, auch schöneren Stadt stellen?

Auch die gab es einmal, denkt man etwa an die 1970er-Jahren und die Rolle der „Salzburger Nachrichten“ für den Schutz der Altstadt und der zentrumsnahen Grünräume Salzburgs – oder an die Bedeutung des ORF für ein politisches Umdenken in Sachen Stadterneuerung in Wien, das bis dahin auf eine Kahlschlagsanierung der weitläufigen Gründerzeitviertel gesetzt hatte. Solch journalistisches Engagement braucht freilich regelmäßig Titelseiten und das Hauptabendprogramm, um Gesellschaft und Politik wirklich zu erreichen und im Idealfall auch etwas zu verändern. Gelegentliche Beiträge im Feuilleton oder der Kultursendung spätnachts bleiben Feigenblätter, solange tagtägliche Werbeeinschaltungen von Bausparkassen, Immobilienwirtschaft, Autokonzernen oder Handelsketten sie an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung drängen – und kraft ihres wirtschaftlichen Gewichts die Themenwahl vieler Redaktionen bestimmen.

Was macht die Schönheit einer Stadt, eines Dorfes eigentlich aus? Die Architektur der einzelnen Gebäude ist es nur bedingt, wie sich in der Toskana ebenso zeigt wie hierzulande. Für sich genommen, sind viele Häuser in italienischen Altstädten ausgesprochen schlicht, mancherorts sogar ärmlich. Aber im Ensemble entfaltet diese Bebauung einen enormen Reiz, was ursächlich mit ihrer Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit zu tun hat. Nicht umsonst pochten die Ratsherren in Siena auf eine Gleichmäßigkeit der Häuser rings um den Hauptplatz. Ähnliches führt die – freilich weniger bescheidene – Gründerzeitbebauung Wiens vor Augen. Die zigtausendfach entstandenen Häuser der Boomjahre um 1900 mit ihrem oft seriell vorfabrizierten Fassadendekor gelten Kunsthistorikern vielfach als ideenlose Massenware. Trotzdem stehen Viertel und Straßenzüge mit noch weitgehend erhaltener Substanz aus dieser Zeit für jenes Wien, das heute die meisten Bürger und fast alle Gäste als urban, lebenswert und schön empfinden – zumindest legen das die Immobilienpreise nahe.

Wesentlicher Grund sind auch hier Maßstäblichkeit und Einheitlichkeit der Bebauung: Die Parzellenbreite war stadtweit ebenso klar geregelt wie die jeweils zulässigen Gebäudehöhen – und Wohnhäuser fügten sich in die von der Baubehörde ersonnene, eigentlich ganz simple Stadtstruktur ebenso ein wie Geschäftshäuser, Fabrikbauten oder öffentliche Gebäude. Das soziale Elend, das sich damals hinter den schmucken Fassaden der dicht gestaffelten Zinshäuser verbarg, ändert nichts an der ästhetischen Qualität des durch sie gebildeten Stadtraums.

Auch der Charme jener Siedlungen, die in der Nachkriegszeit in allen österreichischen Städten und vielen Gemeinden entstanden sind, lebt von der Einheitlichkeit der recht einfachen, eingeschoßigen, spitzgiebeligen Häuser mit ihren kleinen, meist obstbaumbestandenen Gärten und oft auch schon einer Garage, allerdings für nur ein Fahrzeug. Freilich nur, solange sie noch nicht durch wuchtige Um- und Ausbauten, blickdichte Gartenzäune, den Einbau von Allerweltstüren und unproportionalen Plastikfenstern oder durch eigenwillige Fassaden- und Farbkonzepte der Individualität ihrer heutigen Besitzer Ausdruck verleihen. Als ob es ein Recht auf schlechten Geschmack und seine öffentliche Zurschaustellung gäbe! Es scheint, als habe unsere Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren, als sich Menschen in anderen Teilen Europas von politischen und materiellen Zwängen befreiten, damit begonnen, die kulturellen – und damit auch baukulturellen – Zwänge, die ihr, gefühlt, auferlegt worden waren, abzuschütteln. Die Emanzipation der Geschmacklosigkeit, sozusagen.

Da hilft es wenig, dass ausgerechnet ein Österreicher Häuslbauern wie Architekten ins Stammbuch schrieb, warum ein Haus allen zu gefallen habe – im Unterschied zu einem Kunstwerk. „Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht“, postulierte Adolf Loos vor mehr als 100 Jahren und: „Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich. Das Haus einem jeden.“ Selbstredend zielen diese Verweise auf die Baugeschichte weder auf eine Reproduktion historischer Fassadenabläufe noch auf jene Art „Rückbesinnung“, wie sie konservative Vertreter des New Urbanism mit ihren romantischen Architekturvorstellungen fordern. Sie sollen einfach nur helfen, wieder etwas zur Besinnung zu kommen. Denn ein ebensolcher Irrweg wie der Zwang zur Gefälligkeit ist der Drang zur Auffälligkeit.

Besagte Einheitlichkeit etwa hat bei ernsthafter Betrachtung nichts mit Einförmigkeit zu tun und ist per se auch kein Hemmnis für Innovation und Vielfalt. Einheitlichkeit erleichtert es im besten Wortsinn, dass einzelne Bauten zusammen eine Einheit ergeben – sprich, ein Ganzes bilden, das mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. Das ist es, was man im Grunde unter Städtebau versteht und früher auch als Stadtbaukunst praktiziert hat: nämlich einen kunstvollen Rahmen zu schaffen, in den dann Bilder jedweden Stils und Inhalts passen – aber eben kein fünfmal so großer Wandteppich.

Mehr und mehr wurde Städtebau von einer quartierübergreifenden und kontinuierlichen Aufgabe der öffentlichen Hand zu einem projektbezogenen Wunschkonzert privater Immobilienentwickler und ihrer Architekten, die sich den urbanistischen Rahmen für ihre Bauvorhaben praktischerweise selber abstecken. Wissenschaftlich abgesegnet wird das Ganze noch von Kollegen aus dem universitären Bereich, die in der Öffentlichkeit weniger durch aufrüttelnde Vorträge oder geistreiche Publikationen, denn als Inhaber gut gehender Planungsbüros in Erscheinung treten. In dieser Doppelfunktion reden sie einer „dialogorientierten Stadtentwicklung“, „städtebaulichen Aushandlungsprozessen“ und anderen Metaphern für ein in Wahrheit undemokratisches Monopoly das Wort – ohne jede Scham, dadurch ihre eigene Disziplin, die Planung, ad absurdum zu führen.

So deklamierte der damals in Berlin lehrende Architekt Wilfried Kuehn als Juror des Wettbewerbs für das umstrittene Hochhaus am Wiener Heumarkt, dass es grundsätzlich besser sei, „keine engen städtebaulichen Vorgaben festzulegen, sondern Freiheit für die Architektur zu schaffen, damit aus dieser ein spezifischer Städtebau entwickelt werden kann“. Ein Pferd von hinten aufzuzäumen, würde jeden Stallburschen den Job kosten. In Wiens gegenwärtigem Stadtplanungsdiskurs hingegen geben „Experten“ mit solcherart Nonsens die Richtung vor. „Festgelegte Höhen und Baumassen“, so Kuehn weiter, seien im Übrigen „so probat wie ein Fünfjahresplan, eine Illusion, der zu widersprechen ist“, zumal „ein Masterplan immer abstrakt und wirklichkeitsfremd bleiben wird.“ Nicht ohne Eigennutz, vor allem aber zur Freude ihrer Bauherren diskreditieren diese Stadtvisionäre all jene, die – allein schon zur Wahrung von Anrainer- und Gemeinwohlinteressen oder zwecks Gleichbehandlung aller Grundeigner und Bauwerber – weiter an die Notwendigkeit langfristiger, übergeordneter Konzepte glauben. Sie werden als Dogmatiker hingestellt, die einem längst überholten Idealbild von Stadt, ja der Chimäre einer überhaupt noch planbaren Stadt nachhingen – und damit nicht zuletzt auch hehrer Baukunst im Wege stünden. Interessanterweise sind aus dem gründerzeitlichen Wien, das mit seiner stilistischen Borniertheit Modernisierer wie Otto Wagner und Adolf Loos schier zur Verzweiflung brachte, keine Klagen bekannt, dass die städtebaulichen Vorgaben bedeutende Architektur verhindert hätten.

Freilich hängt die Schönheit von Städten nicht allein am Gebauten, sondern auch an der Gestalt der Räume dazwischen, insbesondere des öffentlichen Raums. Und was finden wir hier, ohne dass es uns im Alltag noch sonderlich auffallen würde? Untrüglichstes Zeichen, dass man sich in einem modernen Teil der Donaumetropole befindet, ist der urbane Felsen. Sie kennen ihn bestimmt. Erstmals gesichtet wurde er in den 1990er-Jahren auf Parkplätzen in suburbanen Gewerbeparks, wo er verhindern sollte, dass Kunden ihre Fahrzeuge auf den Restgrünflächen abstellen. Mittlerweile hat er auch in zentrumsnahe Wohn- und Büroviertel Einzug gehalten, selbst dort, wo gar keine Autos fahren – und in einer Vielzahl, die nahelegt, dass er inzwischen zum beliebten Gestaltungselement der zeitgenössischen Freiraumplanung aufgestiegen ist.

Zu seiner rasanten Ausbreitung beigetragen haben dürfte ein Schlupfloch in der Wiener Bauordnung, denn anders ist es kaum zu erklären, dass in einer Stadt, in der es für alles eine Regelung gibt und eine Genehmigung braucht, Zigtausende kniehohe Gesteinsbrocken verstreut werden können, ohne dass irgendeine Magistratsabteilung wissen würde, wo, in welcher Menge und in welcher Anordnung dies geschieht. Oder haben Sie schon etwas von einem Wiener Felskataster gehört, von einer städtischen Brockenverordnung oder gar einem Umweltgütesiegel für Steine aus heimischen Gebirgsregionen, herangeschafft von emissionsarmen Lkw?

Die einzige sonst mögliche Erklärung für die wachsenden Felsformationen und viele andere urbane Phänomene hieße nämlich: Es ist den heimischen Ratsherren längst wurscht, wie ihre Städte ausschauen – und welches Bild sich künftige Generationen von unserer Gesellschaft machen. Denn eines ist klar: So wie wir Renaissance, Barock, Biedermeier oder Gründerzeit vornehmlich danach beurteilen, welche Gebäude, Stadtviertel und Städte sie uns hinterlassen haben, werden auch wir und unser kulturelles Niveau einst an der Schönheit der heutigen Bauten, der heutigen Stadt gemessen.

3. November 2017 Spectrum

Nix Urbi, nur Orbi

Bürotürme zu bauen, die halb leer stehen, und ganze Büroviertel zu entwickeln, die keiner braucht, hat durchaus Sinn – wenn Immobilienfonds mit Pensionsgeldern und Politiker mit Steuergeldern dafür geradestehen. Der jüngst eröffnete Orbi Tower krönt Wiens überflüssigstes Büroquartier – TownTown.

Wie groß der Bürobestand der Bundeshauptstadt ist, weißniemand so genau, und auch nicht, wie viel davon leer steht. Die Dunkelziffer unvermieteter Büroflächen bewegt sich rund um eine Million Quadratmeter. Sicher istnur, dass auch heuer wieder Zigtausende ungenutzte Quadratmeter hinzukommen – an die 10.000 allein im kürzlich fertiggestellten Orbi Tower, dem Höhe- und Schlusspunkt des vielleicht überflüssigsten Büroviertels der Stadt: TownTown.

Anstatt dem seit den Neunzigerjahren grassierenden Bürobauboom stadtplanerische Zügel anzulegen und als Grundlage dafür Daten über den Büromarkt zu erheben, verfiel die Stadt Wien um das Jahr 2000 auf die Idee, auch selbst daran mitverdienen zu wollen. Wie geschaffen für ein Pilotprojekt schien das Areal eines ebenerdigen U-Bahn-Teilstücks samt einer U-Bahn-Remise in Erdberg, im Südosten Wiens, dem zu dieser Zeit hoffnungsvollsten Stadterweiterungsgebiet. Der auserkorene Standort, unmittelbar am Kreuzungspunkt der beiden Stadtautobahnen A4 und A23, war bereits weitgehend im Eigentum der Wiener Linien respektive der Wiener Stadtwerke. Durch eine Überplattung der U3 sollte ein vier Hektar großer Bauplatz inbester Verkehrslage – und darauf ein „neuer, selbstständig funktionierender Stadtteil“ entstehen. Zur Realisierung gingen die kommunalen Versorgungsbetriebe mit den Bauunternehmern Hanno und Erwin Soravia eine „Public Private Partnership“ ein, an der beide Seiten in etwa zur Hälfte beteiligt waren.

Aus den Entwürfen eines städtebaulichen Expertenverfahrens für dieses Großbauvorhaben wählten die Projektbetreiber den Vorschlag von Architekt Wilhelm Holzbauer und dessen Partnern aus, der bereits eine ansehnliche Dichte aufwies. Mit GustavPeichl und Coop Himmelb(l)au stießen dann noch zwei weitere prominente Büros zum Planungsteam, sodass auch die beabsichtigte Baumasse weiter wuchs. Schließlich sollten rund 20 Bürobauten, darunter auch Hochhäuser mit bis zu 120 Metern, knapp 130.000 Quadratmeter Bürofläche schaffen und erhofften 5000 Beschäftigten Platz geben.

„Die Idee zu TownTown wurde, nicht untypisch für solche Projekte, ohne jegliche Vorabstimmung mit der Wiener Stadtplanung geboren“, erinnert sich der inzwischen pensionierte Planungsbeamte Klaus Steiner. „Ebenso symptomatisch war dabei die Wahl von Architekten, deren Namen den nötigen Flächenwidmungsbeschluss im Gemeinderat quasi garantieren – und die dafür bekannt sind, bei nahezu jeder Aufgabenstellung eine sehr dichte Bebauung oder ein Hochhaus vorzuschlagen.“ Auf diese Weise, so Steiner, könne der Grundstückswert eines Remisendachs von null auf Tausende Euro pro Quadratmeter steigen. „So etwas ist für den Eigentümer bilanztechnisch sehr erfreulich, hat mit Städtebau allerdings nichts zu tun.“

Ab 2002 hätten die ersten Gebäude auf der Betonplatte entstehen sollen. Aufgrund des damals schon veritablen Büroleerstands in Wien sowie der Konkurrenz durch andere, vonder Planungspolitik inzwischen gehypte Entwicklungsgebiete fanden sich jedoch keine Interessenten. Für die Soravia-Gruppe war es nach einiger Zeit bloß ein wirtschaftliches Problem, dass die 47 Millionen Euro teure Einhausung der U-Bahn brachlag. Im Fall der Wiener Stadtwerke aber, die in den Jahren 2002 und 2003 laut Medienberichten zweistellige Millionendefizite verbuchten, wurde die Investition über kurz oder lang auch zu einem politischen Problem – und zwar für die Stadt Wien als hundertprozentige Eigentümerin des Konzerns. Denn zu dessen Aufgaben zählen Energieversorgung, öffentlicher Verkehr oder auch Bestattung, nicht aber die spekulative Entwicklung von Immobilien.

Im Bemühen, das Projekt trotz Stillstands zumindest medial am Leben zu halten, ging das Rathaus zunächst absonderliche Wege. So rief der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, gemeinsam mit den Developern einen Ideen-Contest für Schüler aus dem Bezirk zur Gestaltung der geplanten „Piazza“ in TownTown aus – und pries den Zeichen- und Malwettbewerb nach Abschluss imSommer 2004 als „gelungene Einbindung der Bevölkerung in ein Großbauvorhaben“. Im Frühjahr 2005 erwog ein bereits resigniertwirkender Felix Joklik, Generaldirektor der Wiener Stadtwerke, in einem Interview sogar den Bau von Wohnungen statt Büros auf der Betonplatte – ungeachtet ihrer Lage direkt am Autobahnkreuz.

„Die Wiener Stadtwerke waren merklich verstimmt“, wusste der Immobilienjournalist Franz Artner damals zu berichten, „dass der politische Rückenwind für den Standort Erdberg nachgelassen hatte und sich die Rathaus-PR auf andere Hotspots der Stadterweiterung stürzte, allen voran auf die Vermarktung des Flugfelds Aspern.“ Auch private Unternehmen hätten sich von der Unberechenbarkeit der Wiener Standortpolitik enttäuscht gezeigt: So siedelten sich die global tätigen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater PricewaterhouseCoopers 2002 – im guten Glauben, dass der Bürodistrikt zügig realisiert werde – unmittelbar neben TownTown an. Da das Großprojekt aber jahrelang auf Eis lag, blieben die Synergien mit anderen namhaften Firmen im Umfeld und die gute Adresse aus. „Ausländische Investoren fragten immer wieder, wo der zukunftsträchtigste Bürostandort Wiens sei, doch ließ sich diese Frage nie seriös beantworten“, so Artner. Wien ignorierte hier internationale Trends der Stadtentwicklung: „In Hamburg waren die Bürostandorte einst auch über die ganze Stadt verstreut. Als die Planungspolitik die Entwicklung aber auf die Hafencity konzentrierte, folgten ihr die Investoren bereitwillig dorthin.“

Schließlich gelang in Erdberg aber doch noch die Wende. Obwohl seitens des Rathauses mehrmals betonte wurde, dass die Stadt Wien keinen Quadratmeter in TownTown anmieten werde, wurde im Herbst 2005 bekannt, dass mit dem Wiener Krankenanstaltenverbund, der Landessanitätsdirektion und der Magistratsabteilung für Gesundheitswesen gleich drei städtische Institutionen an den bislang verwaisten Bürostandort übersiedeln sollen. So konnten die ersten 26.000 Quadratmeter Mietfläche endlich gebaut – und umgehend an einen deutschen Immobilienfonds weiterverkauft werden. Weiteren Gebäuden folgten weitere Dienststellen der Stadtverwaltung, etwa die Magistratsabteilung für Soziales oder jene für die Wiener Kindergärten. Sie verließen ihre Amtshäuser, um fortan an private Immobilieneigner Miete zu zahlen.

2009 verkaufte die Soravia-Gruppe ihre Beteiligung, unter anderem an einen – Medienberichten zufolge – rathausnahen Developer. Das diffuse Konstrukt dahinter vermochte auch ein Bericht des Stadtrechnungshofs von 2014 nur vage wiederzugeben, er legt aber nahe, dass dieser Deal klar zulasten der Wiener Stadtwerke gegangen sein dürfte. Nutznießer war offenbar die Soravia-Gruppe, zumal Erwin Soravia damals in einem Interview bekannte: „Wir haben an TownTown sehr gut verdient.“ Die TownTown AG selbst fuhr dagegen laut Zeitungsmeldungen jahrelang Verluste in Millionenhöhe ein. So waren nicht wenige bass erstaunt, als Erwin Soravia 2013 das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen wurde. Bürgermeister Michael Häupl sah es als „ein Dankeschön der Stadt für die unternehmerischen Leistungen Soravias“ und würdigte diesen auch als persönlichen Freund. Bei nüchterner Betrachtung dessen, was der Immobilientycoon in Wien hinterlassen hat, stechen freilich weniger die Verdienste Soravias um die Stadt als seine Verdienste an der Stadt ins Auge. TownTown, das „größte PPP-Hochbauprojekt Österreichs“, wurde jedenfalls schon vor seiner Fertigstellung zum Synonym für die Abfederung privater Spekulationsverluste durch die öffentliche Hand.

Den Abschluss der rund 15-jährigenEntwicklung des Viertels bildeten zwei gut 100 Meter hohe Türme. Als erste der beiden „beeindruckenden Landmarks“ entstand das in seiner äußeren Erscheinung banale und schon nach Kurzem schäbig wirkende Hochhaus der Architekten Baumschlager & Eberle. Durch seine abweisende, verschlossene Sockelzone über mehrere Geschoße hinweg erinnert es eher an Festungsarchitektur denn an ein urbanitätsstiftendes Gebäude. Damit schließt der Turm nahtlos an die restliche Bebauung des „Office Campus“ an, die sich aufgrund der U-Bahn-Überplattung meterhoch vom angrenzenden Straßenraum abhebt – und einen massiven Fremdkörper im Stadtgefüge darstellt, anstatt sich mit der umliegenden Struktur zu verweben. Auch innerhalb von TownTown mag nicht so recht das Gefühl einer Downtown aufkommen – „Piazza“ hin, vereinzelte Läden und Gastronomen her. Die Öffnungszeiten der beiden Lokale etwa sind deckungsgleich mit den Amtszeiten der umliegenden Magistratsabteilungen. Nach Dienstschluss und an Wochenenden ist die Beamtenburg ausgestorben.

Verwertungsprobleme gab es im Fall des Baumschlager-&-Eberle-Turms keine, da die Stadtwerke den Bau gleich selbst als neues Headquarter für sich und ihre Tochter Wien Energie in Anspruch nahmen. Allerdings kam auch dies dem Steuerzahler nicht eben billig. Denn zunächst sollte der Bau an die deutsche Commerzbank verkauft und zurückgemietet werden. Ein halbes Jahrnach der getroffenen Vereinbarung traten die Stadtwerke jedoch von diesem Deal zurück – was sich die Commerzbank mit 1,6 Millionen Euro abgelten ließ. Auch der eben fertig gewordene, gestalterischambitioniertere Orbi Tower nach Plänen der Architekten Zechner & Zechner kommt nicht ohne öffentliche Gelder aus. Die Wiener Stadtwerke Holding, die zu ihr gehörende Wipark Garagen GmbH und noch andere stadtnahe Mieter sorgen maßgeblich für seine derzeit rund 50-prozentige Auslastung. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man erst dann zu bauen begonnen, wenn ein Projekt etwa zur Hälfte vorvermietet war – am heutigen Wiener Büromarkt gibt dieser Verwertungsgrad bei Fertigstellung bereits Anlass zu Jubelmeldungen auf den Immobilienseiten der heimischen Medien. Jedenfalls fand der Orbi Tower schon vor seiner Eröffnung einen Käufer, nämlich die dem Rathaus eng verbundene Bank Austria. Dabei würde diese auch ohne ihr Engagement in TownTown über eigenen reichen Fundus an unausgelasteten Bürobauten verfügen: Ihre Immobilientochter BAI müht sich redlich ab, die eigenen Projekte an andere Banken und Versicherungen, vorzugsweise aus dem Ausland, abzustoßen.

Was beinah nach einem Pyramidenspiel klingt, bezieht seine innere Logik von den Finanzmärkten. Diese wurden ab den Neunzigerjahren durch die europaweite Teilprivatisierung der bis dahin öffentlichen Rentensysteme binnen Kurzem mit frischem Geld geradezu überschwemmt, zumal die Pensionsfonds in den ersten Jahren überwiegend Einnahmen verbuchten und noch kaum Auszahlungen anstanden. Als auch Österreich 2003 die „prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge“ einführte, scheute sich die schwarz-blaue Regierung nicht, dies offen als „Förderung der privaten Altersvorsorge und des österreichischen Kapitalmarkts“ zu propagieren. In ganz Europa wurden die Pensionskassen von den Gesetzgebern zu sicherenVeranlagungen verpflichtetet, wobei als sicher vor allem Investitionen in Immobilien gelten. Bürobauten versprechen dabei höhere Erträge und problemlosere Mieter als Wohnbauten. Dass Büros heute im Unterschied zu Wohnungen oft leer stehen und damit gar keine Rendite abwerfen, scheint für die Fondsmanager von untergeordneter Bedeutung zu sein, werden die Folgen ihrer Entscheidungen doch erst in mittlerer bis ferner Zukunft schlagend – und dann von den künftigen Rentenbeziehern zu tragen sein.

