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Dialog mit Gottfried Semper
Ein Neubau von Miller & Maranta in Castasegna
Das Bergell ist nicht nur eine malerische Landschaft. Hier finden sich neben alten Dörfern und Palästen auch eigenwillige Herrensitze wie der neomaurische Palazzo Castelmur in Coltura und selbstbewusste Bürgerhäuser wie die Villa Garbald in Castasegna. Dieses 1862 von Gottfried Semper für den Zolldirektor Agostino Garbald als mediterrane Casa rustica konzipierte Gebäude mit offenem Solaio, mit Rebpergola und südländischem Garten verkam nach dem Tod von Manfred Garbald, dem Sohn des einstigen Auftraggebers, immer mehr. Doch dann gelang es der 1955 ins Leben gerufenen und 1997 neu formierten Fondazione Garbald, mit der ETH Zürich einen Nutzungsvertrag abzuschliessen, der vorsieht, die Villa als Aussenstation zu betreiben und hier ein Seminarzentrum einzurichten. Damit konnte die Zukunft des einzigen Semper-Baus südlich der Alpen langfristig gesichert werden.
Das ehrgeizige Projekt macht aber einen Erweiterungsbau nötig, für den es Platz am Rand des Gartens gibt, wo jetzt noch eine Scheune steht. Im Herbst letzten Jahres wurde ein Wettbewerb unter fünf renommierten Architekturbüros - Clavuot aus Chur, Gianola aus Mendrisio, Meili & Peter aus Zürich, Miller & Maranta aus Basel sowie Ruinelli & Giovanoli aus Soglio - durchgeführt. Gekürt und zur Weiterbearbeitung empfohlen wurde das nach den alten Vogelfangtürmen benannte Projekt «Roccolo» von Miller & Maranta, das sich durch eine wehrhafte Turmform auszeichnet. Damit verzichtet der Bau darauf, sich der Semper-Villa anzubiedern, setzt sich aber wie diese mit der südalpinen Architektur auseinander, transponiert die Vorbilder in eine zeitgemässe Sprache und nimmt damit sowohl urbanistisch als auch architektonisch einen Dialog mit dem dörflichen Kontext auf. Dass die hochkarätige Jury richtig entschieden hat, lässt sich gegenwärtig in der Stadtgalerie Chur überprüfen, wo alle fünf Projekte präsentiert werden.
Die denkmalpflegerisch restaurierte Villa und der Erweiterungsbau sollen im kommenden Jahr im Hinblick auf Sempers 200. Geburtstag eröffnet werden. Der grosse Architekt wäre bestimmt zufrieden mit der Ergänzung: zum einen weil in ihr der Grundriss seiner Villa raffiniert variiert wird, zum andern weil sich der Neubau harmonisch in sein kleines Gesamtkunstwerk einfügen wird.
[ Bis 10. März in der Stadtgalerie im Rathaus Chur. ]
Bahnhof und Palace
Projekte in Mendrisio und Lugano
Ausserhalb der weitgehend unverdorbenen Altstadt hat sich Mendrisio in den vergangenen Jahrzehnten zu einer amorphen Agglomeration gewandelt. Doch spätestens seit sich im Magnifico Borgo die Tessiner Architekturakademie angesiedelt hat, macht man sich hier um baukünstlerische und urbanistische Aspekte vermehrt Gedanken. Deshalb schrieb der Stadtrat im Rahmen von «Europan 6» einen internationalen, für Architekten bis zum 40. Altersjahr offenen Wettbewerb zur Neuordnung der Industriezone rund um den Bahnhof aus. Obwohl sich der Schweizer Nachwuchs - anders als die internationale Konkurrenz - kaum für dieses städtebauliche Projekt interessierte, ging der Preis an ein helvetisches Team, und zwar an die Genfer Fracheboud, Golchan, Robyr, Sonderegger und Zimmermann, die der Città diffusa eine verdichtete Bandstadt zwischen Bahnhofplatz und Autobahn entgegensetzten. (Die eingereichten Projekte für Mendrisio und für den zweiten Schweizer Europan-6-Standort in Illnau-Effretikon, für den die Jury keinen Preisträger bestimmte, sind bis zum 4. November im Parktheater Grenchen zu sehen.)
Mangelndes städtebauliches Denken machte auch die STAN, der Tessiner Heimatschutz, bei den im Frühjahr prämierten Projekten des international ausgeschriebenen Palace-Wettbewerbs in Lugano (NZZ 1. 6. 01) aus und veranstaltete eine eigene Jurierung, deren Sieger soeben bekannt gegeben wurden: Marco Dezzi (Mailand) vor Cabrini & Cabrini (Lugano), Marcel Ferrier (St. Gallen) und Giraudi & Wettstein (Lugano). Damit kritisiert die STAN einen Schwachpunkt des Wettbewerbs, nämlich dessen Überfrachtung mit Funktionen (Theater, Museum, Büros, Wohnungen), auf welche die meisten Teilnehmer reagierten, indem sie massiv in die Gestalt von Gebäude und Park eingriffen oder aber - wie Cabrini & Cabrini - die Rahmenbedingungen ignorierten und das Theater dem Palace gegenüber direkt an den See stellten. Wenn nun die STAN auf diesem neuen Standort beharren sollte, so müsste wohl der ganze Wettbewerb neu aufgerollt werden. Es sei denn, alle Beteiligten erklärten sich damit einverstanden, Restaurierung und Umbau des Palace möglichst unverzüglich Tita Carloni anzuvertrauen und für den Theaterbau eine neue Ausschreibung zu veranstalten - in der Hoffnung, doch noch eine wegweisende Lösung zu