Mit seiner investorenfreundlichen Stadtplanung hat sich Wien jedenfalls als attraktiver Standort für in Beton gegossene Scheinwerte international positioniert: Weder engt man Developer durch städtebauliche Vorgaben ein, noch beschneidet man Flächenwidmungsgewinne bei Gewährung außergewöhnlicher Höhen – und selbst die Anwendung der seit Kurzem möglichen städtebaulichen Verträge, die private Gegenleistungen für die öffentliche Infrastruktur- und Verkehrserschließung von Großprojekten enthalten können, obliegt dem Gutdünken der Politik. Wer bauen will, dem wird nichts in den Weg gelegt. Dies lockte zunächst deutsche Kapitalanlagegesellschaften an, die in der Bundesrepublik um die Jahrtausendwende kaum mehr interessante Objekte fanden. Nach einer Analyse der Immobilienexperten von CB Richard Ellis stieg der Anteil deutscher Fonds an den gesamten Immobilieninvestitionen in Österreich allein von 2000 auf 2001 von 14 auf 33 Prozent – und erreichte in den Folgejahren mehr als 50 Prozent. In der Hauptstadt war dieser Wert noch viel höher.

Inzwischen tummeln sich in Wien auch niederländische, britische oder US-amerikanische Anleger – ja neuerdings zählen sogar Interessenten aus Asien zum Zielpublikum der hiesigen Großprojektentwickler. Diese bauen längst nicht mehr für den realen Bedarf an repräsentativen Headquarters und modernen Arbeitsplätzen. Ihr Blick richtet sich auf die langfristig zu veranlagenden Überschüsse ausländischer Vermögensverwalter. Insofern stellendie meisten Bürokomplexe der vergangenen 20 Jahre streng genommen keine Produkte für denlokalen Immobilienmarkt mehr dar, sondern Optionen für die globale Finanzwirtschaft: sei es der 202 Meter hohe Millennium Tower, der wie so viele Hochhäuser Wiensaus einem veritablen Bauskandal hervorging und nun schon zumdritten Mal zum Verkauf steht; sei es der 250 Meter hohe DC 1 in der Donau City, der lange Zeit als schwer vermittelbar galt, diesen Sommer aber mit der Frankfurter DekaBank doch einen Abnehmer fand; seien es die drei noch in Bau befindlichen Bürotürme von „The Icon Vienna“ direkt neben dem Hauptbahnhof, die im größten Immobiliendeal des Jahres um mehr als 500 Millionen Euro jüngst an die Münchner Allianz-Versicherung gingen.

Angesichts einer Vielzahl an Projekten in Planung und Bau – vom DC Tower 2 über das Forum Donaustadt bis hin zum Turm auf den Kometgründen – ist kein Ende des Booms absehbar. Für die nächsten Jahre rechnet man in Wien mit einem Neubauvolumen von mindestens 250.000 Quadratmeter Bürofläche – per annum. Aus dem Rathaus sind gegen die zunehmende Leerstandsproduktion keine Einwände zu erwarten. Denn zum einen sind die Interessen der Bauwirtschaft den Stadtvätern traditionell wichtiger als alle urbanistischen Ziele. Zum anderen verschafft jeder Spatenstich für ein weiteres „Wahrzeichen“ in der Skyline Wiens den Volksvertetern mediale Präsenz. Und schließlich werden gebaute Büroarbeitsplätze – ob genutzt oder ungenutzt – kurzerhand mit tatsächlich geschaffenen Jobs gleichgesetzt und als arbeitsmarktpolitischer Erfolg gefeiert.

Dabei tragen selbst vermietete Neubaubüros nicht zwangsläufig zum Jobwachstum bei, zumal sie vielfach nur Firmen aus älteren Bauten abwerben. Dies hat bereits zu einer merklichen Nutzungsentmischung bis hin zur Verödung gewachsener Bürostandorte in gründerzeitlich geprägten Bezirken geführt. Denn mit der Abwanderung der Büroangestellten verlieren Handel, Dienstleistungen und Gastronomie im Umfeld ein Gutteil ihrer Kunden – unddie ansässige Wohnbevölkerung in weiterer Folge oft ihre Nahversorgung. Selbst die historische Innenstadt ist vor diesem Strukturwandel nicht gefeit. Traditionsreiche Bankhäuser, Gerichtsgebäude, Verwaltungsbautenoder auch Zeitungsredaktionen wurden zuletzt hier aufgegeben – und deren Beschäftigte in neue, billigere Büros außerhalb der City umgesiedelt. Die Bawag P.S.K. etwa verlagert ihre Zentrale im kommenden Jahr in den mittleren der drei Tower von „The Icon Vienna“ und gibt dafür eine tatsächliche Ikone Wiens, Otto Wagners denkmalgeschützte Postsparkasse, preis. Auch hier werden wohl ein Nobelhotel, Luxusboutiquen oder Hochpreis-Apartments Einzug halten.

Inzwischen kannibalisieren die neuen Bürostandorte sogar schon sich selbst. PricewaterhouseCoopers werden 2018 ihre Niederlassung nebst TownTown nach nur 16 Jahren aufgeben und in die Donau City ziehen: eine für das heutige Wien nicht unübliche Verweildauer eines Unternehmens an ein und derselben Adresse. Zumindest dieses Phänomen sollte verantwortungsvolle Politiker davon überzeugen, dass ein unkontrollierter Immobilienmarkt die Stadt bloß als Monopoly-Spielfeld missbraucht – und langfristig zerstört. Um den Bürobau im Sinne einer geordneten Stadtentwicklung zu steuern, gäbe es mehrere Instrumente, die nicht gleich im Verdacht des Wirtschaftsdirigismus stünden. So könnte der Gesetzgeber mit steuerpolitischen Instrumenten den Investitionsbedarf der Finanzwirtschaft stärker auf erschwinglichen Wohnbau lenken, der immerhin stabile Renditen bietet.

Die Planungsbehörde wiederum sollte für die Genehmigung etwaiger weiterer Büroviertel seriöse Wirtschaftlichkeitskonzepte verlangen, zumal größere private Fehlinvestitionen immer auch zulasten der Allgemeinheit gehen: sei es durch die ineffiziente Nutzung teurer städtischer Infrastruktur wie Straßen, Kanalisation und öffentlicher Verkehr; sei es durch die Vergeudung von Grundund Boden durch halb leere Bürohäuser, während es an Bauland für dringend benötigte Wohnhäuser mangelt.

Je mehr Büroflächen auf den Markt drängen, umso unwahrscheinlicher wird es auch, dass die Immobilienbranche Geld für die Modernisierung älterer Leerstände in die Hand nimmt. Unmittelbar neben den Neubauten von TownTown verkam ab 2005 der Hochhauskomplex des früheren Hauptzollamts aus dem Jahr 1975. Anstatt über einen architektonisch interessanten Umbau und eine kreative ökonomische Neunutzung der beiden Büroscheiben nachzudenken – erfolgreiche Beispiele dafür gäbe es zuhauf –, werden sie seit dem Vorjahr etappenweise abgerissen. Nach nur 30-jähriger Funktionszeit machen sie Platz für drei Wohntürme derSoravia-Gruppe mit Blick auf das Autobahnkleeblatt, den der Investor als „Blickrichtung Sonnenaufgang“ verkauft. Diese Wegwerfmentalität passt weder zu Wiens Gerede über nachhaltiges Bauen noch zu den Phrasen von einer Smart City. Sie bedeutet eine Verschwendung von Rohstoffen und Energie –sowie ein baukulturelles Armutszeugnis. Alle Umwelt- und Technologiezertifikate, die sich die Immobilienbranche für ihre Neubauten selbst ausstellt, ändern nichts am ökologischen und urbanistischen Schaden, den Wirtschaft und Politik unbeirrt anrichten.

5. August 2017 Spectrum

Baugruppe im Vierkanter: Alle daheim

Ein mehr als 500 Jahre alter Vierkanter wurde zur Heimstatt einer Baugruppe – und so vor dem Verfall gerettet. Das Atrium in der Mitte dient als Dorfplatz, wo sich Erwachsene zum Kaffeetrinken und Kinder zum Spielen treffen: gelungenes Gemeinschaftswohnen in Garsten bei Steyr.

Genau 12.976 Vierkanthöfe gibt es in Oberösterreich sowie im angrenzenden niederösterreichischen Mostviertel. Sie zeugenvon einst wohlhabenden Bauern im Flach- und Hügelland ob und unter der Enns. Heute stehen viele mehrheitlich leer und dienen ihren Eigentümern nach Aufgabe der Landwirtschaft nur noch als viel zu große Wohnhäuser. Selbst diese Funktion hatte der 1459 erstmals urkundlich erwähnte Hof „Mayr auf der Wim“ in Garsten bei Steyr vor rund 25 Jahren verloren. Der zweigeschoßige Komplex von 54 Meter Länge und 30 Meter Breite, der auf einem Hügel über dem Ortszentrum thront und in der Achse der barocken Stiftskirche steht, war fortan dem Verfall preisgegeben – zum Missfallen des Bürgermeisters wie auch des Bistums Linz, dem der Gutshof gehört, den kein Landwirt mehr pachten wollte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Wirtschaftlichkeit, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte.

Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-Jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, zumal die historische Hofform ziemlich genau jenem Typus entspricht, den er schon drei Dutzend Male neu errichtet hat. Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen 1970er-Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschoßige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen. Denn die Reihenhäuser sind über das Atrium erschlossen, sodass man sich über den Weg läuft, wann immer man die eigenen vier Wände verlässt. Ohne vorherige Verabredung spielen Kinder hier miteinander, kommen Erwachsene ins Gespräch oder trinken gemeinsam Kaffee. Sobald sich daraus Freundschaften entwickelt haben, trifft man sich im Atrium, um zu grillen, Geburtstage zu feiern, Konzert- und Filmabende zu veranstalten, gemeinsam zu turnen oder zu tanzen.

Der Vierkanter in Garsten, stand für Fritz Matzinger rasch fest, bot genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschafträume zu realisieren. Der Innenhof wiederum war für ein attraktives Atrium wie geschaffen. Und da der Architekt seit Langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich, da in einem landwirtschaftlichen Objekt nur bis zu vier Wohnungen möglich gewesen wären. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Anschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Einen jüngeren, baulich minderwertigen Trakt musste Fritz Matzinger indes komplett ersetzen. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt: So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den 20 ein- und zweigeschoßigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und das nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit der Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten. So stützte Matzinger ein eingeknicktes Barockgewölbe mit vier restaurierten gusseisernen Säulen aus dem abgetragenen Pferdestall ab – und gab dem Wohnraum damit eine ganz spezielle Erscheinung.

Besondere Hinwendung erfuhr der Freiraum, dessen Begrünung wenige Wochen nach Bezug des Hauses freilich erst am Beginn steht: Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoß direkt über Laubengänge und Außentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonetten auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch auch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoß Sonne von Süden erhalten. Im Atrium erschließt eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer.

Das Herz der Anlage ist aber das 30 mal 15 Meter große Atrium, das in seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen wird. Der Pool ist für Fritz Matzinger ein zentraler Bestandteil seines Konzepts, da auch er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt. Des Weiteren finden sich im Hof eine Gemeinschaftsküche mit einem großen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde sprießen werden und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln sollen. Bereits jetzt offenbart die intensive Nutzung des gemeinsamen Freiraums die soziale Dimension von Matzingers Modell, die für den Architekten im Vordergrund steht: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, alleinstehenden, alten oder behinderten Menschen – ist bei dieser Wohnform so gut wie ausgeschlossen.

8. Juli 2017 Spectrum

Wie man aus nichts Gold macht

Feudalherren vergaben Grund und Boden, heutige Machthaber widmen sie: Auch dadurch lässt sich immenser Reichtum schaffen. Fällt es der Politik deshalb so schwer, gerade beim Planen und Bauen etwas von ihrer Souveränität abzugeben? Eine Tour d'Horizon vom Neusiedler See bis zum Brenner.

Ein Grundstück ist nur so viel wert, wie man darauf bauen kann. Und wie viel das ist, bestimmt die Politik. Nun gibt es Staaten, wo Bürgermeister, Landes-, Stadt- und Gemeinderäte – im Wissen um ihre fachliche Inkompetenz – ihren planungspolitischen Entscheidungsspielraum freiwillig einschränken, um willkürlichen Flächenwidmungen oder unbedachten Baugenehmigungen vorzubeugen: durch übergeordnete Pläne, die einen langfristigen Rahmen für Veränderungen vorgeben, durch Gremien mit unabhängigen Experten, deren Zustimmung für heikle Projekte erforderlich ist – oder durch aktive Einbindung der Bevölkerung, um so eine demokratische Legitimierung und Kontrolle der Planungspolitik zu gewährleisten.

In Österreich ist solches, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht der Fall. „Dorfkaiser“, „Landesfürst“ oder „Operettenrepublik“ sind nicht umsonst gängige Synonyme für unser politisches System und seine Repräsentanten – und deuten auf ein mitunter recht feudales Amtsverständnis hin, das besonders in Planungs- und Bauangelegenheiten zutage tritt.

Von einer „erstarrten Halbdemokratie“ sprach denn auch der 2007 verstorbene Schauspieler und Politaktivist Herbert Fux, der seinen Unmut über das autokratische Gebaren heimischer Regenten künstlerisch als Ideengeber und Hauptdarsteller der sechsteiligen ORF-Politsatire „Ein idealer Kandidat“ verarbeitete. Politisch engagierte sich das Enfant terrible der heimischen Grünbewegung, das im Salzburger Gemeinderat wie auch im Nationalrat saß, in mehreren Bürgerinitiativen, die im damals von Korruption, Planungs- und Bauskandalen gebeutelten Salzburg sowie später auch in Wien für einen anderen, transparenteren Umgang mit der Stadt auftraten. Zu verführerisch war und ist es für Volksvertreter offenbar, mit einem Federstrich im Flächenwidmungsplan eine wertlose Parzelle über Nacht in eine Goldgrube verwandeln zu können.

Wenn etwa – wie beim Wiener Millennium Tower – ein Grundstück inmitten eines Stadtteils mit fünfgeschoßigen Häusern plötzlich mit 50 Geschoßen bebaut werden darf, steigt der Grundstückswert um das Zehnfache, ohne dass nur ein Cent investiert werden musste. Wenn öffentliche Verkehrsbetriebe den Standort auf politisches Geheiß noch durch eine neue U-Bahn- und S-Bahn-Station aufwerten, haben der Bürgermeister und der zuständige Stadtrat mithilfe ihrer Gemeinde- und Bezirksräte den Grundeigentümer zum Multimillionär gemacht. Solche Machtfülle kommt einer Lizenz zum Gelddrucken gleich – mit dem Vorteil, die Konsequenzen nicht einmal selbst tragen zu müssen. Denn während eine zügellose Ausweitung der Geldmenge zu hoher Inflation, einer Destabilisierung der Wirtschaft und meist auch politischen Umbrüchen führt, bleibt die ungehemmte Ausweitung individueller Baurechte für die Verantwortlichen folgenlos. Destabilisierend wirken die Preisgabe von Gleichheit und Transparenz freilich auf die Demokratie – welche ausgerechnet von der Planungspolitik ständig im Munde geführt wird.

15 Jahre ist es beispielsweise her, dass die Wiener Stadtregierung den Verein „Lokale Agenda 21 in Wien zur Förderung von Bürgerbeteiligungsprozessen“ ins Leben gerufen hat. Dem internationalen Trend folgend, sollte die Bevölkerung die Möglichkeit erhalten, ihren Bezirk im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mitzugestalten. Was nach einer Demokratisierung der Stadtteilplanung klang, erwies sich zunehmend als Partizipationstheater für engagierte Bürger, die hier einen Baum und dort eine Sitzbank diskutieren und teils auch realisieren durften, sonst aber bei Nachbarschafsfesten, Innenhof-Picknicks oder Grätzel-Flohmärkten das Gefühl bekommen sollten, auf Augenhöhe mit der Rathaus- und Bezirkspolitik die Geschicke ihres Viertels zu lenken. Dass der damalige Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, sich selbst zum Obmann des Agenda-Vereins gekürt hatte, wirkte bald nicht mehr als Zeichen seiner besonderen Hinwendung zur Bürgerbeteiligung, sondern als Garantie dafür, dass nichts aus dem Ruder läuft.

Zur Nagelprobe für die Ernsthaftigkeit des Agenda-Gedankens in der machtverwöhnten Wiener SPÖ wurde ein hoch subventioniertes Tiefgaragenprojekt, das die Stadt im Bacherpark, im grünflächenarmen Margareten, forcierte. Denn Gutachter der TU Wien entkräfteten die kolportierte verkehrsplanerische Notwendigkeit des Vorhabens, ein Rechnungshofbericht offenbarte die öffentliche Investition als ein Geschenk an den privaten Garagenbetreiber, und 2000 Anwohner protestierten schriftlich gegen die dafür nötige Rodung alter Bäume in ihrem Park: an sich ein Konfliktfall, der wie geschaffen schien für einen demokratischen Aushandlungsprozess zwischen Politik und lokaler Bevölkerung. Tatsächlich aber wurde das Thema von den Partizipationsexperten des Agenda-Büros ausgespart, zumal ihre Arbeit einer politischen Steuerungsgruppe unterlag – und finanziell vollständig vom Rathaus und der Bezirksverwaltung abhing.

Als im Jänner 2006 die ersten Bäume gefällt wurden, besetzten Anrainer trotz winterlicher Temperaturen den Park, bis die Stadt drei Monate später einzulenken begann. Dies war die Geburtsstunde der „Aktion 21“, einer unabhängigen Plattform von inzwischen 101 Bürgerinitiativen allein aus Wien, wovon bezeichnenderweise ganze 93 dem Bereich Planen und Bauen zuzuordnen sind.

Dabei war die „Lokale Agenda“ nicht der einzige Versuch der Stadtregierung, ihrer Planungskultur ein zeitgemäßes, demokratisches Antlitz zu geben. Die 2005 verabschiedete „Wiener Architekturdeklaration“ definierte öffentlichkeitswirksam „Diskursbereitschaft“, „Transparenz in Leitbildern, Zielen und Verfahren“ sowie „Qualität beim Planen und Bauen“ als Maxime von Wiens Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur.

Aufmerksame Beobachter hatten schon damals ihre Schwierigkeiten, dies geduldige Papier mit dem realen Baugeschehen in Übereinstimmung zu bringen: Zu dieser Zeit entstand gerade der spekulative Stadtteil Monte Laa direkt über der Südosttangente, wo kein übergeordnetes Planungskonzept je ein neues Subzentrum vorgesehen hatte. Doch besaß der rathausnahe Baukonzern Porr zu beiden Seiten der A23 ein großes Grundstück, für das es keine betriebliche Verwendung mehr gab – und für das bei der Stadt eine Hochhauswidmung erwirkt werden konnte.

In den Jahren darauf folgten mehrere fragwürdige Projekte, deren planerische und bauliche „Qualität“ keinem fachlichen „Diskurs“ standgehalten hätten – auch weil die „Transparenz“ der ihnen zugrunde liegenden Leitbilder und Verfahren so sehr im Argen lag, dass sich vor allem der Rechnungshof dafür interessierte.

Ob dies an der Architekturdeklaration selbst oder an ihrer Umsetzung lag, sei dahingestellt. Das Stadtplanungsressort, inzwischen von der SPÖ zu den Grünen gewandert, ließ das Papier jedenfalls von 2012 bis 2014 zu „Baukulturellen Leitsätzen der Stadt Wien“ weiterentwickeln. In diesen Zehn Geboten der Planungspolitik finden sich gleich dreimal der Begriff „Qualitätsorientierung“, zweimal das Wort „Transparenz“ und je einmal – wie könnte es anders sein – „Bürgerbeteiligung“ und „öffentlicher Diskurs“.

Im selben Zeitraum legte das Rathaus unter Missachtung sämtlicher Kriterien eines fachlich seriösen, nachvollziehbaren und partizipativen Planungsprozesses den Grundstein dafür, dass das Thema Stadtplanung seit Monaten in aller Munde ist, ja für mehr Aufregung und Empörung sorgt als je zuvor: Das mittlerweile österreichweit bekannte und selbst im Ausland wahrgenommene Hochhausprojekt eines schillernden Risikokapitalanlegers im Unesco-geschützten historischen Zentrum veranlasste die Stadt frühzeitig zu einem – wie der Investor es nannte – „Commitment“, sein Vorhaben umzusetzen, ohne über urbanistische Konzepte für diesen Standort zu verfügen.

Während ein solcher Mangel an fachlichen Entscheidungsgrundlagen andernorts die Beurteilung eines Bauvorhabens verunmöglichen würde, bedeutet das Fehlen übergeordneter Pläne in Wien eine Maximierung des politischen Handlungsspielraums. Denn wenn es keine verbindlichen Vorgaben gibt, ist prinzipiell alles möglich – es muss nur noch gerechtfertigt werden. Dazu dienten dem Rathaus vier Planungsworkshops mit rund 50 Fachleuten, aber auch Laien, die sich indes weniger mit den städtebaulichen Anforderungen des Standorts als mit den kommerziellen Anforderungen des Investors auseinandersetzten.

Obwohl sich zahlreiche Experten hernach von diesem Prozess distanzierten, wurde er zur stadtplanerischen Absegnung des Vorhabens instrumentalisiert. Als nächsten Schritt ließ man, um den Geruch einer beliebigen Einzelentscheidung zu zerstreuen, einen Masterplan für die ganze Ringstraßenzone entwerfen, der dem Projekt nachträglich einen höheren, gesamtstädtischen Sinn verlieh. Und es wurde ein neues Hochhauskonzept verfasst, zumal das bis 2014 gültige Papier Türme in der Weltkulturerbe-Zone untersagt hätte.

Im schon zuvor abgehaltenen Architekturwettbewerb spielten die Vorgaben des Welterbe-Komitees keine besondere Rolle, da die rot-grüne Stadtregierung sich und der Öffentlichkeit unentwegt einredete, ein dermaßen vorbildlich entwickeltes Hochhaus müsse die Unesco geradezu begeistern.

Tatsächlich brüskierten die planungspolitischen Ablenkungsmanöver die Unesco (die hat dieser Tage prompt das Wiener Welterbe auf ihre Rote Liste gesetzt) ebenso wie Denkmal- und Stadtbildschützer, unabhängige Architekten und Planer, Künstler und Intellektuelle, die gesamte Gemeinderatsopposition sowie jeden kritischen Bürger – vor allem, wenn er selbst schon einmal beim Magistrat um eine minimale Abweichung von den Bauvorschriften angesucht hat.

Je mehr die öffentlichen Zweifel an der Rechtschaffenheit der Projektbefürworter wuchsen, umso fadenscheiniger wurden deren Argumente. Und es wirkt geradezu zynisch, dass sich Planungsstadträtin Maria Vassilakou ihren neu entwickelten „Masterplan Partizipation“ ausgerechnet Ende 2016 vom Gemeinderat absegnen ließ – wenige Wochen nachdem sie und Bürgermeister Michael Häupl in demonstrativer Eintracht mit dem Investor und gegen alle Proteste die endgültigen Pläne für das Hochhaus präsentiert hatten.

„Die Wiener Stadtplanung hat sich mit dem Masterplan für eine partizipative Stadtentwicklung zum Ziel gesetzt, die Kommunikation zwischen Bevölkerung, Magistrat, Politik und Projektwerbenden bei städtebaulichen Vorhaben zu verbessern sowie die Nachvollziehbarkeit von städtebaulichen Vorhaben für alle interessierten Wienerinnen und Wiener zu gewährleisten“, steht in dem fünfseitigen Papier, das eher wie eine Zurechtweisung übereifriger Bürger anmutet. Denn allem voran geht es darum, zu klären, wann Beteiligung möglich ist – und wann nicht.

Das Ziel von Partizipation nach Wiener Spielart ist bezeichnenderweise nicht die Verbesserung des Planungsergebnisses, sondern dass „weniger Konflikte und mehr gegenseitiges Verständnis“ entstehen – Verständnis für die Entscheidungen der Politik. „Akzeptanzmanagement“ nennt das der deutsche Kultursoziologe Thomas Wagner, oder auch „Akzeptanzbeschaffung“. In seinen Büchern „Demokratie als Mogelpackung“ und „Die Mitmachfalle“ entlarvt er solcherart Umgang mit bürgerschaftlicher Teilhabe als politischen Missbrauch. Sind Beteiligungsprozesse nicht ergebnisoffen und die Bürger ohne Entscheidungsmacht, so sei Partizipation laut Wagner bestenfalls eine soziale Befriedungstechnik.

Dem entsprechen die „zentralen Methoden“ im „Masterplan Partizipation“: „Informationsausstellungen mit persönlicher Beratung“ klingen angesichts der Wiener Unschärfe zwischen planerischen Fakten und planungspolitischer Propaganda eher nach PR als nach Offenheit und Transparenz. „Moderierte Diskussionen“ scheinen in der Tradition jener Veranstaltungen zu stehen, die grundsätzliche Debatten und kontroversielle Streitgespräche tunlichst verhindern sollen.

Und auch „Befragungen“ wecken wenig Hoffnung, dass Bürger in Hinkunft mehr Einfluss auf die Stadtplanung nehmen können – auch wenn der Masterplan verspricht, sie hernach „über die Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens und deren Auswirkung auf die weitere Planung zu informieren“. Allein dies betonen zu müssen zeigt, wie beschämend weit Wien hinter den internationalen Standards der Partizipation hinterherhinkt.

Nicht einmal die gesetzlich verankerten Bürgerrechte werden von der Planungspolitik ernst genommen. So sieht die Wiener Bauordnung eine sechswöchige öffentliche Auflage jedes Neuentwurfs zum Flächenwidmungs- und Bebauungsplan vor, während der die Bürger Stellungnahmen abgeben können, die vom Magistrat zu berücksichtigen sind. Der Planentwurf für das umstrittene Hochhausprojekt an der Grenze zwischen erstem und drittem Bezirk wurde am 2. Februar dieses Jahres veröffentlicht, doch schon am 2. März, zwei Wochen vor Ablauf der Einspruchsfrist, wollte der SPÖ-dominierte dritte Bezirk seinen Beschluss zur Flächenwidmung fällen. Auf öffentlichen Druck hin wurde die Sitzung doch noch vertagt, die 570 eingelangten Stellungnahmen gegen das Projekt spielten aber auch später keinerlei Rolle: Die Planungsbehörde hatte ihren Entwurf trotz der Vielzahl an Einsprüchen um kein Deut verändert – und in ihren standardisierten Antwortschreiben durch nichts auf die Bedenken der Bürger Bezug genommen.

Sich Sachthemen so zurechtzulegen, dass sie den parteipolitischen Interessen entsprechen, geht Hand in Hand damit, Demokratie, Transparenz, Gesetze und Verordnungen so auszulegen, wie es gerade passt. Dabei ist Wien natürlich nicht die Ausnahme, sondern vielmehr der Regelfall in Österreich, egal welche Partei wo gerade regiert. Willkür, für die Politik folgenlose Willkür, ist im heimischen Flächenwidmungsmonopoly gang und gäbe: Das Land Niederösterreich etwa beschloss mit der Novellierung seines Raumordnungsgesetzes 2005, dass Handelsbetriebe nur noch in den Zentren beziehungsweise im geschlossenen Ortsgebiet von Städten und Dörfern entstehen dürfen. Zweieinhalb Jahre später genehmigte die Landesregierung sieben Kilometer außerhalb von Gerasdorf ein 70.000 Quadratmeter großes Einkaufszentrum zur Freude der dahinterstehenden Bank.

Es handelte sich um eine „Übergangsregelung“: 2010 erfolgte der Baubeginn, 2012 die Eröffnung. Um das planungspolitische Gesicht zu wahren, wurde das fünftgrößte Einkaufszentrum Österreichs einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, die dem Investor ökologische Ausgleichsmaßnahmen für die Haubenlerche und das Wiener Nachtpfauenauge auferlegte – bei gleichzeitiger umweltpolitischer Akzeptanz von mehr als 40.000 zusätzlichen Kfz-Fahrten pro Tag.

In der Steiermark brauchte es das Engagement der Volksanwaltschaft, um aufzuzeigen, worüber die Landesregierung jahrelang geflissentlich hinwegsah, nämlich dass die 2003 eröffnete Shopping City Seiersberg südlich von Graz geltendem Raumordnungsrecht widersprach. 2016 hob der Verfassungsgerichtshofs daher die Betriebsgenehmigung für das Einkaufszentrum auf – was das Land jedoch nicht dazu nutzte, die systematische Rechtsbeugung durch die Gemeinde Seiersberg spät, aber doch zu sanktionieren. Im Gegenteil: Durch den politischen Winkelzug einer raschen Gesetzesnovelle wurde der hochprofitable Schwarzbau rückwirkend legitimiert.

Im oberösterreichischen Gmunden hofierte die Kommunalpolitik vor drei, vier Jahren einem regionalen Schotterbaron, der die Absicht hatte, gegenüber der Altstadt einen aufsehenerregenden, 32 Meter hohen Hotel- oder Apartmentturm zu errichten – und zwar nicht am, sondern gleich im Traunsee. So dreist das spekulative Luxusprojekt auch erschien: Wie immer fanden sich prominente Architekten, die bereit waren, es zu planen und vollmundig zu rechtfertigen.

Die Einschätzung der Fachbeamten in Linz war freilich eine andere. Sowohl Natur- und Landschaftsschutz als auch Umweltanwaltschaft und Raumordnung äußerten schwerwiegende Bedenken. Dies focht die Landespolitik aber keineswegs an, dem Bau ihre Zustimmung zu erteilen, sprachen die – nie überprüften – wirtschaftlichen Argumente doch dafür. Der damalige Landeshauptmann wollte dem gut bekannten Investor angeblich sogar mit einer millionenschweren Förderung unter die Arme greifen, was eine Bürgerinitiative durch Einschaltung der EU-Wettbewerbsbehörde aber zu verhindern wusste. Derzeit ist der Turm im See vom Tisch, ähnliche Vorhaben liegen aber in den Schubladen.

Im burgenländischen Neusiedl werden sie bereits gebaut: luxuriöse Zweitwohnsitze, teils am, teils im See, obwohl das dauerhafte Bewohnen der Uferzone – noch dazu im Unesco-Welterbe-Gebiet – eigentlich untersagt ist. Auch diesmal mit im Boot: ein unternehmerfreundlicher Bürgermeister und ein geschäftstüchtiger Architekt. Ihr Konzept erlaubt es, die hinderlichen Auflagen von Raumordnung und Umweltschutz zu umgehen und betuchten Wienern ein Eigenheim mit direktem Zugang zum Wasser zu ermöglichen. Denn die 22 Seehäuser werden flächenwidmungskonform als Teil einer Hotelanlage errichtet – die einzelnen Apartments dann aber an die „Hotelgäste“ verkauft. Manche nennen das Etikettenschwindel, manche nennen es Betrug. Die Bußgelder für derlei Abweichungen von rechtsgültigen Plänen wären jedenfalls so gering, dass sie bei kolportierten Kaufpreisen von rund einer Million Euro pro Haus nicht ins Gewicht fielen.

Was am lauen Steppensee im Osten des Landes aufgeht, funktioniert in der schneebedeckten Berglandschaft weiter westlich allemal. Dort heißen die verkappten Zweitwohnsitze „Alpine Chalets“. Ab 700.000 Euro kann man etwa auf der Reiteralm in Schladming eines von 13 luxuriösen „Beherbergungsobjekten“ direkt an der Skipiste kaufen – und laut Makler frei entscheiden, wie viel Zeit man selbst in seinem Chalet verbringen will und wann (ob) man es vermietet. Am Tiroler Brenner ist man bereits ab 370.000 Euro mit dabei. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, im Wesentlichen geht es aber immer um dasselbe: Politische Entscheidungsträger nutzen ihre Planungskompetenz weidlich, um enorme Werte zu schaffen – die freilich meist nur wenigen zugutekommen.

Kaum einmal landen solche Fälle vor einem Gericht. Und auch die vierte Gewalt im Staat ist nur selten dazu bereit, planungspolitische Missstände so lange anzuprangern, bis die Verantwortlichen Konsequenzen ziehen. Schließlich lebt das Gros der heimischen Medien von Inseraten auch aus der Bauwirtschaft, des Einzelhandels sowie von Banken und Versicherungen mit ihren Immobilienfonds.

Umso wichtiger wären die Bürger als Korrektiv in der Planung, doch würde es noch lange dauern, bis die heimische Politik sie dazu einlädt. Wir werden uns schon selbst in die Entscheidungsprozesse hineinreklamieren müssen – nicht zwingend, um unsere Städte und Dörfer aktiv mitzugestalten, aber sehr wohl, um der Gleichheit und der Gerechtigkeit jenen Stellenwert zu verschaffen, den die Demokratie ihnen zugedacht hat.

20. August 2016 Spectrum

See? Stadt? Möglich!

Seestadt Aspern, Wiens städtebauliches Prestigeprojekt, ist zu einem Drittel fertig. Klassische Defizite anderer Neubauviertel scheinen zwar überwunden. Doch umso klarer treten grundsätzliche Probleme der Wiener Stadterweiterung zutage. Eine Zwischenbilanz aus Aspern.

Das ist der See?“, hört man immer wieder Besucher verwundert fragen, die an der Endstation der Linie U2 aus der U-Bahn steigen und erstmals auf das vor ihnen liegende Gewässer schauen, das dem neuen Stadtteil seinen Namen gibt. Dafür, dass die Seestadt Aspern von Beginn an vor allem mit der Attraktion „Leben am Wasser“ warb, liegt der erste Anschein des Baggerteichs tatsächlich etwas unter den hochgeschraubten Erwartungen. Zugegeben, andere Stadterweiterungsgebiete haben auch so etwas nicht – und man muss dem See, genauso wie der Stadt, wohl noch etwas Zeit geben, sich zu entwickeln. In manchen Uferzonen wird bestimmt noch üppigeres Grün wachsen. Dort, wo rostige Stahlplanken oder grober Schotter das Wasser vom Land trennen, dürfte der spröde Charakter allerdings bleiben.

Dabei ist der See keineswegs das einzige Alleinstellungsmerkmal Asperns unter den Neubauvierteln Wiens: Sobald man aus dem U-Bahn-Gebäude heraustritt, trifft man auf eine von mehreren Leihrad-Stationen in der Seestadt, wo sogar E-Bikes entnommen werden können. Was durchaus seinen Sinn hat, zumal die Bauten der ersten von drei Entwicklungsetappen doch ein Stück weit weg, am südwestlichen Rand des insgesamt 240 Hektar großen Areals, liegen. Jedenfalls kann das Viertel mit Fug und Recht von sich behaupten, Wiens erster wirklich fahrradfreundlicher Stadtteil zu sein. Aspern, mitgeplanten 20.000 Bewohnern und 20.000 Beschäftigten eines der momentan größten Städtebauprojekte Europas, soll ja eine SmartCity werden – da gehört umweltverträgliche Mobilität einfach dazu. Und auch sonst will man hier, am nordöstlichen Ende Wiens, vieles besser machen als in den übrigen Stadterweiterungsgebieten. Das wäre dann allerdings eine ganze Menge.

Denn ungeachtet aller Verheißungen der verantwortlichen Politiker, Planer und Investoren zeigen die Neubauquartiere der vergangenen 20, 30 Jahre großteils banale Aneinanderreihungen des Immergleichen:ganze Viertel mit ein und derselben Nutzung, abweisende Sockelzonen, autogerechte Straßenräume vor den Wohnblöcken, unbrauchbare Grünräume innerhalb der Wohnblöcke. Auch als Folge dessen, dass sich die Planungspolitik meist nachBeschluss des Bebauungsplans aus der Stadtteilentwicklung zurückzog unddie Realisierung den Bauträgern überließ. Auch als Quittung dafür, dass dieWohnbaupolitik ihre Subventionen von jährlich 300 Millionen Euro kaum an städtebauliche Qualitätsanforderungen knüpfte. – Dass es am früheren Flugfeld Aspern nun anders laufen soll, ist freilich nicht nur der Erkenntnis bisheriger Mittelmäßigkeit, sondern auch einer gewissen Not geschuldet. Denn nachdem die Stadt Wien nach der Ostöffnung das inzwischen wieder landwirtschaftlich genutzte Gelände angekauft hatte, das erwartete Bevölkerungswachstum aber fürs Erste ausgeblieben war, sträubten sich die Wohnbauträger jahrelang, den abgelegenen Standort zu besiedeln.

So sah sich das Rathaus gezwungen, den drohenden Ladenhüter Aspern mit erhöhtem Aufwand zu entwickeln: mit Vorleistungen wie der U-Bahn und dem See samt Park; mit einer mehrheitlich öffentlichen Entwicklungsgesellschaft, der Aspern Development AG, die vom Projektbeginn bis zur geplanten Fertigstellung 2030 die Gesamtverantwortung für das Werden der Satellitenstadt trägt; durch ein Quartiersmanagement zur Unterstützung sozialer Prozesse unter den Bewohnern; oder auch durch die medienwirksame „Eventisierung“ des Standorts.

Ein, zwei Jahre nach Fertigstellung derersten 2900, mehrheitlich geförderten Wohnungen samt Nahversorgung und Schule sowie zweier Gewerbebauten ist der Unterschied zu anderen Neubauvierteln tatsächlich augenfällig. Hier wurde nach langer Zeit wieder einmal Städtebau statt bloß Siedlungsbaubetrieben – in struktureller wie gestalterischer Hinsicht. So sind die Hauptstraßen keine unwirtlichen Verkehrsschneisen, sondern das stadträumliche und kommerzielle Rückgrat der Seestadt. Dies zeigt sich am überzeugendsten in der quer durchs Gebiet laufenden Maria-Tusch-Straße: Der vorstädtische Boulevard bietet auch Autos Platz, ist vor allem aber ein urbaner Freiraum mit Aufenthaltsqualität. Zu beiden Seiten sind die großzügigen Erdgeschoße fast durchgehend von Händlern, Dienstleistern undGastronomen genutzt. Deren Vielfalt ist für Wiener Stadtentwicklungsgebiete völlig unüblich und alles andere als ein Zufall: Im Zuge der Grundstücksvergabe wurde mit den Bauträgern unter anderem dieAusformung der Sockelzonen vertraglich vereinbart. Die Aspern Development AG und ein privater Partner aus dem Einzelhandel bestellten sozusagen maßgeschneiderte Ladenflächen, die sie den Errichtern für mindestens zwölf Jahre abnahmen und, basierend auf ihrem Nahversorgungskonzept, an interessierte Betreiber weitergaben. Dabei richten sich die Mieten nicht nach dem Marktwert der Lokale, sondern danach, was die erwünschten Branchen in der Lage sind zu zahlen.

Auch abseits der Hauptstraßen ist das Bemühen um eine gewisse Nutzungsmischung offensichtlich. Eine Buchhandlung, ein Süßwarengeschäft, eine Computer-Servicestelle oder ein Kosmetiksalon überraschen an unvermuteten Stellen. Und wo die Standorteignung für kommerzielle Zwecke nicht reicht, wurden etliche Erdgeschoße von Wohnbauten durch Kindergruppen, vor allem aber durch „Wien Work“ angemietet: Das gemeinnützige Unternehmen schafft in der Seestadt Jobs für behinderte, chronische kranke oder langzeitarbeitslose Menschen und verteilt seine Arbeitsstätten dezentral über das gesamte Gebiet. Dies belebt ansonsten öde Zonen und bereichert die Nahversorgung um Angebote wie eine Näherei, eine Textilreinigung oder kleine Werkstätten.

Das Gros der Häuser hier genügt nicht einfach sich selbst, sondern trägt zur Ausformung von Straßenräumen bei. Und anstatt wie andernorts beziehungslos nebeneinanderzustehen, bilden viele Objekte wahrnehmbare Quartiere. In deren Mitte finden sich Plätze, die verkehrsfrei gestaltet sind, und an deren Rändern öffentliche Grünräume. Gleichwohl kann die urbane Qualität bei jedem Blick ums Eck wieder abreißen – und das städtebauliche Bemühen durch altbekannte Wiener Schwächen konterkariert werden. Auch in der Seestadt gibt es Seitengassen, die vor allem als Parkspur dienen, mit Häusern, deren Sockelzonen von Garagenausfahrten und Müllräumen bestimmt werden.

Die größten Defizite jedoch zeigen sich in den Innenbereichen der Wohnblöcke – ungeachtet erfreulicher Ausnahmen wie zweier Höfe, die mit Schwimmbädern ausgestattet wurden: Seit Jahren schon ist es in Wiens Städtebau en vogue, die Blockrandbebauung aufzubrechen, um eine höhere Durchlässigkeit zu erzeugen, ohne dass die Vor- und Nachteile je ernsthaft diskutiert wurden. Unbestritten verlieren die Grünhöfe dadurch ihren geschützten Charakter und werden Teil des Stadtraums. Gleichzeitig aberhalten die Bauträger daran fest, die ebenerdigen Wohnungen hofseitig mit Mietergärten oder Terrassen auszustatten, was auch in Aspern zum direkten Aufeinanderprallen privater und faktisch öffentlicher Freiräume führt – mit oft grotesken Abgrenzungsversuchen der Erdgeschoßbewohner gegenüber Einblicken Fremder.

Bei jenen Blöcken, wo sich eine Garage oder ein Supermarkt unter dem offenen Innenhof verbergen, braucht es an den Übergängen zur Straße aufwendige Treppen,Rampen und Böschungen, um den Niveauunterschied zur Straße barrierefrei zu überwinden. Dies kostet nicht nur Geld, sondern auch einen Teil des ohnehin knappen Grüns. Die Gebäudekubaturen, die an den Öffnungen des Blockrands verloren gehen, werden meist durch Verbauung des Blockinneren kompensiert – was einerseits den Grünraum noch weiter be- und zerschneidet und andererseits teils indiskutable Belichtungssituationen zwischen den frei stehenden Baukörpern erzeugt: Manche Asperner schauen von ihren Wohnungen in nur zwei Meter Entfernung den Nachbarn zum Fenster hinein – oder frontal auf eine kahle Wand. Es bleibt der Verdacht, dass die Fragmentierung der Blöcke vor allem dazu dient, für Bauträger dieBebauungsdichte und für Architekten den Gestaltungsspielraum zu erhöhen.

Das Bedürfnis nach Extravaganz ist unter Wiens Baukünstlern zweifellos stark verbreitet, ungeachtet der limitierten Errichtungskosten im geförderten Wohnbau. Auch in Aspern stehen Häuser ohne auch nur eine senkrechte Mauer vom Boden bis zur Traufe. Aufgeständerte Gebäudeteile, unmotivierte Schrägen und massive Auskragungen der oberen Geschoße ergeben in Summe einen höchst unruhigen Stadtraum – und auch nur selten bessere Architektur. Im Gegenteil: Die Vorsprünge und Überhänge beschatten und entwerten die darunterliegenden Stockwerke und machen den Wohnbau in Zeiten schwindender Finanzierbarkeit noch teurer. Ohnehin kleine Balkone werden in ihrer Größe und Nutzbarkeit beschnitten, weil sie trapezförmig avantgardistischer anmuten als rechtwinkelig. Dieselben Architekten, die für den humanen und effizienten Wohnbau der Zwanziger- und Dreißigerjahre schwärmen, missverstehen ihre Aufgabe im heutigen Sozialwohnungsbau teilweise als formales Experiment.

Wie ein solcher Irrtum wirkt zum BeispielAsperns Slim City mit ihren 13 aufs Baufeld gewürfelten, bis zu acht Geschoßen hohen Häusern. Ihre dichte Staffelung scheint die Sonne absichtlich aus vielen Wohnräumen fernhalten zu wollen und wird von den Architekten, kaum nachvollziehbar, als Neuinterpretation der mittelalterlichen italienischen Stadt argumentiert. Der zerstückelte Hofbereichmit seinen engen Durchgängen gibt ein paarschmalwüchsigen BäumenPlatz, ist ansonsten aber asphaltiert – oder in der Sprache der Architekten eben „urban“. Dass die dreieckigen Balkone auf einer Seite – mitunter auch süd- oder westseitig – durch Betonwände vom Außenraum abgeschirmt werden, entbehrt ebenso jeder Sinnhaftigkeit wie die Vollverkleidung der Laubengänge durch spröde Lochbleche: Während diese Form der Außenerschließungbei anderen Wohnbauten attraktive Aufenthalts- und Kommunikationsbereiche mit Pflanzentrögen, Sitzbänken und Spielgerätenschafft, entfalten die Laubengänge der Slim City den Charme von Fluchtwegen. In den Wohnungen selbst sind zahlreiche Fenster in auffallend kleinen Formaten oder unüblich tiefer Position Ausdruck des Gestaltungswillens der Planer, wonach keines der 178 Apartments einem anderen gleichen soll.

Derartige architektonische Allüren stellen nicht zuletzt die städtische Qualitätsprüfung des geförderten Wohnbaus durch namhafte Juroren und Beiräte infrage. Trotz der Ausweitung ihrer Beurteilungskriterien um soziale Aspekte scheint eine eingeschränkte Benutzerfreundlichkeit kein Versagungsgrund für formalistische Entwürfe zu sein, solange diese etwas Neues, noch nie Dagewesenes versprechen. Bewertet wird genauso die Qualität der Freiraumgestaltung – und auch hier zeigt die Seestadt, dass Nutzbarkeit offenbar nicht zu den wichtigsten Kriterien zählt. Kaum ein Innenhof in Aspern findet mit einem ebenen Stück Rasen, ein paar Gartenbeeten und Bäumen das Auslangen. Als ob die scheinbar unvermeidlichen Garagenentlüftungen nicht schon Störfaktor genug wären, modellieren die Landschaftsplaner das Terrain auf engstem Raum durch Böschungen und Hügel, tragen hier Schotter und dort farbiges Granulat auf, strukturieren mit Holzstegen, Felsbrocken oder auch einer Betonkante die ohnehin knappe Fläche – undsollten doch irgendwo ein paar Quadratmeter zusammenhängenden Grüns übrig bleiben, wird eine Reihe Beleuchtungskörper mitten ins Gras gestellt.

Bezeichnenderweise gibt es in der Seestadt einen Block, der auf all diese bau- und gartenkünstlerischen Auffälligkeiten verzichtet, nämlich jenen, wo fünf Baugruppen ihre Vorstellungen eines lebenswerten Wohn- und Freiraums eigenverantwortlich realisierten. Die um einen gemeinsamen, nutzungsoffenen Grünraum herum gruppiertenHäuser zeigen, was auf den anderen Baufeldern ebenfalls möglich und durchaus finanzierbar gewesen wäre: geräumige Terrassen und Balkone; gemeinschaftliche Dachgärten; helle Treppenhäuser, die sogar als Spielzonen dienen; großzügige Gemeinschaftsräume im Keller-, Erd- und Dachgeschoß für Kinder und Jugendliche, für kulturelle, handwerkliche und sportliche Aktivitäten oder auch zum Kochen, Essen und Feiern; Co-Working-Räume; die Durchmischung nicht nur mit Handels- und Dienstleistungsflächen, sondern auch mit Büros. Politik und Verwaltung, viele Bauträger und deren Planer wären gut beraten, von den Bürgern und den für sie tätigen Architekten zu lernen, wie Wohnbau heuteaussehen sollte.

Für eine zeitgemäße Stadtentwicklung in Aspern kommt dem Rathaus freilich noch eine andere Bringschuld zu. Zwar ist es gelungen, in den Straßen der Seestadt die Dominanz des Autos zu brechen. Und auch das Stellplatzangebot für die Bewohner um 30 Prozent zu reduzieren und nicht mehr wohnungsnah unter jedem Gebäude, sondern gebündelt in sieben Sammelgaragen anzuordnen ist ein wichtiger Schritt zur Emanzipation vom Pkw. Doch soll eine leistungsfähige Straße im Norden der Seestadt den Standort ab 2020 direkt mit Wiens Autobahn- und Schnellstraßennetz verbinden und Aspern damit erst recht wieder zu einem Drive-in-Stadtteil machen, U-Bahn hin, Lastenfahrräder her.

Das Geld dafür wäre besser in die Errichtung zweier Tramwaylinien investiert, der Linien 25 und 26, die der Seestadt von Anfang an versprochen wurden, an die mittlerweile aber immer weniger glauben. Asperns Buslinien wiederum, die nur alle 15 bis 20 Minuten verkehren, könnten eine Verdoppelung ihrer Frequenz gut vertragen – ganz abgesehen von Wartehäuschen an den Stationen, die bis heute im Zukunftsstadtteil fehlen. Eine Smart City zu bauen hieße auch, eingefahrene Strukturen zuzerstören, die es mit derGewista einer privaten Außenwerbungsfirma überantworten, ob Fahrgäste beim Warten auf den öffentlichen Verkehr eine Viertelstunde im Regen stehen odernicht – und es den Wiener Linien erlauben, so zu tun, als gehe sie das alles nichts an.

Es liegt also nicht am Wissen oder Können, sondern allein am Wollen aller beteiligten Akteure, ob sie für die noch bevorstehende Entwicklung der Seestadt die richtigen Konsequenzen aus dem bisher Gebautenziehen, um Wiens Stadterweiterungspraxis weiter voranzubringen. Dies wäre vor allem für die dritte und letzte Etappe nördlich des Sees essenziell, wo auch Hochhäuser und eine generell noch dichtere Bebauung vorgesehen sind, zumal Wien bei dieser Maßstäblichkeit – siehe Donau City, siehe Wienerberg City – bis dato nur urbanistische Bauchlandungen hingelegt hat. Zuvor aber will sich die Stadt mit der zweiten Etappe, in der Aspern nach Osten, zur U-Bahn-Endstation hin, wächst, auf der Bauausstellung IBA 2020 als „internationales Kompetenzzentrum für sozialen Wohnbau“ präsentieren.

Der Zeitraum von nur vier Jahren, den das Rathaus dafür eingeplant hat, deutet nicht darauf hin, dass sich Wien in der Tradition der meist auf ein Jahrzehnt anberaumten Internationalen Bauausstellungen ausreichend Zeit nimmt, um gänzlich neue Lösungen in Architektur und Stadtentwicklung zu finden. Vielmehr scheint es, als ob man die Lösungen schon zu kennen glaubt – und meint, sie im nun folgenden Quartier nur in gewohnter Manier umsetzen zu müssen. Doch sind die in der Seestadt erkennbaren Fortschritte beim besten Willen noch nicht so groß, dass sich der Wiener Städtebau bereits darauf ausruhen sollte.

9. Juli 2016 Der Standard

Mehr als Woh­nen

Bau­grup­pen­pro­jek­te, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­mo­del­le, res­sour­cen­scho­nen­des Bau­en, leist­ba­res Woh­nen: Seit Jahr­zehn­ten prak­ti­ziert Fritz Mat­zin­ger das, was heu­te en vo­gue ist. Ein Ge­spräch zu sei­nem 75. Ge­burts­tag.

Stan­dard: Herr Mat­zin­ger, war das Bun­des­denk­mal­amt schon hier? So ei­nen Ka­non an Far­ben, For­men und Ma­te­ria­li­en aus den 70er-Jah­ren wie in Ih­rem Haus fin­det man heu­te nur noch sel­ten.

Mat­zin­ger: Hier her­in­nen ist noch al­les ori­gi­nal. Aber die Fass­aden wur­den von vie­len Mit­be­wohn­ern im Zu­ge wär­me­tech­ni­scher Sa­nie­run­gen ver­än­dert. Von den bul­lau­ge­nar­ti­gen Fens­tern aus Kunst­stoff­glas bei­spiels­wei­se sind nur noch we­ni­ge üb­rig­ge­blie­ben. Ich freue mich aber viel mehr, wenn Be­su­cher kom­men, die das 41 Jah­re al­te Haus als im­mer noch gül­ti­ges Mo­dell für ei­ne an­de­re Form des Woh­nens be­sich­ti­gen.

Stan­dard: Das heißt, ob­wohl seit Ih­rem Pro­to­typ hier in Leon­ding 35 wei­te­re Bau­ten ent­stan­den, ist das Kon­zept des Atri­um­hau­ses bis heu­te un­ver­än­dert?

Mat­zin­ger: Es gleicht kei­nes dem an­de­ren, al­lein schon, weil je­de Bau­grup­pe, mit der ich pla­ne, ganz ei­ge­ne Vor­stel­lun­gen hat. Im Kern fol­gen aber al­le Häu­ser der­sel­ben Idee. Ich grup­pie­re durch­schnitt­lich acht zwei- bis drei­ge­scho­ßi­ge Wohn­ein­hei­ten um ei­nen ge­mein­sa­men, cir­ca 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Hof. Den nut­zen die Be­woh­ner zum Spie­len, zum Gril­len, für Kon­zer­te, Fes­te, Kin­der­ge­burts­ta­ge oder auch als er­wei­ter­tes Wohn­zim­mer und Win­ter­gar­ten. Das Atri­um hat ei­ne Fuß­bo­den­hei­zung und ist bei Schlecht­wet­ter durch ein Glas­dach ge­schützt. Un­se­re An­la­ge hier be­steht aus zwei sol­chen Wohn­hö­fen, die ich durch ein Schwimm­bad ver­bun­den ha­be. Auch von dort kann man di­rekt hin­aus in den gro­ßen ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten, der sich rund um die bei­den Häu­ser er­streckt.

Stan­dard: Über die Atrien er­folgt auch der Zu­gang zu den Woh­nun­gen.

Mat­zin­ger: Das ist so­gar das Wich­tigs­te da­ran. Denn im­mer, wenn ein Be­woh­ner sei­ne ei­ge­nen vier Wän­de be­tritt oder ver­lässt, geht er über den Hof. Dort be­geg­net man sich au­to­ma­tisch und plau­dert kurz mit­ein­an­der, so wie frü­her am Dorf­platz. Und die­se nie­der­schwel­li­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on möch­te ich för­dern. Sie ist die Ba­sis für ge­mein­sa­me Ak­ti­vi­tä­ten, aus de­nen sich Freund­schaf­ten oder auch ge­gen­sei­ti­ge Nach­bar­schafts­hil­fe wie von selbst er­ge­ben.

Stan­dard: Ist ge­mein­schaft­li­ches Woh­nen auch manch­mal be­en­gend?

Mat­zin­ger: Mei­ne Frau und ich le­ben seit 41 Jah­ren hier. Wir ha­ben noch von kei­nem un­se­rer Nach­barn ge­hört, dass er ei­nen so­zia­len Druck ver­spürt, für an­de­re da zu sein oder auch nur mit ih­nen re­den zu müs­sen. Aber es be­steht im Atri­um­haus so gut wie im­mer die Mög­lich­keit da­zu. Ich ha­be mich vor Jah­ren so­gar da­zu ent­schlos­sen, in ei­ner frei ge­wor­de­nen Woh­nung in un­se­rem Haus mein Bü­ro ein­zu­rich­ten. Das hät­te ich be­stimmt nicht ge­tan, wenn ich hier ei­ne En­ge emp­fin­den wür­de.

Stan­dard: Sie ha­ben das Atri­um­haus ur­sprüng­lich als kin­der­ge­rech­te Wohn­form ent­wi­ckelt. Die Erst­be­zie­her sind mitt­ler­wei­le aber Se­nio­ren.

Mat­zin­ger: Stimmt, mit dem Atri­um woll­te ich in er­ster Li­nie den Kin­dern die Ent­fal­tungs­mög­lich­keit ge­ben, die ih­nen der nor­ma­le Wohn­bau vor­ent­hält. Dort en­det ihr Ak­ti­ons­raum näm­lich an der Woh­nungs­tür. Wenn da­ge­gen acht oder mehr Fa­mi­li­en ge­mein­schaft­lich woh­nen und es ei­nen zen­tra­len Ort für die­se Ge­mein­schaft gibt, dann wird der für die Kin­der fast zum Le­bens­mit­tel­punkt, der im Grun­de so­gar den Kin­der­gar­ten er­set­zen könn­te. Bald hat sich her­aus­ge­stellt, dass die­ses Zu­sam­men­le­ben auch für Er­wachs­ene vie­le Vor­tei­le bie­tet: ge­teil­te Gar­ten­ar­beit, ge­teil­tes Schwimm­bad­put­zen, ge­gen­sei­ti­ges Ba­by­sit­ten, kei­ne Fahr­ten­dien­ste für Ju­gend­li­che, nur da­mit sie sich mit Gleich­al­tri­gen tref­fen kön­nen. Und je mehr Al­lein­er­zie­her es gibt, um­so wert­vol­ler ist es, Vie­les in der Haus­ge­mein­schaft vor­zu­fin­den. Wis­sen Sie, wie prak­tisch es ist, wenn Sie je­man­den im Atri­um tref­fen, der Ih­nen im Vor­beige­hen sagt, dass er kurz ein­kau­fen fährt, und Sie ihn bit­ten kön­nen, dass er Ih­nen ei­nen Li­ter Milch mit­nimmt?

Stan­dard: Vor al­lem im Al­ter …

Mat­zin­ger: Bei den Äl­te­ren mer­ke ich jetzt, dass sie ei­gent­lich die­sel­ben Be­dürf­nis­se ha­ben wie frü­her un­se­re Kin­der: Wer viel zu Hau­se und nicht mehr so mo­bil ist, braucht in sei­nem Um­feld Men­schen zum Re­den, zum Spie­len, um mit­ein­an­der Zeit zu ver­brin­gen. In­so­fern kann das Atri­um­haus auch das Pen­sio­nis­ten­heim er­set­zen. Wo­bei wir kei­ne Se­nio­ren­re­si­denz sind. Es wur­den über die Jah­re auch Woh­nun­gen neu be­legt oder an die Kin­der wei­ter­ge­ge­ben, so­dass wir hier eher ein Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­haus ha­ben.

Stan­dard: Sie ha­ben Atri­um­häu­ser in Ober­ös­ter­reich, Nie­de­rös­ter­reich, Wien, Salz­burg und der Stei­er­mark, aber auch in Deutsch­land rea­li­siert – und über­all be­ste Kri­ti­ken er­hal­ten. Schu­le ge­macht ha­ben Sie da­mit aber nicht. Braucht Ihr Kon­zept Über­zeu­gungs­tä­ter wie Sie, oder könn­te es auch von der Bau­wirt­schaft über­nom­men wer­den?

Mat­zin­ger: Die üb­li­chen Wohn­bau­trä­ger, egal ob ge­werb­lich oder ge­mein­nüt­zig, ma­chen ih­re Ge­schäf­te mit Bli­ckrich­tung auf die Jah­res­bi­lanz, aber nicht mit Bli­ckrich­tung auf Neu­es, In­no­va­ti­ves und schon gar nicht auf die Woh­nungs­wer­ber. Sie ma­chen Wohn­flä­chen­pro­duk­ti­on, und da sind Kon­zep­te wie mei­ne nicht in­te­res­sant – da zäh­len nur die ver­markt­ba­ren Qua­drat­me­ter. Ar­chi­tek­ten wie­der­um dür­fen sich bei Bau­grup­pen­mo­del­len halt nicht als Künst­ler ver­ste­hen. Vie­le Kol­le­gen glau­ben, ih­re Ide­en nicht mehr um­set­zen zu kön­nen, wenn sie im Dia­log mit den Nutz­ern pla­nen. Da­bei ha­be ich die Er­fah­rung ge­macht, dass mei­ne Häu­ser durch die Ge­sprä­che mit den künf­ti­gen Be­wohn­ern im­mer bes­ser wur­den. Wen ich gern für ei­nen neu­en Wohn­bau ge­win­nen wür­de, das ist die Po­li­tik. Die müss­ten ja schon längst nach Al­ter­na­ti­ven zum frei ste­hen­den Ein­fa­mi­li­en­haus su­chen, wenn ich mir an­se­he, was die­se Sied­lun­gen al­les an Stra­ßen, tech­ni­scher Er­schlie­ßung und so­zia­ler Ver­sor­gung kos­ten und da­bei un­se­re Land­schaft zers­tö­ren.

Stan­dard: Die Po­li­tik gibt zu­min­dest vor, mit der För­de­rung von Bau­grup­pen oder ge­ne­ra­ti­ons­über­grei­fen­den Wohn­pro­jek­ten neue We­ge zu ge­hen.

Mat­zin­ger: Das sind aber nach wie vor Son­der­for­men, Aus­nah­men von der Re­gel, die bei uns heißt: Wohn­blö­cke in der Stadt und Ein­fa­mi­li­en­häu­ser am Land. In Deutsch­land und der Schweiz wer­den mitt­ler­wei­le gan­ze Stadt­tei­le von Bau­grup­pen ent­wi­ckelt.

Stan­dard: Viel­leicht müs­sen wir auch in die­sem Be­reich da­rauf hof­fen, dass die über­fäl­li­gen Ver­än­de­run­gen von der Be­völ­ke­rung aus­ge­hen. Se­hen Sie An­sät­ze da­zu?

Mat­zin­ger: Zwei­fel­los ma­chen sich die Woh­nungs­su­chen­den heu­te mehr Ge­dan­ken da­rü­ber, wie sie woh­nen wer­den, wenn sie ein­mal alt sind. Und die Fi­xie­rung aufs Ei­gen­tum ist bei den jun­gen Men­schen auch we­ni­ger aus­ge­prägt. Nicht al­les, was man nutzt, muss man be­sit­zen. Wenn die Kin­der in un­se­rem ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten her­um­lau­fen, den­ken sie be­stimmt nicht da­ran, wem das Grund­stück ge­hört. Und ih­ren El­tern wird es auch zu­neh­mend egal.

Fritz Mat­zin­ger, geb. 1941 in OÖ; Ar­chi­tek­turs­tu­di­um an der TU Wien, ab 1971 Bü­ro in Linz, seit 1974 Ent­wi­cklung und Rea­li­sie­rung von Atri­um­häus­ern als ge­mein­schaft­li­che Wohn­form. Der Film „Häu­ser für Men­schen“ (R. Seiß, 125 Min.) por­trä­tiert u. a. Mat­zin­gers Wohn­baum­odell.

15. Februar 2016 Der Standard

Die ba­na­le Wohn­box löst das Asyl­pro­blem nicht

Kri­sen ha­ben im­mer auch et­was Gu­tes. So lässt der Flücht­lings­strom Ös­ter­reichs Po­li­tik end­lich das The­ma „leist­ba­res Woh­nen“ an­ge­hen. Doch of­fen­bart die ak­tu­el­le De­bat­te vor al­lem jah­re­lan­ge Ver­säum­nis­se.

Nach Ti­rol und Vor­arl­berg mach­te jüngst auch Nie­de­rös­ter­reich ei­nen Vor­stoß, wie für tau­sen­de Asyl­su­chen­de, aber auch für die wach­sen­de Zahl ver­ar­men­der Ös­ter­rei­cher rasch und güns­tigst Wohn­raum ge­schaf­fen wer­den kann: Wohn­bau­lan­des­rat Wolf­gang So­bot­ka prä­sen­tier­te den Ent­wurf ei­nes klo­bi­gen Bil­lig­baus mit acht Klein­woh­nun­gen, den man in ei­ner er­sten Etap­pe noch heu­er 100-mal im gan­zen Land rea­li­sie­ren will.

Ein­ge­spart wur­de da­bei, auf den er­sten Blick er­sicht­lich, al­lem vo­ran die Ar­chi­tek­tur, wes­halb der be­rech­tig­te Auf­schrei von Ar­chi­tek­ten­kam­mer und Ar­chi­tek­tur­fa­kul­tät nicht lan­ge auf sich war­ten ließ. So­bot­ka lenk­te ein und nahm das An­ge­bot ei­ner fach­li­chen Be­glei­tung sei­tens der TU Wien an.

Doch ver­mag dies nur die Spit­ze des wohn­bau­po­li­ti­schen Eis­bergs ab­zu­tau­en. Denn Not­lö­sun­gen wie „Wohn.Chan­ce.NÖ“ ba­sie­ren auf ei­nem ge­wachs­enen Fun­da­ment aus jahr­zehn­te­lan­gen Fehl­ent­wi­cklun­gen. An­statt die hei­mi­sche Wohn­bau- und Sied­lungs­po­li­tik von Grund auf und für al­le Woh­nungs­su­chen­den neu aus­zu­rich­ten, blei­ben die Kos­ten­trei­ber und Qua­li­täts­hem­mer im Wohn­bau wei­ter un­be­rührt.

Das be­ginnt bei der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der So­bot­kas Pro­to­typ für je­de Woh­nung ei­nen Pkw-Stell­platz vor­sieht – was aufs Er­ste so­gar ei­ner ge­wis­sen Lo­gik folgt, zu­mal das Son­der­pro­gramm „nicht auf Bal­lungs­räu­me fo­kus­siert“, Bahn und Bus in Nie­de­rös­ter­reichs Pe­ri­phe­rie aber un­brauch­bar sind. Trotz­dem ist es ab­surd, Wohn­bau­ten für Flücht­lin­ge und an­de­re Men­schen un­ter­halb der Ar­muts­gren­ze bis aufs Letz­te ab­zu­spe­cken, gleich­zei­tig aber für den Lu­xus ei­nes Au­tos aus­zu­rüs­ten.

Die Lö­sung kann nur sein, Stand­or­te zu wäh­len, die ih­re Be­woh­ner Bil­dungs- und Ge­sund­heits­ein­rich­tun­gen eben­so wie Ar­beits- und Han­dels­stät­ten zu Fuß, per Rad und mit leis­tungs­fä­hi­gen öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln er­rei­chen las­sen. An wem die De­bat­te um Nach­hal­tig­keit und Kli­ma­schutz in den letz­ten 20 Jah­ren nicht spur­los vor­über­ge­gan­gen ist, der weiß, dass die­se ver­kehrs­po­li­ti­sche An­for­de­rung längst für je­den ge­för­der­ten Wohn­bau gel­ten müss­te – und Kin­dern und Ju­gend­li­chen eben­so zu­gu­te-kä­me wie al­ten oder be­hin­der­ten Men­schen.

Am fal­schen Platz ge­spart

Ver­bil­ligt wer­den soll der Dis­kont-Wohn­bau – nicht nur in Nie­de­rös­ter­reich – da­durch, dass die öf­fent­li­che Hand da­für Grund­stü­cke im Bau­recht für et­wa 50 Jah­re be­reits­tellt, statt dass Wohn­bau­trä­ger wie üb­lich pri­va­tes Bau­land an­kau­fen. Man fragt sich, wa­rum die­se Stra­te­gie nicht auch im her­kömm­li­chen so­zia­len Wohn­bau An­wen­dung fin­det, zu­mal die Grund­stück­skos­ten in wei­ten Tei­len Ös­ter­reichs der Haupt­grund für die mas­si­ve Teue­rung des Woh­nens sind.

In Deutsch­land ist es rech­tens und kei­nes­wegs un­üb­lich, dass Ge­mein­den nur dann Grün­land in Bau­land um­wid­men, wenn sie die­ses zum dop­pel­ten oder drei­fa­chen Ag­rar­land­preis er­wer­ben kön­nen, um es dann in­fras­truk­tu­rell zu er­schlie­ßen und zum Selbst­kos­ten­preis an Bau­wil­li­ge für bei­spiels­wei­se 99 Jah­re ab­zu­ge­ben. Hier­zu­lan­de scheut sich die Po­li­tik, das Recht auf pri­va­tes Ei­gen­tum an Grund und Bo­den mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­pflich­tung zu ver­knüp­fen. Da­durch bleibt ei­nes ih­rer wich­tigs­ten Macht­in­stru­men­te er­hal­ten: näm­lich durch sim­ple Än­de­run­gen im Flä­chen­wid­mungs­plan aus­ge­such­te Grund­ei­gen­tü­mer über Nacht zu Mil­lio­nä­ren ma­chen zu kön­nen.

Macht­in­stru­men­te

Po­li­ti­sche Macht ist auch mit der Ver­ga­be der Wohn­bau­för­de­rung ver­bun­den, wo­bei hier eben­falls seit Jahr­zehn­ten Re­form­ver­wei­ge­rung herrscht. Nach wie vor wer­den Ein­fa­mi­li­en­häu­ser auf der grü­nen Wie­se sub­ven­tio­niert und da­mit öf­fent­li­che Folg­ekos­ten für die Er­schlie­ßung durch Stra­ßen, Was­ser und Ka­na­li­sa­ti­on ver­ur­sacht. Statt­des­sen müss­te sich die För­de­rung aus­schließ­lich auf zen­trums­na­he, Bo­den wie In­fras­truk­tur spa­ren­de und da­mit auch leist­ba­re Sied­lungs­for­men kon­zen­trie­ren – so­wie die Sa­nie­rung und Um­nut­zung des ste­tig wach­sen­den Leers­tands in den Orts- und Stadt­ker­nen for­cie­ren.

Auch die so­zi­al­po­li­ti­sche Steue­rungs­wir­kung der Wohn­bau­för­de­rung könn­te ei­ne wei­taus hö­he­re sein, wür­den im groß­vo­lu­mi­gen Wohn­bau tat­säch­lich kin­der­ge­rech­te, ge­mein­schafts­för­dern­de und ge­ne­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Mo­del­le be­vor­zugt Un­ter­stüt­zung fin­den.

Ein er­ster Schritt wä­re schon ge­tan, wenn die Wohn­bau­för­de­rungs­bei­trä­ge der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber in Hö­he von im­mer­hin ei­nem Pro­zent je­des Brut­to­ge­halts auch wirk­lich in den Wohn­bau flie­ßen wür­den. Seit Auf­he­bung der Zweck­bin­dung die­ser Mit­tel im Jahr 2008 kön­nen die Län­der die­se Bei­trä­ge auch für ganz an­de­re Aus­ga­ben ver­wen­den – wo­bei aus­ge­rech­net So­bot­ka am ve­he­men­tes­ten von al­len neun Wohn­bau­lan­des­rä­ten ge­gen ei­ne von Ex­per­ten ge­for­der­te Wie­der­ein­füh­rung die­ser Bin­dung auf­tritt.

Rat­sam er­scheint in je­dem Fall ei­ne Eva­luie­rung der nie­de­rös­ter­rei­chi­schen Wohn­bau­for­schung: 700.000 Eu­ro per an­num flie­ßen seit Mit­te der 1990er-Jah­re in die Ent­wi­cklung von In­no­va­tio­nen, auch für ein kos­ten­güns­ti­ge­res Bau­en – doch nun, da es da­rauf an­kam, schau­te of­fen­bar nichts Bes­se­res da­bei her­aus als ei­ne ba­na­le Wohn­box, die Fach­leu­te nicht ein­mal für bau­ord­nungs­kon­form hal­ten.

11. Dezember 2015 Spectrum

Bahnhof sucht Stadt

Dieses Wochenende geht Wiens Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Während die Stadt damit verkehrstechnisch im 21. Jahrhundert angekommen ist, kann davon städtebaulich in den Neubauvierteln rundherum keine Rede sein.

Mit der aktuellen Fahrplanumstellung läuft auch der Fernverkehr der Österreichischen Bundesbahnen von und nach dem Westen über den Wiener Hauptbahnhof. Der neue Durchgangsbahnhof unweit des früheren Süd- und Ostbahnhofs beendet die Ära der Wiener Kopfbahnhöfe und somit auch das Dasein der Stadt als Prellbock im mitteleuropäischen Schienennetz. Feierlich eröffnet worden ist das „Jahrhundertprojekt“ schon im Oktober vergangenen Jahres, als die 20.000 Quadratmeter große Shopping Mall in der „Bahnhof City“ von niemand Geringerem als dem österreichischen Bundespräsidenten und dem Wiener Bürgermeister dem Volk übergeben wurde.

Dass die höchsten Repräsentanten des Staats und der Stadt für ein Einkaufszentrum Pate stehen, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der heimischen Politik, es verdeutlicht auch die heutige Dominanz der Funktion Handel über jene des Reisens in den einstigen „Kathedralen des Verkehrs“. Auf Repräsentation zielten die Bahnhofarchitekten Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer aber vermutlich gar nicht ab. Ihr Zweckbau wird, wenn das gesamte Bahnhofsviertel einmal fertig ist, einer der unscheinbarsten Bauten hier sein. Denn das Gros seiner Nutzflächen liegt unterhalb der Bahnhofshalle und der in Hochlage errichteten Bahnsteige: Rund 90 Läden für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie bilden das Herz des Hauptbahnhofs. Und jene, die sich dem Stationsgebäude über den nördlichen Bahnhofsvorplatz nähern, informiert eine vor dem Haupteingang prominent postierte Stele mit den Logos ausgewählter Handelsketten, was sie im Inneren erwartet.

Der Platz selbst ist für heimische Verhältnisse wohltuend zurückhaltend gestaltet: Sitzgelegenheiten, die nicht suggerieren, dass bestimmte Personengruppen unerwünscht wären; etwas Grün – vielleicht eine Spur zu wenig; schlichte Beleuchtungskörper ohne bemühtes künstlerisches Konzept; vor allem aber ein wirklich großzügiger öffentlicher Raum, völlig frei von Autos.

Was dagegen misslang, obwohl die Politik es im Zuge des Bahnhofsneubaus versprochen hatte, ist die Überwindung des daran anschließenden Gürtels als Barriere zwischen dem zehnten und dem vierten Wiener Bezirk. Im Gegenteil: Mit bis zu acht Fahrspuren und zwei Parkspuren sowie vier Tramwaygleisen wirkt das Verkehrsband auf Höhe des Bahnhofs heute noch trennender als vor der Umgestaltung.

Größer waren die Chancen auf einen Impuls infolge der Verlagerung und des Neubaus des Bahnhofs in den unmittelbar angrenzenden Vierteln des zehnten Bezirks. Insbesondere die im Zuge des U-Bahn-Baus Mitte der 1970er zur Fußgängerzone umgestaltete Favoritenstraße hätte eine Aufwertung in ihrem untersten Abschnitt gut vertragen können. Allerdings ließ man die Gelegenheit, den Verkehrsknoten mit der Fußgängerzone zu verknüpfen, unverständlicherweise aus. Der südliche Eingang des Hauptbahnhofs ist zwarnur wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, doch reicht die trennende Wirkung des neuen Bahnhofparkplatzes, des angrenzenden Busbahnhofs und der in bester Ingenieursmanier „gestalteten“, bis zu sechsspurigen Sonnwendgasse offenbar aus, dass kaum jemand denWeg in die Fußgängerzone findet. Über mehrere Hundert Meter, bis hinauf zum Keplerplatz, reihen sich Ein-Euro-Läden, Wettlokale, Handy-Shops, Take-away-Küchen, Nagelstudios und zunehmend mehr ungenutzte Erdgeschoßflächen aneinander. Und selbst das Columbus-Center, ein mediokres Einkaufszentrum aus dem Jahr 2005, kämpft mittlerweile mit Leerstand.

Überraschen sollte der Niedergang einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Wiens im Rathaus niemanden. Denn von Anbeginn des Bahnhofsprojekts war klar, dass ein 20.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Umfeld den Todesstoß für den umliegenden kleinstrukturierten Einzelhandel bedeuten würde. Doch lagen dem Masterplan von 2004 für einen neuen Stadtteil auf dem rund 60 Hektar großen Bahnareal keine ernst zu nehmenden urbanistischen Überlegungen zugrunde. Vorrangig war das Bemühen, das zu knappe Budget von Bund, Stadt Wien und Bundesbahnen für die Realisierung des Milliardenprojekts Hauptbahnhof durch einen dreistelligen Millionenbetrag aus der Verwertung der freiwerdenden ÖBB-Flächen aufzubessern.

Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht gab es dafür nur eine Strategie: möglichst viel Einzelhandel am Bahnhof selbst, dicht gestaffelte Büro- und Hoteltürme darum herum, Wohnbauten auf den restlichen, schon etwas entlegeneren Grundstücken – und irgendwo am Rand ein Bildungscampus mit Kindergarten und Schulen. Für städtebauliche Qualität sollte ein großer Park inmitten der Wohnbebauung sorgen, der freilich nicht – wie in anderen Städten – von den privaten Entwicklern und Investoren, sondern von der öffentlichen Hand zu finanzieren wäre. Genau dieses Konzept wurde vom Gemeinderat 2006 als Flächenwidmungsplan für das Bahnhofsviertel beschlossen. Die planungspolitischen Parolen von einer Stadt derkurzen Wege, von einer Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren vergessen. Dabei wäre in diesem Entwicklungsgebiet, das wie kein anderes durch öffentlicheVerkehrsmittel erschlossen, von attraktiven Grünräumen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben und mit nur zwei Kilometer Entfernung zur Innenstadt geradezu zentral gelegen ist, ein zukunftsweisender, tatsächlich urbaner Stadtteil möglich gewesen: mit einer kleinteiligen, multifunktionalen Struktur, unabhängig vom privaten Pkw, mit üppig durchgrünter Bebauung und vitalen öffentlichen Räumen.

Dass es anders kam, zeigt ein Spaziergang durch den bereits fertiggestellten Teil des westlichen Sonnwendviertels. Das Straßenbild ist durch parkende Autos geprägt – obwohl jeder Bauplatz ohnehin mit zwei bis drei Garagengeschoßen unterkellert ist. Die bis zu elf Etagen hohe Bebauung dient mit wenigen Ausnahmen allein Wohnzwecken. In der Sockelzone herrschen Tiefgaragenein- und -ausfahrten, Haustechnik- und Müllräume vor. Wenn ein Eingangsbereich, ein Fahrradraum oder eine Waschküche einmal zur Straße hin verglast sind, ist das bereits etwas Außergewöhnliches. Einen Bäcker sucht man ebenso vergeblich wie eine Trafik, auch wenn in den drei Baublöcken hier rund 2500 Menschen leben. Ein paar kleine Büros und die Kindergruppen in fürs Wohnen ungeeigneten Erdgeschoßlagen schaffen noch keine Belebung des öffentlichen Raums. Den einzigen Lichtblick stellt bisher ein Café-Restaurant am nordöstlichen Rand der Bebauung dar.

Immerhin investierten einige Bauträger in ein überdurchschnittliches Angebot an Gemeinschaftseinrichtungen: etwa in ein Schwimmbad, das auch für die Bewohner umliegender Bauten benutzbar ist, in eineKletterhalle oder eine große Gemeinschaftsküche. Gleichzeitig aber zielten manche Ideen an den Bedürfnissen der Bewohner und an jedem vernünftigen Maß vorbei – wie jener Jugendclub samt Musikproberaum, der mit viel Aufwand unter die Erde gebracht wurde, um darüber eine Betonlandschaft für Skater zu errichten; Jugendliche wurden bisher nur selten unter oder auf der Rampe gesichtet, beträchtliche Teile der knappen Grünfläche aber irreversibel in Anspruch genommen.

Freiräume sind die wohl größte Schwachstelle im Wiener Wohnbau. Der nördliche der drei Baublöcke im Sonnwendviertel ist ein Paradebeispiel für die Verunstaltung eines gemeinschaftlichen Hofs durch maßstablose Entlüftungen und Belichtungen der darunterliegenden Garagen. Für einen auch nur halbwegs ansehnlichen Baum reicht die dünne Humusschicht über der Tiefgaragendecke nirgends. Ja nicht einmal ein ordentlicher Rasen kann, scheint's, überall gedeihen. Schließlich wurde vor einem Haus ein Teil des Terrains auch noch abgegraben, um in Souterrainlage ein Wohngeschoß mehr herauszuschinden – aus dem man wahlweise auf eine Böschung oder ein Entlüftungsgitter blickt.

Im südlichen Baublock bestimmt das „ModellMietergarten“ den Innenhof: Handtuchgroße Grünflächen wurden, durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt, den Erdgeschoßwohnungen zugeschlagen, sodass in der Mitte kaum für mehr als einen Kleinkinderspielplatz und ein paar Bänke Platz blieb. Weder herrscht in den Kleinstgärten auch nur ein Mindestmaß an Privatheit, noch taugt die gemeinschaftliche Restfläche trotz gartenarchitektonischen Tunings als nutzbarer Grünraum für die Bewohner der oberen Geschoße.

Auch in anderen Höfen wurden und werden Landschaftsplaner herangezogen, um die bauwirtschaftliche Geringschätzung des Freiraums zu kaschieren. Brauchbarer werden die knappen Flächen dadurch selten. Selbiges gilt für die Architektur: Manche baukünstlerischen Auffälligkeiten – seien es knallgelbe Fußgängerbrücken, die benachbarte Häuser in zwölf Meter Höhe quer über den Innenhof miteinander verbinden, seien es statisch aufwendige Auskragungen einzelner Gebäudeteile – scheinen um teures Geld vor allem von der Gewöhnlichkeit des Massenwohnbaus ablenken zu wollen.

Für die Beurteilung der städtebaulichen Entwicklung im Büro- und Hotelviertel rings um den Hauptbahnhof, im sogenannten Quartier Belvedere, gibt es ebenfalls einige Anschauungsbeispiele. Die obere Messlatte definiert wohl der kurz vor seiner Eröffnung stehende „Erste Campus“ von Henke Schreieck Architekten. Die vierteilige Anlage bietet nicht nur Arbeitsplätze für 4500 Bankangestellte, der Freiraum, eine Veranstaltungshalle, Cafés, Restaurants oderein Kindergarten stehen auch für Außenstehende offen. Bereits im Vorjahr fertiggestellt wurde der bis zu 88 Meter hohe Büroturm der Architekten Zechner & Zechner mit dem neuen Headquarter der ÖBB. Auf der zum südlichen Bahnhofplatz orientierten Seite umfasst er im Erdgeschoß unter anderem eine Bäckerei und eine Bankfiliale. Auf den anderen beiden Seiten indes verschließt sich der dreieckige Komplex im Sockelbereich auf ganzer Länge gegenüber seinem Umfeld, was den Straßenraum veröden lässt. Und weil sich diese Charakteristikbei den meisten Wiener Hochhäusern der vergangenen 20 Jahre wiederfindet und die Stadtplanung kaum Ambitionen zeigt, auf Verbesserungen zu drängen, dürften im Bahnhofsviertel noch mehr solcher Monolithen entstehen.

Einige sind bereits in Bau. Direkt im Anschluss an den nördlichen Bahnhofsvorplatz errichtet Österreichs größtes privates Immobilienunternehmen bis 2018 drei Bürotürme mit 38, 66 und 88 Metern, die im Sockelbereich durch weitere 5000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche verbunden werden. Gleich daneben – wenn auch ohne erkennbaren Zusammenhang – realisiert Österreichs zweitgrößter Baukonzern einen sechsteiligen Komplex, der ebenso Büro- und Handelsflächen bieten sollte. Aufgrund der massiven Übersättigung des Wiener Büromarkts sieht der Entwickler nun allerdings weniger Büroflächen und dafür zwei Hotels sowie einen 60-Meter-Turm mit 135 Wohnungen vor. Dass der Städtebau, der direkt vom Investor stammt und ursprünglich nur den Ansprüchen von Angestellten und Kunden genügen musste, jetzt genauso den Bedürfnissen einer Wohnbevölkerung zu entsprechen hat, veranlasste im Rathaus bis dato niemanden, Änderungen einzufordern.

Aus stadtplanerischer Sicht bedenklich erscheint auch die Verkehrserschließung dieser Baufelder. DasQuartier Belvedere wirdvon einem engmaschigen Netz vierspuriger Straßen durchzogen, wie es sie im inneren Bereich Wiens sonst nur an den Hauptverkehrsrouten gibt. Dort, wo zwei solcher Straßen aufeinandertreffen, ergeben sich Kreuzungsbereiche von einer Weitläufigkeit, die ein Entstehen jedweder Form von Urbanität nur schwer vorstellbar machen.

Zuversicht geben zumindest die Planungen für den noch unbebauten östlichen Teil des Sonnwendviertels. Hier ist für den Autoverkehr lediglich eine zweispurige Straße vorgesehen, die entlang des Bahnviadukts verläuft. Somit wäre der gesamte Bereich bis zum sieben Hektar großen Helmut-Zilk-Park, der 2018 fertiggestellt sein wird, Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die Garagenplätze will die Stadtplanung um 30 Prozent reduzieren und zumindest im geförderten Wohnbau nicht mehr jedem Gebäude zuordnen, sondern in zwei Sammelgaragen konzentrieren – um den Automatismus, von der Wohnung per Aufzug in die Tiefgarage zu fahren, zu unterbinden. Zudem eröffnet es die Chance, in den Grünhöfen den gewachsenen Boden zu belassen.

Die Bebauung soll merklich kleinteiliger werden als im westlichen Sonnwendviertel, und deutlich lebendigere Erdgeschoße aufweisen. Dazu sollen zehn Wohnbauten als sogenannte Quartiershäuser mit hohen Sockelzonen entstehen, für die schon vor Baubeginn eine fixe, für die Öffentlichkeit attraktive Nutzung feststehen muss. Vier weitere Grundstücke sind für Baugruppenprojekte reserviert, die bisher in Wiens Stadtentwicklungsgebieten die mit Abstand besten Häuser hervorgebracht haben: am Nordbahnhofgelände ebenso wie in der Seestadt Aspern – und auch im westlichen Sonnwendviertel, wo Schindler & Szedenik Architekten einen Mitbestimmungswohnbau realisierten. Können all diese Ziele tatsächlich umgesetzt werden, gäbe es genügend Anwendungsgebiete für die hier gewonnenen Erfahrungen: Westlich der Laxenburger Straße liegt noch ein Bahnareal, das im Zuge des Hauptbahnhofsprojekts frei geworden ist. Auch der Nordwestbahnhof steht noch vor seiner Verbauung – und am Franz-Josefs-Bahnhof ist die städtebauliche Altlast der 1970er noch nicht einmal entsorgt.

13. April 2013 Der Standard

Chronik eines Sündenfalls

In Kürze wird Wien Mitte eröffnet. Das Projekt ist Beispiel dafür, was passiert, wenn Spekulation und Parteipolitik Städtebau ersetzen.

Es wirkte wie eine jener absurden Szenen aus den Programmen der Kabarettgruppe Maschek: Bundespräsident Heinz Fischer, der höchste Repräsentant der Republik, tritt an, um im Beisein einiger anderer politischer und kirchlicher Würdenträger ein banales Einkaufszentrum zu eröffnen. Oder korrekter gesagt: einen Elektrodiscounter und eine Supermarktfiliale. Denn nicht viel mehr wurde damals, im vergangenen November, feierlich umrahmt vom Wiener Symphonie-Orchester und dem Staatsopernballett, in Wien-Landstraße beim sogenannten Pre-Opening der Öffentlichkeit übergeben.

Die Bezeichnung „Bahnhof“ verdient die nun fertiggestellte Überbauung des unterirdischen U-Bahn- und Schnellbahn-Knotens Wien Mitte, die am 25. April zur Gänze eröffnet wird, auch heute nicht, besteht der voluminöse Komplex oberirdisch doch ausschließlich aus 30.000 Quadratmetern Verkaufs- und 62.000 Quadratmetern Bürofläche samt einer Parkgarage mit 500 Stellplätzen. Nichts Besonderes also unter den Großprojekten des Wiener Immobilienmarkts der letzten 20 Jahre.

Die ungewöhnliche politische Präsenz lag wohl eher an den Investoren des 480-Millionen-Euro-Projekts: Hinter dessen Bauträger, der BAI, steht Österreichs größte Bank, die aus der einst stadteigenen Zentralsparkasse hervorgegangen und zu einem der mächtigsten Akteure der heimischen Immobilienszene geworden ist: die Bank Austria.

Bereits 1990 lancierte ein Konsortium um die Bank Austria ein Projekt zur Neuüberbauung des hochwertig erschlossenen, aber lange Zeit vernachlässigten Areals unweit der historischen Innenstadt, für das die Wiener Stadtplanung eine achtgeschoßige Bebauung mit urbanem Nutzungsmix für angemessen hielt.

Dem stellten die Architekten Laurids und Manfred Ortner einen Entwurf mit neun Hochhäusern entgegen, der kurz darauf zu fünf Türmen mit Höhen von 57 bis 75 Metern mutierte und sich bis zu seiner Umsetzung in einem Flächenwidmungs- und Bebauungsplan 1993 noch mehrfach änderte - aber aufgrund inzwischen gesunkener Büropreise nie realisiert wurde. Um wirklich rentabel zu sein, darin waren sich Bauträger und Politik einig, müsse das Projekt noch höher und noch dichter werden.

Es folgten abwechselnd ein 120-Meter-Turm, eine massive Sockelbebauung mit vier etwas niedrigeren Türmen und wenig später ein Projekt mit sechs Türmen. Die Gesamtnutzfläche war inzwischen von 110.000 auf 136.000 Quadratmeter angewachsen. Die 1993 im Plan verordneten 25.000 Quadratmeter Wohnfläche sowie die vorgesehenen kulturellen Einrichtungen waren längst Geschichte. Sie entfielen zugunsten lukrativerer Nutzungen.

Wien Mitte: „Kein Großprojekt“

So führte der 1999 neu aufgelegte Flächenwidmungs- und Bebauungsplan zu massiven Protesten von Bürgern, Architekten, Hochschulprofessoren, Medien und Opposition. Ja selbst Altbürgermeister Helmut Zilk setzte zum Protest an. Allen Widerrufen zum Trotz wurde der Plan im Frühjahr 2000 von der sozialdemokratischen Mehrheit im Gemeinderat beschlossen.

Das in der Folge abermals - und laut Kritikern verfahrenswidrig - veränderte Bauvorhaben bestand nun aus einem 42 Meter hohen Sockel und vier teils darauf aufgesetzten Türmen mit bis zu 97 Metern Höhe. Bekanntlich bewog dies 2001 sogar die Unesco zur Drohung, der historischen Innenstadt den Weltkulturerbe-Status zu entziehen, zumal das wuchtige Ensemble innerhalb der Pufferzone gelegen wäre. Davon unbeeindruckt erteilte das Rathaus 2002 die Baugenehmigung für Wien Mitte und erließ der BAI für ihr Großprojekt sogar die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Möglich wurde dies durch die Aufgliederung in mehrere Teilprojekte, die für sich genommen jeweils von so geringer Dimension waren, dass sie unterhalb der UVP-relevanten Grenzwerte lagen.

Trotzdem zog die BAI das Projekt 2003 zur allgemeinen Überraschung zurück - offiziell wegen der schlechten PR durch den Unesco-Protest. Viel wahrscheinlicher aber ist die Tatsache, dass Wiens grassierender Büroleerstand eine rentable Verwertung der Flächen nicht mehr realistisch erscheinen ließ. Bürgermeister Michael Häupl, der den verwahrlosten Standort stets als Schandfleck verteufelt hatte, gelang es jedoch, die Bank Austria für einen letzten Versuch zur Neubebauung von Wien Mitte zu motivieren.

Den städtebaulichen Wettbewerb um einen von der Unesco akzeptierten Entwurf gewannen Dieter Henke und Marta Schreieck mit einer vertretbaren Bebauungsdichte, mit großzügig dimensionierten öffentlichen Bereichen sowie mit einer maximalen Bauhöhe von 30 Metern - abgesehen von einem 60 Meter hohen Hotelturm.

Doch es kam wiederum alles anders. Sogleich begann der Bauträger von neuem, mit Billigung der Stadt auf eine Nachbesserung des Entwurfs hinsichtlich Dichte und Höhe zu drängen. Die Randbebauung wuchs plötzlich auf 35 Meter an und rückte um vier Meter weiter in den Straßenraum vor. Das geplante Hochhaus mutierte vom Hotel- zum Büroturm, geriet breiter und hielt bald bei 70 Metern.

Und die vorgesehenen Passagen, die den Komplex auch für die tausenden täglich ein- und ausströmenden S- und U-Bahn-Fahrgäste durchlässig machen sollten, wurden in ihrer Anzahl verringert und in ihrem Querschnitt um 60 Prozent reduziert. Im 2004 beschlossenen Flächenwidmungsplan waren sie nicht einmal mehr als öffentliche Durchgänge ausgewiesen. Bis 2007 erwirkte die BAI mit ihren Architekten Ortner & Ortner sowie Neumann & Steiner noch mehr als 30 „unwesentliche Abweichungen von den Bebauungsvorschriften“, um die Planung in ihrem Sinn noch weiter zu optimieren.

Schnöde Investorenarchitektur

Auf dem Büromarkt freilich herrschte nach dem bis aufs Letzte ausgereizten Projekt, das die angrenzenden Gründerzeithäuser beinahe zu erdrücken droht, kaum mehr Nachfrage. Denn auch im Innenbereich wurde infolge der Verbauung des von Henke & Schreieck vorgesehenen Hofs durch einen weiteren Trakt jegliche Qualität zerstört. Immerhin vermitteln die banalen Fassaden genau das, was sich dahinter verbirgt: schnöde Investorenarchitektur, von der sich die aus dem städtebaulichen Wettbewerb siegreich hervorgegangenen Architekten längst öffentlich distanziert haben.

Doch auch für das Vermarktungsproblem hatte die Politik eine Lösung parat: 2009 wurde bekannt, dass die bis dato dezentral und kundennah angesiedelten Bezirksfinanzämter bis auf eine Ausnahme aufgegeben und in Wien Mitte konzentriert werden. Wie ernsthaft man im Vorfeld andere Standorte und eventuell günstigere Immobilien in Betracht zog, bleibt unklar. Fakt ist, dass dieser Umzug nicht nur alte, leerstehende Amtsgebäude hinterlässt, er bedeutet auch, dass die Mieten der Wiener Finanzämter künftig nicht mehr an die öffentliche Hand in Gestalt der Bundesimmobiliengesellschaft, sondern an einen privaten Investor fließen - dem Vernehmen nach in der Höhe von rund 500.000 Euro netto pro Monat.

Nach 20-jährigem Vorlauf ist Wien Mitte somit schon zum Zeitpunkt seiner Eröffnung als voller Erfolg anzusehen - zumindest für den Betreiber. Für die Anrainer, für das Stadtbild, für die öffentliche Wahrnehmung von Wiens städtebaulicher und demokratiepolitischer Verfasstheit und nicht zuletzt für die Steuerzahler hingegen handelt es sich um einen Schadensfall.

Um einen Schadensfall, der keineswegs eine Ausnahme darstellt. Erst vor kurzem wurde vermeldet, dass unmittelbar neben den Gasometern bis Ende 2014 der neue Bürokomplex „Gate 2“ entstehen wird. Als Mieter stehen bereits die städtische Gemeindebauverwaltung Wiener Wohnen sowie das ebenfalls kommunale Wohnservice Wien fest.

Wiener Wohnen bündelt damit seine neun dezentralen Servicestellen an einem einzigen Standort und rückt so weiter von seinen Kunden ab. Das Wohnservice Wien wiederum hat erst vor zwölf Jahren ein damals neues Bürogroßprojekt bezogen - zu höchst marktunüblichen Konditionen, wie der Rechnungshof in einem Bericht aus dem Jahr 2004 kritisierte: unter anderem mit einem vertraglich fixierten freiwilligen 15-jährigen Kündigungsverzicht. Ungeachtet dessen wird das Wohnservice Ende nächsten Jahres seine Adresse abermals wechseln. Der Bauträger von „Gate 2“ ist übrigens derselbe wie jener von Wien Mitte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

24. September 2011 Der Standard

Polittheater auf vier Rädern

Kaum ein Land ist so zersiedelt wie Österreich. Und die Großprojekte am Stadtrand funktionieren nur dank Motorisierung. Vorgestern, Donnerstag, war „Autofreier Tag“. Ein Nachtrag.

Mit einem Anteil von rund 30 Prozent ist der Verkehr - allen voran der Autoverkehr - in Österreich immer noch der größte Verursacher klimaverändernder Treibhausgase. Während Sparten wie etwa Industrie, produzierendes Gewerbe oder Landwirtschaft inzwischen rückläufige Werte zeigen, nehmen Österreichs Emissionen im Verkehrssektor nach wie vor zu - seit Beschluss der völkerrechtlich verbindlichen UN-Klimarahmenkonvention von Rio de Janeiro 1992 um ganze 50 Prozent.

Trotz wortreicher Beteuerungen (wie zuletzt am Internationalen Autofreien Tag am 22. September) scheuen sich die heimischen Entscheidungsträger jedoch, die dringend notwendigen und von Fachleuten empfohlenen Schritte zu einer klimaverträglicheren Verkehrspolitik endlich in Angriff zu nehmen.

Diese wären: Eine sukzessive Herstellung der Kostenwahrheit im Verkehr durch Anhebung der Treibstoffkosten oder ein flächendeckendes Road-Pricing, Etablierung von City-Maut-Modellen zur Entlastung der Städte, Einführung marktwirtschaftlicher Kosten für das Parken, Einfrieren des verkehrsfördernden Autobahn- und Schnellstraßenausbauprogramms bei gleichzeitiger Investitionsoffensive im öffentlichen Verkehr, und so weiter.

Noch schlechter steht es um die überfällige Verknüpfung von Verkehrs- und Siedlungspolitik, die in Österreich - im Unterschied zu Deutschland, zur Schweiz und zu den Niederlanden beispielsweise - traditionell getrennt voneinander betrachtet werden. Und während der Bund seine verkehrspolitische Verantwortung zunehmend auf die - aller öffentlichen Aufgaben enthobenen - ÖBB, auf die Asfinag und die Bundesländer abwälzt, fühlt er sich für die Siedlungsentwicklung gar nicht erst zuständig. Das ist fatal, denn auf den Betrieb des Gebäudebestands entfällt ein weiteres Drittel des heimischen CO2-Ausstoßes. Eine tiefgreifende Veränderung unseres Mobilitätsverhaltens ist nur dann möglich, wenn Architektur und Städtebau vom Auto unabhängig sind.

Raumplanerische Kriterien

Nach Berechnungen des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) könnten durch heute ergriffene raumordnungspolitische Maßnahmen bereits nach drei Jahren rund 2,7 Milliarden Pkw-Kilometer beziehungsweise 580.000 Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr eingespart werden.

In hohem Maß wirksam wäre auch eine deutlich stärkere Ausrichtung der Wohnbauförderung nach raumplanerischen Kriterien - etwa nach der Nähe zu bestehender Infrastruktur und zu öffentlichen Verkehrsmitteln sowie nach Bebauungsform und Bodenverbrauch. In ihrer jetzigen Form wird diese Subvention auch in einer vom Lebensministerium finanzierten Studie als „umweltkontraproduktiv“ klassifiziert, zumal sie kaum Anreize zur Vermeidung der Zersiedlung setze und somit zu weiterem Autoverkehr führe.

Erste Schritte zu einer standortbezogenen Gewichtung der Wohnbauförderung in manchen Bundesländern sind eindeutig zu wenig, um eine relevante Lenkungswirkung zu erzielen, da allein die niedrigeren Grundstückskosten an peripheren, schlecht erschlossenen Standorten das Weniger an Wohnbauförderung mehr als kompensieren.

Durch die flächenintensive Besiedlung Österreichs nimmt nicht nur der Autoverkehr zu. Auch die Versiegelung der nichtvermehrbaren Ressource Boden schreitet voran: Die Summe aller Straßen, Gassen, Wege und Parkplätze enstpricht heute bereits der Fläche Vorarlbergs. Gelänge es, die durchschnittliche Siedlungsdichte in ganz Österreich auf jene des dichtestbesiedelten Flächenbundeslandes, nämlich Vorarlbergs anzuheben, wäre der CO2-Ausstoß des Straßenverkehrs um zwölf Prozent geringer.

Noch eklatanter zeigt sich die Wechselwirkung von Siedlungsstruktur und Motorisierung an folgenden Zahlen: Kommen in den Stadtzentren Österreichs 170 Pkws auf 1000 Einwohner, so sind es in peripheren Siedlungsgebieten 810 Pkws. Das ist fast der fünffache Wert.

Eine höhere Bebauungsdichte bedeutet auch kürzere Wege - was dazu beiträgt, dass das Ländle auch im Radverkehr Spitzenreiter ist. Würde das gesamte Bundesgebiet den Vorarlberger Radverkehrsanteil von 13 Prozent aufweisen (zum Vergleich: Wien hält bei optimistischen sechs Prozent), könnten jährlich knapp 87.000 Tonnen Treibstoff eingespart beziehungsweise rund 273.000 Tonnen CO2 vermieden werden. Dazu bedürfte es allerdings nicht nur deutlich kompakterer Wohnbauformen, auch die alltäglichen Ziele - insbesondere die Arbeits- und Handelsstätten - müssten wieder in die Zentren zurückkehren beziehungsweise stärker mit der Wohnfunktion durchmischt werden.

Die Realität sieht allerdings anders aus: Die Entwicklung der Einzelhandelflächen in den letzten drei Jahrzehnten steht - genehmigt und gefördert durch die Politik - in klarem Widerspruch dazu. Trotz einer im EU-Vergleich rekordverdächtigen Dichte an peripheren Shoppingmalls werden in Österreich nach wie vor 51 Prozent der neu geschaffenen EKZ-Flächen außerhalb des bestehenden Wohngebiets angesiedelt: auf Gewerbeflächen sowie bei Autobahnanschlussstellen.

Dem VCÖ zufolge werden in der Alpenrepublik jährlich 5,4 Milliarden Pkw-Kilometer zu Einkaufszentren, Fachmärkten und Supermärkten zurückgelegt, was nicht weniger als 350 Erdumrundungen pro Tag und einem jährlichen CO2-Ausstoß von 865.000 Tonnen entspricht. Immerhin warten dort auf über vier Millionen Autos, die Herr und Frau Österreicher besitzen, ganze 2,8 Millionen Stellplätze - allein zum Einkaufen mit dem Kofferraum statt mit dem Einkaufskorb. Und solange die Handelsketten weder etwas für die eigens geschaffenen Autobahnabfahrten und Aufschließungsstraßen zahlen müssen noch eine Stellplatzabgabe zu entrichten haben, wird sich daran kaum etwas ändern.

Nicht nur an der Peripherie, auch in den dichtverbauten Kernstädten wird der Autoverkehr durch die heutigen Bebauungsstrukturen zunehmend gefördert. Die inneren Stadtentwicklungsgebiete werden von großmaßstäblichen Neubauten bestimmt, die sich benachbarten Gebäuden gegenüber ebenso verschließen wie dem öffentlichen Raum. Diese Komplexe dienen meist nur einer spezifischen Funktion - Wohnen oder Arbeiten oder Bildung - und werden daher von nur einer spezifischen Gruppe an Nutzern zu einer spezifischen Tageszeit betreten und wieder verlassen - oftmals via Tiefgarage.

Auf diese Weise wird die Entfaltung städtischen Lebens mit der entsprechenden funktionalen Vielfalt und kleinteiligen Durchmischung ein für alle Mal verunmöglicht. Genauso wenig sind diese Quartiere besonders einladend, um hier zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein oder gar darin zu verweilen.

Dieser antiurbane Städtebau, der dem Prinzip US-amerikanischer Stadtplanung entspricht, folgt wohlgemerkt nicht nur der Rationalität der Investoren, sondern auch gesetzlichen Bestimmungen. So verpflichten die heimischen Bauordnungen - sei es bei Handelseinrichtungen, sei es bei Büro- oder Wohnbauten - zur Errichtung einer (großzügig bemessenen) Mindestzahl von Pkw-Stellplätzen.

Im Gegensatz dazu sind Stellplatzhöchstzahlen in den einzelnen Garagenverordnungen der Länder ebenso wenig zu entdecken wie eine Differenzierung der erforderlichen Parkraumgröße, abhängig von der Zentralität des Standorts oder der Erschließungsqualität durch den öffentlichen Verkehr. Darüber hinaus führt die Stellplatzverpflichtung zu einer Quersubventionierung von Autofahrern, zumal sie beispielsweise Wohnbaufördermittel bindet: Allein in Wien werden jedes Jahr mehr als 36 Millionen Euro aus der Wohnbauförderung für die Errichtung neuer Garagen aufgewandt.

Angesichts der Komplexität und Tiefe der Problematik verlieren die punktuellen und oft rein aktionistischen Maßnahmen jegliche Glaubwürdigkeit. Selbst mit einem „Autofreien Tag“, wie er alljährlich am 22. September medial befeiert wird, sind hier keinerlei bewusstseinsbildende Effekte zu erkennen. Viel mehr erscheinen diese Maßnahmen als Teil jenes Polittheaters, mit dem man hierzulande von anderen Fehlentwicklungen abzulenken versucht.

20. November 2010 Der Standard

Wird Wien anders?

Mit der Geschäftsgruppe „Verkehr, Stadtplanung, Klimaschutz und Energie“ übernehmen Wiens Grüne ein zentrales „Zukunftsressort“ - und Altlasten. Um Fehlentwicklungen zu korrigieren, braucht es ein neues Bewusstsein.

Für automobile Wiener mag es wie ein schlechter Scherz geklungen haben: Ausgerechnet eine Grüne übernimmt die Verkehrspolitik in dieser Stadt! Dabei dürfte Planungs- und Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou als einzige Vertreterin ihrer Partei in der neuen Stadtregierung kaum etwas gegen den Willen der SPÖ durchsetzen können. Das offenbart schon das Koalitionsabkommen, das unübersehbar eine grüne Handschrift trägt - aber halt doch auf rotem Papier verfasst wurde. Davon zeugt etwa das Beharren auf der Realisierung der geplanten Autobahn- und Schnellstraßenprojekte, obwohl diese weder mit einer kompakten Siedlungsentwicklung noch mit den Zielen des Klimaschutzes vereinbar sind.

Auch im Bereich Stadtplanung erbt Vassilakou Projekte ihrer Amtsvorgänger, die einem grünen Verständnis von Städtebau widersprechen. Problembehaftete Stadtteile wie Donau City, der Bereich um die Gasometer oder das Viertel um den neuen Hauptbahnhof werden kraft rechtsgültiger Bebauungspläne während oder sogar erst nach ihrer (vorläufig ersten) Amtszeit fertig werden, ohne dass sie noch Substanzielles daran ändern können wird.

Insofern gilt es für die neue Stadträtin ihr Hauptaugenmerk darauf zu richten, was in den magistratischen Planungsabteilungen derzeit zu Papier gebracht wird: beginnend bei den Flächenwidmungsplänen für die transdanubischen Stadterweiterungsgebiete, insbesondere für die Seestadt Aspern - hier muss es gelingen, vom monofunktionalen und autogerechten Städtebau auf der grünen Wiese wegzukommen - über die Planungen für innerstädtische Entwicklungszonen wie den Nordwestbahnhof - hier wäre eine Abkehr vom bisher gepflegten Nebeneinander baublockgroßer Wohn-, Büro- und Handelshäuser wie am Nordbahnhofgelände zugunsten einer kleinstrukturierten Nutzungsmischung mit vitalen Erdgeschoßzonen überfällig - bis hin zu Großprojekten wie der Neuüberbauung des Franz Josefs-Bahnhofs, wo Wiens Planer unter Beweis stellen könnten, dass sie über mehr städtebauliche Kompetenz und Sensibilität verfügen, als sie es auf den beschämenden Großbaustellen Wien Mitte oder TownTown zeigen.

Mehr Gewicht auf Freiflächen

Abseits neuer Qualitätskriterien für bestimmte Bauvorhaben bedürfte eine nachhaltige Stadtentwicklung auch eines grundsätzlich anderen Qualitätsbewusstseins in den Planungsämtern. So basierten in den letzten zwei Jahrzehnten viele Flächenwidmungen auf der kurzfristi- gen Rentabilitätserwartung des Grundstückseigentümers oder Projektentwicklers statt auf urbanistischen Zielsetzungen oder dem Interessenausgleich unter allen Akteuren. Auch das, was Planungsbeamte unter einer stadtverträglichen Bebauungsdichte verstehen, hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre massiv nach oben verschoben. Insofern geht das Ziel der Grünen, mehr Gewicht auf Freiflächen zu legen, in die richtige Richtung.

Der überfällige Paradigmenwechsel im Wiener Städtebau wird nicht im Planungsressort allein zu bewältigen sein. Gleich mehrere Stadträte - allen voran der Wohnbaustadtrat, der für die Wiener Bauordnung, die Baupolizei oder auch die Vergabe der Wohnbauförderung zuständig ist - haben stadtplanungsrelevante Kompetenzen inne und können diesen Paradigmenwechsel begünstigen oder verhindern. Genau ist die Bereitschaft von Bauträgern, Unternehmern und Investoren vonnöten, ihr Wirken - stärker als bisher - als Beitrag für eine lebenswerte Stadt zu verstehen. Insofern ist Vassilakou aufgerufen, in einer breiten Öffentlichkeit baukulturelles Bewusstsein zu erzeugen, zumal die Grünen um Unterstützung für gravierende Änderungen im Planungs- und Baurecht werben - etwa für die öffentliche Abschöpfung privater Widmungsgewinne.

Auch das Bewusstsein der meisten Abgeordneten im Gemeinderat bedürfte einer Schärfung, insbesondere was die Wahrnehmung der von ihnen selbst beschlossenen übergeordneten Ziele für die Stadtentwicklung betrifft: der Stadtentwicklungspläne, der Verkehrskonzepte, des Grünraum- oder auch des Hochhauskonzepts. Diese wurden - weil rechtlich unverbindlich - in den vergangenen zwei Dekaden oft übergangen, wenn es um den Beschluss parteipolitisch forcierter Flächenwidmungs- und Bebauungspläne ging. Urbanistische Problemfälle wie die Wienerberg City oder Monte Laa zeugen von dieser Praxis.

Darüber hinaus fehlen gesamtstädtische Konzepte für Büro- und Einzelhandelsstandorte, um den - über die reale Nachfrage weit hinausschießenden - Boom an großmaßstäblichen Büro- und Handelskomplexen in geordnete Bahnen zu lenken. Wiens diesbezügliche Laisser-faire-Politik führte zu einer massiven Abwanderung von Arbeitsstätten aus den gut erschlossenen, traditionellen Zentren - und zur Verödung der gewachsenen Geschäftsstraßen. Die Entwicklung in diesen beiden für die Stadt essenziellen Bereichen weiterhin den Marktkräften zu überlassen wäre ein Verbrechen an der Zukunft Wiens.

Immerhin enthält das Koalitionspapier ein klares Bekenntnis zur Revitalisierung der Einkaufsstraßen, wozu es deutlich mehr braucht, als die bisherigen Mittel für Weihnachtsbeleuchtung und Schaufenstergestaltung. Und auch die Wiener Märkte, von denen viele (eine erfreuliche Ausnahme ist der Brunnenmarkt) in den letzten Jahren zu Tode saniert oder fragwürdigen Projekten geopfert wurden (zuletzt der Landstraßer Markt; als Nächstes ist der Meiselmarkt durch ein spekulatives Bauvorhaben bedroht), scheinen von der rot-grünen Regierung - vielleicht zu spät - jene Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie als Kristallisationspunkte urbanen Lebens verdienen.

An der Schnittstelle zwischen hochbaulicher und verkehrlicher Entwicklung liegt das Thema des öffentlichen Raums, das zuletzt zwar von Politik und Verwaltung, Wissenschaft, Kunstszene und Architektenschaft mit viel Verve diskutiert, idealisiert und mit zahlreichen Bedeutungen aufgeladen wurde, aber in seiner faktischen Behandlung nach wie vor im Argen liegt. So lange die in Wien omnipräsenten Autos den städtischen Freiraum besetzen, bleibt dieser anderweitigen Nutzungen vorenthalten. Was bisher als politisches Tabu galt, nämlich oberirdische Parkplätze zu reduzieren und die Fahrzeuge unter die Erde zu verbannen, wird künftig zumindest diskutiert werden. Hilfreich wäre dabei auch die ebenfalls erwogene Ausdehnung der moderaten Parkraumbewirtschaftung auf die Außenbezirke. Der so zu gewinnende Platz soll laut rot-grünen Plänen neuen Fußgängerzonen, prinzipiell breiteren Gehsteigen sowie einem für Radfahrer attraktiveren Straßennetz zugutekommen.

Eine zentrale Forderung der Grünen ist die Verdichtung und Beschleunigung des Straßenbahn- und Busnetzes. Dies wird im Regierungsprogramm nicht zum ersten Mal proklamiert. Es besteht die Hoffnung, dass es die neue Verkehrsstadträtin ernster meint als ihre Vorgänger. Während Wien beim teuren U-Bahn-Bau eher über das sinnvolle Maß hinausschießt, darbt das Schnellbahnnetz - dem zur Bewältigung der autoabhängigen Pendlerströme große Bedeutung zukäme. Auch das wird im Koalitionspapier thematisiert. Doch zeigt sich hier, wie sehr ein verkehrspolitischer Wandel von der Wandlungsfähigkeit anderer Ressorts abhängt: Die Wiener Linien unterstehen der Finanzstadträtin - und die S-Bahnen den ÖBB respektive der Infrastrukturministerin. Ohne deren Kooperationsbereitschaft dürften viele Strategiepapiere aus dem Büro Vassilakou zu Makulatur werden.

28. August 2010 Spectrum

Dubai an der Donau

220 Meter hoch soll er werden, der „DC Tower 1“, ein „Wahrzeichen“ für die „Innovationskraft“. In Wahrheit hat seine Errichtung – wie die des Areals rundum – nichts mit innovativem Stadtbau, dafür viel mit Profitkalkül zu tun. Wiens Donau City: Protokoll einer vergebenen Chance.

Mit dem DC Tower 1 und in weiterer Folge mit dem DC Tower 2 erhält Wien nun zwei weitere, ebenso bedeutende wie beeindruckende Landmarks, die als zeitgemäßes Wahrzeichen die Innovationskraft der Stadt weithin sichtbar machen“, hieß es in den Sonderbeilagen und Einschaltungen, die in den vergangenen Wochen den heimischen Zeitungen anlässlich der Grundsteinlegung für das mit 220 Metern bald höchste Gebäude Österreichs zu entnehmen waren. Allein dieser eine Satz sagt vieles aus über Wiens aktuelles Verständnis von Städtebau im Allgemeinen sowie über die Donau City im Besonderen, das vermeintliche zweite Zentrum der Stadt.

Während landauf, landab von Nachhaltigkeit die Rede ist – was im Städtebau so viel bedeuten würde, wie Gebäude, Quartiere, ja ganze Stadtteile so kleinteilig und differenziert zu entwickeln, dass Wohnen und Arbeiten, Handel und Gastronomie, Bildung und Soziales, Freizeit und Kultur möglichst stark ineinandergreifen können – wird in Wien eine monumentale „Landmark“ errichtet. Zwar nicht ganz so gigantisch wie in Dubai oder Taipeh, aber doch von derselben Geisteshaltung getragen, die da lautet: je größer, desto besser, je lauter, desto schöner.

„Zeitgemäß“ ist daran ebenso wenig wie „innovativ“. Während die Donaumetropole etwa in der sanften Stadterneuerung nach wie vor als internationale Modellstadt gilt, ist von Wiens Städtebau und Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte kaum Mustergültiges im Ausland bekannt. In der westeuropäischen Fachwelt gelten Hochhausviertel mit überwiegend monofunktionalen Wohn- und Bürokomplexen samt dazwischenliegenden, öden Freiräumen als Rückfall in die Moderne der 1960er- und 1970er-Jahre. Wiens Stadtväter indes preisen diesen auch am Wienerberg oder entlang der Wagramer Straße erprobten Städtebau als zukunftsweisend an – sehr zum Wohlgefallen von Projektentwicklern, Bau- und Immobilienwirtschaft, deren Gewinnkalkulationen auf maximaler Quantität statt dauerhafter Qualität basieren. Nun noch ein „weithin sichtbares Wahrzeichen“ in ein Viertel zu setzen, das zwar den Anspruch auf Urbanität erhebt, aber durch zahlreiche andere auf sich bezogene Wahrzeichen ohnehin schon wie die gebaute Antithese zu städtischer Vitalität anmutet, kann als Krönung von Wiens planungspolitischer Widersprüchlichkeit angesehen werden.

Dabei schienen die Voraussetzungen wie geschaffen, um auf dem ursprünglich für die Expo 95 vorgesehenen Standort einen mustergültigen Stadtteil zu realisieren. Der Baugrund hatte nach Entsorgung einer Mülldeponie aus der Nachkriegszeit sowie der Überplattung der A22, die das Areal von der Neuen Donau abgeschnitten hatte, eine wahre Gunstlage – unmittelbar am Wasser, mit Blick auf Leopoldsberg und Kahlenberg, erschlossen sowohl durch Autobahn und Bundesstraße wie auch durch die U-Bahn-Linie 1. Und nicht zuletzt gehörte das 17 Hektar große Areal der Stadt Wien, sodass Eigentumsrecht und Planungsrecht in einer Hand lagen. Doch gab das Rathaus diese Chance einer konzertierten Projektentwicklung leichtfertigaus der Hand und übertrug die Liegenschaft sowie de facto auch die Planungshoheit 1995 an die WED, die WienerEntwicklungsgesellschaft für den Donauraum,hinter der ein Konsortium heimischer Banken und Versicherungen unter Federführung der rathausnahen Bank Austria steht. Damit waren all die hehren, von den Stadtvätern ventilierten Ziele für die Donau City fortan vom Goodwill privater Investoren abhängig: sowohl der Anspruch, auf dem Standort ein zweites Stadtzentrum für die boomenden transdanubischen Bezirke zu schaffen, als auch die Idee, gemäß dem Masterplan von 1991 ein dichtes, urbanes, aber dennoch durchgrüntes Ensemble zu errichten.

Dieser erste Masterplan von Adolf Krischanitz und Heinz Neumann sah für Wiens zweite City zwei Bezugsebenen vor. Die Grundebene auf tatsächlichem Bodenniveau sollte von einem städtischen Straßennetz durchzogen werden und unter anderem den motorisierten Verkehr aufnehmen, aber auch reichlich Platz für eine üppige Bepflanzung bieten. Die sogenannte Null-Ebene – etwa zehn Meter über dem Grund, auf Höhe der Platte über der A22 – wurde von den beiden Architekten für Fußgänger und Radfahrer, für Aufenthalt und Kommunikation reserviert. So hätte laut Adolf Krischanitz „ein dreidimensionaler öffentlicher Raum mit zwei Erdgeschoßzonen übereinander“ entstehen können, mit attraktiven Flächen für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie.

Die obere Ebene wurde dabei – mit Ausnahme des Bereichs direkt über der Autobahn – nicht als durchgehende Fläche konzipiert, sondern als Netzwerk von Stegen, Brücken und platzartigen Erweiterungen, das sich von Gebäude zu Gebäude spannen und dazwischen die Bepflanzung der Grundebene nach oben durchdringen lassen sollte. Krischanitz und Neumann entwickelten ein komplexes System für einen modulartigen Städtebau, der trotz hoher Flexibilität eine räumliche Gesamtordnung erzeugt hätte –etwa eine Abstufung der Gebäudehöhen zur Neuen Donau hin. Beimdarauf basierenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplan von 1995scheute die WienerStadtplanung jedoch davor zurück, den Investoren derart konkrete Vorgaben zu machen, und ließ insbesondere bei den geplanten Bürotürmen Lage, Form und Höhe der einzelnen Baukörper weitgehend offen – „um die Kreativität der Architekten hier nicht zu sehr einzuschränken“. Nach 15 Jahren Bauzeit, in denen die Donau City etwa zu zwei Dritteln fertiggestellt wurde, zeigt sich, dass dieses Vakuum an städtebaulichen Vorgaben vor allem die Kreativität der Bauträger beflügelte, ihre Gebäude unter Ausblendung des jeweiligen Umfelds sowie der Ziele für den gesamten Stadtteil zu optimieren. So ist der Ares Tower völlig anders situiert als ursprünglich vorgesehen und erreicht mit 100 Metern mehr als das Doppelte jener Höhe, die im damals gültigen Plandokument festgesetzt worden war.

Weitgehend ignoriert wurde auch das geplante Wechselspiel der beiden Ebenen des öffentlichen Raums in der Donau City. Heute trennt eine monolithische Betonplatte „unten“ von „oben“, wobei sich die Funktion der Grundebene ausschließlich auf die Bewältigung des fließenden und ruhenden Autoverkehrs beschränkt. Während das Konzept von 1991 noch 2000 bis 2500 KFZ-Stellplätze vorsah, werden es nach dem Endausbau 6500 sein. Eine Durchgrünung beider Ebenen wurde – abgesehen von zwei kleineren Bereichen – dadurch verhindert.

Die verkehrsfreie Null-Ebene bietet zum einen weitläufige öffentliche Räume, die – weil extrem wind- und wetterexponiert – die meiste Zeit des Jahres nur eingeschränkt nutzbar sind. Zum anderen herrscht mancherorts erdrückende Enge zwischen den hohen, sich nach außen verschließenden Baukörpern. Schlug der Masterplan noch zwei Geschäftsebenen übereinander vor, so verhindern heute die meisten Gebäude mit ihren abweisenden Erdgeschoßzonen selbst auf der als Flanierzone gedachten Null-Ebene jegliche urbane Nutzung.

Der Chef-Developer der Donau City, WED-Vorstandsdirektor Thomas Jakoubek, rechtfertigt das zur Normalität gewordene Abweichen von den ursprünglichen Zielen mit ökonomischen Zwängen: „Im Zuge der Realisierung und Verwertung ergaben sich einfach andere Notwendigkeiten. Beispielsweise zeigte sich, dass die vorgesehene Blockrandbebauung schlecht vermarktbar ist.“ Dass die Verwertungsinteressen der Immobilienbrache zur Maxime für die Entwicklung von Wiens prestigeträchtigstem Städtebauprojekt geworden sind, stellt der Planungspolitik kein gutes Zeugnis aus. Denn es heißt nichts anderes, als dass sie sich vom Anspruch verabschiedet hat, im Voraus einen Ausgleich aller Interessen – also auch jener der Allgemeinheit – zu erzielen, und ihre Rolle nur noch in der nachträglichen Legitimierung bauwirtschaftlicher Begehrlichkeiten sieht.

Selbst das einzige auch vertraglich zwischen Rathaus und WED festgelegte Qualitätskriterium erwies sich bald als reine Kannbestimmung. Um in der modernen City eine entsprechende funktionale Vielfalt sicherzustellen, wurde ein Nutzungsmix vereinbart. Demnach sollten 34 Prozent des Bauvolumens auf Büros und Geschäfte entfallen, 30 Prozent auf Wohnungen, 24 Prozent auf Bildung und Wissenschaft, acht Prozent auf Kultur und Freizeit sowie vier Prozent auf Hotellerie. Die Wohnungen wurden in kürzester Zeit realisiert. Doch so exklusiv die Bürotürme der Donau City wirken, so konventionell erscheint dagegen der „Wohnpark“ – weshalb er, von einigen Gunstlagen abgesehen, frei finanziert kaum verwertbar gewesen wäre. So bedurfte es der Wiener Wohnbauförderung, um das Gros der in enormer Dichte errichteten Wohnungen subventioniert an den Mann zu bringen – zumal aufgrund des wenig durchdachten Städtebaus bei Weitem nicht alle Menschen, die hier unmittelbar an der Donau wohnen, den Fluss tatsächlich sehen.

Der vermeintlich direkte U-Bahn-Anschluss durch die U1-Station Kaisermühlen bedeutet für die Bewohner einen täglichen Fußweg von rund 500 Metern, was im innerstädtischen Bereich dem Abstand zweier U-Bahn-Stationen entspricht. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Wohnungen im hintersten Teil der „Platte“ angesiedelt wurden – die besser erschlossenen Standorte blieben den teurer vermietbaren Bürohochhäusern vorbehalten. Unweit des Wohnparks endet auch der Tunnel der A22, wodurch dieses Quartier wie kein anderer Bereich der Donau City von Verkehrslärm beeinträchtigt wird.

WED-Direktor Thomas Jakoubek räumt ein, dass die Wohnbebauung vor allem den Sinn gehabt habe, ein Mindestmaß an Nahversorgung im neuen Stadtteil herzustellen – sprich, den Standort für höherwertige Funktionen aufzubereiten: „Durch Büronutzer allein würde sich ein Dienstleistungsangebot, das auch nur annähernd städtische Standards erreicht, niemals entwickeln.“ Gilt die Nahversorgungs- und Gastronomievielfalt auf der „Platte“ als bescheiden, so ist das zugesagte Angebot an Wissenschafts-, Bildungs-und Kultureinrichtungen so gut wie inexistent. Immer wieder kündigte die Stadt Wien Kulturgroßprojekte wie ein Guggenheim-Museum oder ein Opernhaus für die Donau City an. Über ein Jahrzehnt hielt die Planungspolitik auch die Illusion aufrecht, auf der „Platte“ werde einst eine Universität entstehen; doch fehlten zum einen die nötigen Finanzmittel des Bundes, zum anderen aber auch ein seriöses Standortkonzept des Rathauses. So klafft auf dem für einen hochrangigen Bildungsbau reservierten Standort direkt neben dem Andromeda Tower bis heute ein riesiges Loch.

Dieses Loch findet sich im übertragenen Sinn auch im kommunalen Budget wieder. Denn als 1995 das um etwa eine Milliarde Schilling von Altlasten befreite und mit großem Aufwand baureif gemachte Areal verkauft wurde, stundete das Rathaus der WED vom Gesamtpreis von 868 Millionen Schilling ganze 590 Millionen – wofür sich die WED im Gegenzug verpflichtete, besagten Universitätsstandort im Bedarfsfall für einen öffentlichen Nutzer zu entwickeln und den Verkaufserlös an die Kommune abzuführen. Da ein Preisnachlass von 68 Prozent in keinem Verhältnis zur Dimension des betreffenden Grundstücks stand, prangerte die Rathaus-Opposition dieses Konstrukt als bewussten Abverkauf der Donau City an – und wies zudem darauf hin, dass das Brachland im fiktiven Wert von umgerechnet 43 Millionen Euro seit nunmehr 15 Jahren unverzinst in den Büchern der Stadt Wien aufscheine. Inzwischen hat die Stadtregierung ihre Hoffnung auf einen Universitätsbau aufgegeben und beschlossen, den Standort ungeachtet der einst festgelegten Funktionsmischung für weitere Wohnbauten zu nutzen. Der damals gestundete Betrag wird durch die Verwertung für teils sozialen Wohnbau mit Sicherheit nicht wieder eingespielt werden, weshalb das Rathaus dierestliche Summe wohl oder übel wird abschreiben müssen. In der freien Wirtschaft würde man Manager, die solches zu verantworten haben, feuern oder gar anklagen – in der heimischen Politik hingegen bleibt so etwas ohne Konsequenzen.

Dabei ist das nicht das einzige Geschenk der öffentlichen Hand an die private Entwicklungsgesellschaft. Denn der Kaufpreis für die Donau City wurde aufgrund des 1995 definierten maximalen Bauvolumens von 1,65 Millionen Kubikmetern errechnet. Spätestens nach Fertigstellung der geplanten Wohnbauten sowie der zwei Wolkenkratzer wird diese Kubatur aber bei Weitem überschritten sein. Daher verständigten sich Rathaus und WED bereits 2002 auf eine mögliche Zusatzkubatur von 250.000 Kubikmetern – ohne auch nur im Geringsten eine Nachzahlung seitens der Nutznießer zu erwägen. Die als Zwillinge geplanten Türme führen vor Augen, wie willfährig die Stadtplanung dem Developer der Donau City zuarbeitet. So beschränkte der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan von 1995 die Höhenentwicklung auf der „Platte“ noch mit 120 Metern. Nur sieben Jahre später bat dieWED den französischen Stararchitekten Domini- que Perrault um einen neuen Masterplan fürdie Donau City, der unter anderem zwei Türme mit 160 und 200 Metern Höhe vorsah – für deren Entwurf Perrault selbst beauftragt wurde. Die Stadt Wien setzte die im Masterplan artikulierten Wünsche der WED 2007 eins zu eins in einen neuen Flächenwidmungs- und Bebauungsplan um – um nur kurze Zeit später vom Developer mit dem Begehren konfrontiert zu werden, die Türme mögen doch noch etwas höher, nämlich mit 175 und 220 Metern genehmigt werden.

In den darauffolgenden drei Jahren war immer wieder die Rede von einem baldigen Baubeginn, der sich wohl nicht so sehr wegen der internationalen Finanzkrise als wegen der schon chronischen Übersättigung des Wiener Büromarkts von Mal zu Mal verzögerte. Die Immobilienannoncen zeigen, dass selbst in der Donau City, etwa im Saturn Tower, große Büroeinheiten dauerhaft leer stehen. So ist es schlüssig, dass die WED nun zunächst nur einen der zwei DC Tower, nämlich den höheren, errichtet – obwohl es auch hier noch keine nennenswerten Mieter für die rund 40.000 Quadratmeter Bürofläche gibt. Hingegen hat der Developer seit Längerem eine internationale Hotelkette als Großabnehmer von 15 Stockwerken unter Vertrag – dessen verpflichtend fristgerechte Erfüllung auch der Grund sein dürfte, warum der Start nicht noch weiter hinausgeschoben werden konnte.

Womit die restlichen 45 Geschoße befüllt werden sollen, scheint nach wie vor nicht ganz geklärt. Bezeichnend ist, dass der DC Tower 2 nun doch nicht 175 Meter hoch werden, sondern sich auf 160 Meter beschränken soll – und definitiv erst in Angriff genommen wird, wenn der DC Tower 1 verwertet ist. Von dem dritten, 120 Meter hohen Turm schließlich, den Dominique Perrault in seinem Masterplan – je nach Marktlage – optional vorgesehen hatte, war schon länger nichts mehr zu hören.

Vonseiten der WED vernimmt man freilich ganz andere Begründungen für den erst kürzlich erfolgten Spatenstich: Man habe die Zeit seit 2007 genutzt, um das 300-Millionen-Euro-Projekt noch günstiger – und vor allem noch ökologischer, noch nachhaltiger zu machen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit ein Gebäude wie der DC Tower 1 überhaupt umweltgerecht sein kann: In spätestens zehn Jahren wird die heute eingesetzte Baustoff- und Energietechnologie wieder veraltet sein – ein Nachrüsten oder Sanieren eines 220 Meter hohen Glaspalasts aber bedeutend teurer kommen als bei herkömmlichen Gebäuden. Und ob das der Wiener Büromarkt mit seinen extrem niedrigen Mieten wirtschaftlich tragen wird, ist fraglich.

Der ursprünglich für 2012 erhoffte Endausbau der „Platte“, auf der einmal mehr als 15.000 Menschen wohnen und arbeiten sollen, wird wohl noch länger auf sich warten lassen. Und so lange werden Rathaus wie auch WED jegliche Kritik an der städtebaulichen Qualität des Viertels mit der Begründung zurückweisen, es sei eben noch nicht fertig. Auch Österreichs wichtigster Architekturtheoretiker, Friedrich Achleitner, hält den gegenwärtigen Zeitpunkt für zu früh, um den neuen Stadtteil zu beurteilen – auch wenn sich dahinter weniger Zuversicht verbirgt als bei den Machern des Prestigeprojekts: „Eine römische Planstadt hat rund 300 Jahre zur Entwicklung gebraucht – wir blicken jetzt erst auf 15 Jahre Donau City zurück. Allerdings sehe ich hier zugegebenermaßen nur mehr wenig Spielraum für die nächsten 285 Jahre...“

20. März 2010 Der Standard

Kleinvieh macht auch Mist

Fragwürdige Planungen, undurchsichtige Vergabeverfahren, explodierende Baukosten - kaum ein öffentliches Großprojekt ohne „Unregelmäßigkeiten“. Vieles läuft „wie geschmiert“.

Dass Skandale wie bei der Errichtung des Entrees zum Wiener Prater oder des Skylink am Flughafen Schwechat immer wieder passieren, ist schlimm genug. Dass sie oft ohne rechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung bleiben, ist noch viel bedenklicher. Nach wie vor wird Misswirtschaft im öffentlichen Sektor mit der Blauäugigkeit der Entscheidungsträger entschuldigt, nach wie vor wird Korruption mit Begriffen wie Freunderlwirtschaft und ähnlichen Verharmlosungen abgetan.

Die Akzeptanz dieser Unsitten dürfte unter anderem darin begründet sein, dass die Benefits eines „wie geschmiert“ funktionierenden Planungs- und Bauwesens eine recht breite Streuung aufweisen. Eine Statistik des Deutschen Bundeskriminalamts über die Verteilung von Schmiergeldern nach Branchen stützt diese Vermutung: Mit einem Anteil von 25,4 Prozent sind Baubehörden absolute Spitzenreiter - weit vor Gesundheitswesen oder Polizei.

Allein durch Preisabsprachen bei öffentlichen Baumaßnahmen entsteht in der Bundesrepublik jährlich ein volkswirtschaftlicher Schaden von fünf Milliarden Euro, der nicht allein aus überteuerten Großprojekten, sondern auch aus systematischer Korruption an der Basis resultiert. In den meisten Fällen handelt es sich nicht um einen Betrug am Auftraggeber, sondern um einen Betrug gemeinsam mit den maßgeblichen Amtsinhabern. Bei allen kulturellen Verschiedenheiten zwischen Deutschland und Österreich dürfte die Situation hierzulande nicht viel anders sein.

Ein Unterschied besteht dagegen zwischen Stadt und Land. Angeblich halten Landbürgermeister oder Gemeindesekretäre nicht so leicht die Hand auf, da sich das schnell herumsprechen würde. So werden rasche Baugenehmigungen lieber für die Zusage erteilt, dass die ganze Familie künftig die richtige Partei wählt - und lukrative Aufträge oder wertsteigernde Grundstücksumwidmungen gern innerhalb der weitverzweigten Verwandtschaft der Gemeindeväter gewährt. In der Großstadt hingegen ist die Anonymität zwischen Bestechenden ein guter und nützlicher Schutz.

Dennoch gibt es auch hier Verhaltensregeln für Politiker und Beamte mit Interesse an Nebeneinkünften. Die wichtigste lautet, niemals explizit Geld zu fordern oder gar eine konkrete Summe zu nennen. So erfuhr manch Wiener Häuslbauer noch zu Schilling-Zeiten, dass bei seiner Baugenehmigung § 5 zur Anwendung kommen würde. Der Antragsteller war gut beraten, nicht etwa in der Bauordnung nachzuschlagen, sondern seinen Unterlagen 5000 Schilling beizulegen. In besonders heiklen Fällen verwiesen korrupte Baupolizisten auch auf § 10.

Nach welchen Paragrafen einige Beamte seit der Währungsumstellung Baugenehmigungen erteilen, war nicht zu eruieren. Als Richtwert gilt jedoch, dass - falls man an den falschen Baupolizisten gerät - rund 700 Euro nötig sind, um aus einem vermeintlich fehlerhaften Plan für ein Einfamilienhaus ein bewilligungsfähiges Dokument zu machen.

Bei größeren Bauvorhaben werden bei der Behörde meist Architekten vorstellig. Bei ihren Plänen müssen „überkorrekte“ Beamte schon ins Detail gehen, um Gründe für eine Verhinderung oder Verzögerung der Baugenehmigung zu finden. Beliebt ist die Bemängelung des Kanalplans, der die Entwässerung eines Gebäudes darstellt. Zwar gibt es dafür Normen, doch bieten diese einen breiten Interpretationsspielraum.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Zum Beispiel müssen im Abwassersystem Putztüren vorgesehen werden. Allein, die Frage nach der richtigen Position stellt sich nach jeder Richtungsänderung eines Rohres von Neuem. So kommt es vor, dass Beamte letztlich vom Architekten beauftragt werden, den Kanalplan gegen entsprechendes Honorar selbst zu zeichnen. Bei öffentlichen Aufträgen ist das Bakschisch freilich aus eigener Tasche zu zahlen.

Auch Bauverhandlungen und sogenannte Kollaudierungen bieten manch Beamten Möglichkeiten zur Aufbesserung ihres Gehalts. So ist die Verlegung einer Bauverhandlung von der Baustelle ins Amtsgebäude der Baupolizei versierten Projektentwicklern eine kleine Gefälligkeit wert, da Anrainer, die Einsprüche gegen eine Planung erheben könnten, sich selten die Mühe machen, dafür zum Magistrat zu gehen.

Kollaudierungen, also Überprüfungen der planungsgemäßen Bauausführung, werden immer wieder von einem üppigen Mittagessen begleitet, das der Bauherr ausrichtet. Wird bei der Begehung die eine oder andere Bausünde übersehen, kann es schon vorkommen, dass eine gute Flasche oder ein Kuvert mit 500 bis 1000 Euro den Besitzer wechselt.

Hinzu kommt, dass das Rathaus begonnen hat, das Problem Korruption offener anzugehen. Wiens Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, für „anfällige“ Magistratsabteilungen wie die Baupolizei und das städtische Liegenschaftsmanagement ebenso verantwortlich wie für die 220.000 Gemeindebauten, verweist auf mehrere Fälle während seiner dreijährigen Amtszeit, in denen bestechliche Beamte aus dem Ressort selbst wegen Bagatelldelikten ihrer Aufgaben enthoben oder gar gekündigt wurden. Allerdings, so der Vizebürgermeister, könne man nicht auf Verdacht, sondern erst auf konkrete Hinweise reagieren. Wo kein Kläger, da kein Richter. Die Beobachtung zeigt, dass höhere Beamte ihre Entscheidungen seltener mit eindeutigen Erwartungen gegenüber den Antragstellern verknüpfen. Umworben wird in diesen Fällen nicht nur mit Geld, sondern auch mit Einladungen zu opulenten Festen, gemeinsamen Urlauben oder anderen praktischen Annehmlichkeiten. Immerhin geht es darum, eine lukrativere Flächenwidmung zu bekommen oder mithilfe des berüchtigten Ausnahmeparagraphen 69 ein Projekt höher, breiter oder einfach nur gewinnbringender (als ursprünglich genehmigt) bauen zu können. Da es dabei mitunter um Wertsteigerungen in Millionenhöhe geht, wäre es nicht verwunderlich, wenn einzelne gut bestallte Spitzenbeamte nicht nur beide Augen zudrücken, sondern auch die Hand aufhalten.

Wie anfällig das Wiener Planungs- und Bauwesen für Unregelmäßigkeiten dieser Art ist, zeigten in den letzten Jahren mehrere Kontrollamtsberichte - etwa jener von 2002 über die Magistratsabteilung MA 21B: Deren früherer Leiter war nebenberuflich Konsulent eines Wohnbauträgers und versuchte, für diesen eine geschützte Grünfläche in Bauland umzuwidmen. Die wohlgemerkt höchst unübliche Amtshandlung hätte eine Wertsteigerung in der Höhe von 9 Millionen Euro mit sich gebracht.

2001 untersuchte das Kontrollamt 132 großflächige Handelsobjekte, die in den Neunzigerjahren in Wien entstanden waren: In mehr als 40 Prozent der Fälle fehlten die erforderlichen Widmungen oder Genehmigungen für ein Einkaufszentrum - geflissentlich geduldet von der Baubehörde.

Die Reaktion der Wiener Stadtregierung auf diese Missstände bestand darin, die kontrollierten Magistratsabteilungen einfach aufzulösen beziehungsweise den Abteilungsleiter in Pension zu schicken. Die zuständigen Stadträte erweckten den Eindruck, als hätten sie damit nicht das Geringste zu tun gehabt. Selbstverständlich gibt es keine Hinweise darauf, dass hochrangige politische Repräsentanten der Stadt schwarze Koffer mit Geld entgegennähmen. Es gibt auch andere Verlockungen, die Entscheidungen beeinflussen könnten - von Parteispenden, die in Österreich nicht offengelegt werden müssen, über kostenlose politische Werbung in Medien bis zu gutbezahlten Funktionen nach der Rathaus-Karriere.

Wer nun meint, Bestechung und Begünstigung wären der Normalfall in der Planungs- und Bauverwaltung, der irrt natürlich - und würde der Mehrheit integrer Beamter unrecht tun. Wer jedoch denkt, es handle sich bloß um Ausnahmefälle, und seine Augen vor den teils systemimmanenten Missständen verschließt, darf sich nicht wundern, wenn auch künftig so gut wie jedes öffentliche Großprojekt zu einem Fall für den Rechnungshof, für das Kontrollamt oder für parlamentarische Untersuchungsausschüsse wird.

Auch hier gibt es Verhaltensregeln für Politiker und Beamte mit Interesse an Nebeneinkünften. Die wichtigste lautet, niemals explizit Geld zu fordern oder eine Summe zu nennen.

21. März 2009 Der Standard

Gut gemeint ist oft zu wenig

Einen neuen Hauptbahnhof hat Salzburg noch immer nicht, dafür aber ein neues Bahnhofsviertel. Eine „zweite City“, wie ursprünglich angedacht, ist um den Bahnhof aber nicht entstanden.

Die Idee, das Salzburger Bahnhofsviertel zu einem zweiten Stadtzentrum - rund zwei Kilometer von der historischen Altstadt entfernt - auszubauen, stammt bereits aus den Nachkriegsjahren. Und sie hat bis heute nichts an Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Der anstehende Umbau des Hauptbahnhofs zu einem zeitgemäßen Nah- und Fernverkehrsknoten sowie die angelaufene Modernisierung des Schienennetzes im Land Salzburg legen - angesichts des Autoverkehrs und dessen Folgen für Umwelt und Klima - nahe, diesen Standort mit möglichst vielen urbanen Funktionen anzureichern. Dazu kommt die für Salzburg spezifische Problematik, kaum über Erweiterungsflächen zu verfügen, die nicht auch hochwertige Landschaftsräume darstellen. Insofern ist eine bauliche Verdichtung der zentral gelegenen Brachflächen von Post und ÖBB in mehrfacher Hinsicht vernünftig.

Wie die meisten Projekte zum Umbau von Bahnhofsvierteln wurden auch die Pläne für das Areal des Salzburger Hauptbahnhofs immer wieder über den Haufen geworfen und bis dato nur bruchstückhaft realisiert. Die Gründe: wechselnde Grundeigentumsverhältnisse, sich mehrmals ändernde Konzernstrukturen der Investoren sowie partikuläre Interessen der verschiedenen Akteure. So beschränkte sich die Umsetzung von Joachim Schürmanns siegreichem Wettbewerbsbeitrag aus dem Jahr 1986 auf die Tieferlegung der Salzburger Lokalbahn, die Errichtung einer Tiefgarage und die sich bis ins Jahr 1998 dahinschleppende Neugestaltung des dem Bahnhof vorgelagerten weitläufigen Südtiroler Platzes. Manch andere Ideen aus dieser Zeit, etwa der bereits behördlich genehmigte Abriss des jahrzehntelang angefeindeten 16-stöckigen Hotels Europa oder dessen stadträumliche „Kaschierung“ durch davor hingesetzte Neubauten, blieben glücklicherweise unrealisiert.

Verströmende Tristesse

So erfolgreich am Südtiroler Platz die Neuordnung der komplizierten Verkehrsströme von O-Bussen, Regionalbussen, Taxis, privaten Autos, Radfahrern und Fußgängern gelang und so richtig die Zweiteilung des Freiraums in einen ruhigeren „grünen“ Bereich aufseiten der angrenzenden Wohnbauten und in einen geschäftigeren „steinernen“ Bereich unmittelbar vor dem Stationsgebäude war, so unbefriedigend ist heute die Vitalität des vermeintlich urbanen Bahnhofsvorplatzes. Das liegt zum einen an seiner, sagen wir bescheidenen - Gestaltung und zum anderen daran, dass die Österreichischen Bundesbahnen als dessen Grundeigentümer nicht sonderlich an seiner Belebung interessiert scheinen. Dies beginnt beim Brunnen in der Platzmitte, der - meist wasserlos - Tristesse verströmt, und endet beim geringen Engagement der Österreichischen Bundesbahnen für eine regelmäßige Bespielung dieses Ortes.

Als alle Grundeigentümer und Investoren des Bahnhofsviertels 15 Jahre nach dem Wettbewerb schließlich doch so weit waren, die Überbauung der ersten brachliegenden Areale in Angriff zu nehmen, waren die Planungen natürlich längst überholt. In einem neuerlichen städtebaulichen Wettbewerb setzte sich im Jahr 2004 Architekt Ludwig Kofler durch, dessen Bauten seit 2007 nach und nach in Betrieb gegangen sind: zunächst das 47 Meter hohe Verwaltungsgebäude der Salzburger Gebietskrankenkasse, im Spätsommer 2008 das neue „Forum“, ein Komplex mit 8000 Quadratmetern Einzelhandelsfläche und einem bis zu 30 Meter aufragenden Hotelflügel, sowie jüngst - als Schlusspunkt der ersten Bauetappe - ein bis zu 25 Meter hoher Wohn- und Büroriegel, der sich unmittelbar entlang der Bahngleise erstreckt.

Die so geschaffenen Volumina passen - ebenso wie die hier angesiedelten Funktionen - für sich genommen durchaus zum Standort, der spätestens seit Errichtung des alten „Forums“ mit den 17-geschoßigen „Zyla-Türmen“ ohnehin über eine spezielle, großstädtische Maßstäblichkeit verfügt. Doch erzeugen Anordnung und Gestaltung der neuen Baumassen weder eine besondere stadträumliche Qualität, noch gehen sie auf das zentrale Gebäude dieses Quartiers ein - das nun einmal der Bahnhof von 1860 ist. Dessen linker Seitenflügel wird durch den Hotel-Aufbau des neuen „Forums“ im wahrsten Sinn des Wortes überschattet. Dabei hätte die rund zehn Meter hohe Sockelzone des Neubaus die Dimension des gründerzeitlichen Baudenkmals aufgegriffen.

Visuelle Marginalisierung

Der hoch aufragende, fünfgeschoßige Hoteltrakt wurde jedoch unmittelbar an der Seite zum Bahnhof und nicht etwa - mit gebührendem Abstand - an der gegenüberliegenden Seite zum alten „Forum“ hin draufgesetzt. So bleibt Ludwig Koflers dahinterliegender 13-geschoßiger Krankenkassenbau auch vom Bahnhofsvorplatz aus wahrnehmbar - allerdings um den Preis der visuellen Marginalisierung des historischen Stationsgebäudes.

An der gläsernen Hauptfront kommuniziert das neue „Forum“ mit dem Südtiroler Platz, von wo es Kunden und Gäste anzuziehen versucht. An den beiden Seitenfronten dagegen ignoriert das baublockgroße Gebäude auf jeweils 150 Metern den angrenzenden öffentlichen Raum: Die komplette Ostseite entlang des Bahnhofsgebäudes dient der Warenanlieferung und Müllentsorgung des Einkaufszentrums, wodurch eine dauerhafte Verödung vorprogrammiert ist. An der Westseite schottet sich der Bau fast komplett ab, um - den Vorgaben der Shopping-Strategen folgend - die Besucherströme auf die Mall im Gebäudeinneren zu konzentrieren.

Die Rückseite des Konsum- und Hotelkomplexes umschließt mit dem neuen Hochhaus der Gebietskrankenkasse und einer achtgeschoßigen Scheibe mit über 100 Wohnungen eine akkurat gestaltete Restfläche samt wuchtigen Tiefgaragenentlüftungen, die weder ein parkartiges Wohnumfeld noch einen städtischen Platz darstellt. Wenig urbanitätsstiftend sind auch die Bauten selbst, die dem Wunsch der Bauträger entsprechend monofunktional sind: kein Laden im Erdgeschoß des GKK-Turms, kein Kindergarten in der Sockelzone des GSWB-Wohnbaus - obwohl die vertikale Nutzungsmischung von Gebäuden im internationalen Diskurs längst als Grundvoraussetzung für vitale Stadtteile gilt. Wird eine derartige Bebauung einer Stadt von der urbanistischen Qualität Salzburgs auch nur annähernd gerecht? Immerhin sollte am Bahnhof eine zweite City entstehen und kein (zwar hübsch designtes, aber trotzdem) banales Gewerbe- oder Wohngebiet!

Im Vorfeld der Planungen wurden, auch auf Initiative der freien Architekturszene der Stadt, interdisziplinäre Symposien veranstaltet, sozialwissenschaftliche Studien eingeholt, die Bürger miteinbezogen und schließlich Wettbewerbe durchgeführt - wie etwa jener für den Neubau des Bahnhofsgebäudes, dessen Siegerprojekt von Klaus Kada aus dem Jahr 1999 nun (nach jahrelangem Disput über Denkmalschutzansprüche) bis 2013 umgesetzt werden soll.

Insofern muss man den Planungsakteuren in Salzburg - der Baubehörde, dem Gestaltungsbeirat und den Architekten - durchaus zubilligen, nicht bloß den Interessen von Grundstückseigentümern und Bauherren entsprochen, sondern sich überdurchschnittlich stark an qualitativen Kriterien orientiert zu haben. Denn es gibt in Österreich bedeutend schlechtere Beispiele für die Verbauung von Bahn- und Postflächen - siehe das, was rings um den Wiener Hauptbahnhof geplant oder rund um den Linzer Hauptbahnhof gebaut wurde.

Realisierte Mittelmäßigkeit

Die bis dato realisierte Mittelmäßigkeit im Salzburger Bahnhofsviertel lässt somit auf eine grundlegende Krise des heimischen Städtebaus schließen. Wenn etwa die Wettbewerbsjury Ludwig Koflers „freie Komposition von Baukörpern unterschiedlicher Volumen und Höhen“ als „richtige Antwort auf das disparate Umfeld“ hervorhebt und als wesentliches Entscheidungskriterium erachtet (vgl. N. Mayr: Stadtbühne und Talschluss, 2006), dann offenbart dies eine erschreckend formalistische Denkweise vieler „Experten“ in einem abgehobenen Maßstab von 1:500, in einer der tatsächlichen Sicht des Stadtnutzers entrückten Perspektive. Denn solcherart Betrachtungen haben mit der Gestaltung eines attraktiven Platzes, einer belebten Straße und eines urbanen Stadtquartiers nur sehr wenig zu tun.

31. Januar 2009 Der Standard

Die Ohnmacht der Revolutionäre

Auch autoritäre Regime haben auf die Metropolen in Schwellenländern kaum mehr Einfluss. Mit ihrer unberechenbaren Dynamik entziehen sich die Megacitys mehr und mehr der Polit-Kontrolle: Teheran nach 30 Jahren Islamischer Revolution.

Als Ajatollah Ruhollah Musavi Khomeini am 1. Februar 1979 aus dem Pariser Exil als Revolutionsführer in einem wahren Triumphzug nach Teheran zurückkehrte, zählte die iranische Hauptstadt mit 5 Millionen Einwohnern bereits zu den größten Metropolen der Welt.

Innerhalb der Stadtgrenzen blieb das Bevölkerungswachstum - heute sind es 7,5 Millionen Einwohner - relativ überschaubar. Faktisch jedoch erstreckt sich Teheran mit geschätzten 14 Millionen Einwohnern inzwischen bis an die Grenzen der gleichnamigen Provinz. Mit Ausbruch des Ersten Golfkriegs 1980 setzte eine bis heute währende Landflucht ein, der Politik und Wirtschaft kein auch nur annähernd adäquates Wohnbauprogramm gegenüberzustellen vermochten. Die Wohnungsknappheit in Teheran führte alsbald zu einem enormen Anstieg der Miet- und Immobilienpreise, sodass sich die meisten Zuwanderer im günstigeren Stadtumland ansiedelten, ohne dass es dort zu einer Nachrüstung mit Infrastruktur, sozialen Einrichtungen oder auch Arbeitsstätten gekommen wäre.

Wie viele Menschen täglich in die Kernstadt strömen, weiß niemand. Hunderttausende kommen allein aus dem 30 Kilometer entfernten Karadsh - noch vor 20 Jahren eine Kleinstadt, heute ein Siedlungsbrei mit 3 Millionen Einwohnern, der als „größte Schlafstadt der Welt“ gilt. Gewiss ist, dass die meisten Einpendler mit Autos oder Bussen ins Zentrum fahren. Im Unterschied zur demografischen Entwicklung ist die Zunahme der Motorisierung in Teheran exakt dokumentiert: Rund 230.000 zusätzliche Pkws pro Jahr verschärfen die Situation in der von vier Millionen Autos und ebenso vielen Motorrädern schon verkehrsüberlasteten Stadt noch weiter. Dabei ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der islamischen Republik ein durch und durch mo-dernes Gebilde, das nicht von verwinkelten Altstadtgassen, sondern einem großzügigen Straßenraster durchzogen ist. Trotzdem sind selbst am späten Abend noch fünfspurige Straßen heillos verstopft.

Die Automassen verdrängen jegliches Leben aus dem öffentlichen Raum: Vielerorts bilden hohe Fußgängerbrücken die einzige Möglichkeit für Passanten, die Fahrbahn sicher zu überqueren - allerdings nicht für Alte, Behinderte oder Mütter mit Kleinkindern. Und Radfahren, ja selbst Motorradfahren wird hier zum Vabanquespiel. „Der Verkehr hat totale Formen angenommen“, schildert die Architektur- und Stadtplanungspublizistin Soheila Beski die Entwicklung. „Die vielen Autos haben Teheran so groß und gleichzeitig aber auch so klein gemacht, dass man an einem Tag nirgendwo anders mehr hinfahren kann als von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück.“ Damit bringt der Autoverkehr die Stadt um das, was sie eigentlich attraktiv macht - um ihr vielfältiges Angebot, um die kurzfristige Erreichbarkeit aller erdenklichen Ziele.

Noch schwerer wiegen die Folgen für Umwelt und Gesundheit. Die vorherrschende Wetterlage seit Jahren ist der Smog. Der erste morgendliche Blick vieler Bürger gilt den mehr als 5000 Meter hohen Gipfeln des Alborsgebirges, über dessen Abhänge sich die iranische Hauptstadt erstreckt. Doch in den südlichen, auf 1100 Meter Seehöhe liegenden Stadtteilen nimmt man die schneebedeckten Bergspitzen meist nur schemenhaft wahr. Ist die nahe Gebirgskette aber auch in den nördlichen, reicheren Wohnvierteln auf bis zu 1800 Höhenmeter kaum sichtbar, empfiehlt es sich, zumindest die Kinder im Haus zu lassen. Selbst von offizieller Seite ist von jährlich 10.000 Todesfällen infolge der Luftverschmutzung die Rede.

Die Gegenmaßnahmen der Stadtregierung beschränken sich auf eine Prämie für jene, die ihr altes Auto durch ein neues ersetzen. Dass die zahllosen Rußschleudern Marke Paykan (ein Modell aus den 60er-Jahren!) oder Peugeot 405 deshalb von den Straßen verschwinden, ist Illusion. Bei subventionierten Spritpreisen von 8 Cent je Liter ist ein fahrbarer Untersatz auch für weniger begüterte Teheraner erschwinglich - ja für Zigtausende, die als illegale Taxifahrer ihr Geld verdienen, sogar lebenswichtig.

Ihre Dienstleistung kompensiert das unzureichende Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln in Teheran. Omnibusse stecken noch länger im Stau als private Fahrzeuge, da sie nicht spontan auf weniger überfüllte Routen ausweichen können. Das Metro-Netz der Megacity wiederum beschränkt sich auf zwei kürzlich fertiggestellte und zwei noch in Bau befindliche Linien - sowie auf die Regionalbahn nach Karadsh. „Eine seriöse Verkehrspolitik für den Großraum Teheran gibt es ebenso wenig wie eine brauchbare Siedlungspolitik für die Agglomeration“, urteilt Firuz Tofigh, vor der Machtübernahme Khomeinis 1979 Minister für Stadtentwicklung. Seit 2002 leitet er das neugegründete Center of Planning and Studies, das für die Stadt Teheran Daten und Modelle zum Aufbau einer strategischen Stadtentwicklungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik erarbeiten soll. „Eine solche Einrichtung bestand schon vor der Revolution, als die Planungsbehörde noch sachlicher arbeiten konnte. Seit 1979 wird die Stadtentwicklung aber von der Politik dominiert - und von deren Ad-hoc-Lösungen, die an den realen Problemen der Stadt vorbeigehen.“

Die langfristig größte Gefahr sieht der Planer im Bodenverbrauch durch das rasante Wachstum der Agglomeration. „Nur 15 bis 20 Prozent des Staatsgebiets sind überhaupt fruchtbar - insbesondere das Umland der gewachsenen Zentren, die natürlich dort entstanden sind, wo es ausreichend Ackerland gab“, erklärt Tofigh. „Damit frisst die Ausdehnung unserer Stadtregionen die kostbarsten Böden auf.“ Teheran und Karadsh sind beinahe schon zusammengewachsen. Gemeinsame Planungen gestalten sich deshalb aber nicht leichter, zumal die iranische Hauptstadt keinerlei Einfluss auf die umgebenden Städ-te und Provinzen hat. Dennoch arbeitete die Teheraner Stadtplanung jüngst erstmals einen umfassenden Agglomerationsplan aus, der auch den Bau von fünf New Towns für jeweils 500.000 Menschen im Umkreis der Metropole beinhaltet.

„Ändern wird auch dieser Plan nichts an den Problemen Teherans“, bleibt Jahanshah Pakzad, Professor für Stadtgestaltung an der Shahid-Beheshti-Universität Teheran skeptisch. Wirkliche Verbesserungen sind für den Planer, der sein Studium in Hannover absolvierte, nur durch eine Demokratisierung der Stadtplanung möglich: „Vor einigen Jahren wurde den Stadtbezirken bis hinunter zu den einzelnen Neighbourhoods mehr Selbstbestimmung eingeräumt - allerdings nur auf dem Papier. Denn die direkten Wahlen der lokalen Ratsversammlungen fanden bis heute nicht statt.“ Der Sieg der Konservativen bei den Kommunalwahlen 2003, die den heutigen Staatspräsidenten Ahmadi-Nejad zum Bürgermeister machten, ließ auch in der Stadtentwicklung jene Aufbruchstimmung, die unter Expräsident Khatami anfänglich herrschte, abklingen - und die urbanistischen Missstände weiter bestehen.

„Das grundlegende Übel ist der Ausverkauf Teherans an Investoren und Spekulanten, der 1987 unter Bürgermeister Karbastshi begann und bis heute andauert“, kritisiert Jahanshah Pakzad. „Dadurch verliert die Stadt mehr und mehr an Charakter.“ In Karbastshis Amtszeit fielen unter anderem der Bau monströser Stadtautobahnen, dem etwa ein ganzer Bezirk südlich des Basars geopfert wurde, sowie der Bau zahlreicher, oft spekulativ errichteter Hochhäuser, die in völligem Wildwuchs traditionelle Strukturen zerstörten. „Wenn die Pläne für ein Gebiet eine Überbauung von maximal 100 Prozent vorsahen, ein Projektwerber aber eine Dichte von 400 Prozent wollte, erhielt er gegen eine entsprechende Abgeltung flugs die gewünschte Genehmigung“, illustriert Professor Pakzad Stadtplanung à la Teheran.

„Andererseits“, relativiert der aus Teheran stammende und heute in Wien lebende Architekt Nariman Mansouri, „sorgte Karbastshi für die Errichtung von Kulturzentren und öffentlichen Parks, wodurch auch ärmere Bezirke aufgewertet wurden.“ Kennzeichnend sei in jedem Fall seine „pragmatische“ Vorgehensweise gewesen, oft informell und an den Mühlen der Bürokratie vorbei. Dies erlaubte ihm, die im Iran übliche Vorlaufzeit von Großprojekten von durchschnittlich 14 Jahren merklich zu verkürzen, brachte aber schließlich den allmächtigen Staatsapparat gegen ihn auf: 1998 wurde der eigenwillige Kommunalpolitiker wegen „Missbrauchs öffentlicher Mittel“ und „schlechter Amtsführung“ zu fünf Jahren Haft, 60 Peitschenhieben sowie einer hohen Geldstrafe verurteilt - und mit einem zwanzigjährigen Betätigungsverbot in öffentlichen Ämtern bestraft.

Publikationen

2015

Harry Glück
Wohnbauten

Kein österreichischer Architekt hat so viele Wohnungen geplant wie er. Und kein anderer hat mit seinen Bauten die heimische Architektenschaft so polarisiert – obwohl oder vielleicht sogar weil es Harry Glück seit den 1960er Jahren gelingt, im sozialen Wohnbau unvergleichlich hohe Wohnzufriedenheit zu
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2013

Häuser für Menschen
Humaner Wohnbau in Österreich

80 Prozent der Österreicher träumen vom freistehenden Einfamilienhaus mit Garten – allen individuellen und gesellschaftlichen Nachteilen zum Trotz, ungeachtet der ökologischen und volkswirtschaftlichen Folgen. Doch bieten kompaktere Wohn- und Siedlungsformen selten befriedigende Alternativen. In den
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2008

Architektur der Erinnerung
Die Denkmäler des Bogdan Bogdanović

„Ich habe immer geglaubt, dass eine Menschheit ohne Monumente glücklicher ist als eine Menschheit, die Monumente braucht.“ Bogdan Bogdanović. Der Architekt, Urbanist, Literat, Hochschulprofessor und ehemalige Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanović, schuf im Jugoslawien der 1950er und den 1980er
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Verlag Anton Pustet

2006

Wer baut Wien?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Wien von einem Bauboom erfasst, der neben der Ost-Öffnung vor allem dem EU-Beitritt Österreichs sowie der fortschreitenden Globalisierung geschuldet ist; die Stadtväter sprechen von einer »zweiten Gründerzeit «. Wie die Planungspolitik der Stadt Wien auf die neue
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Verlag Anton Pustet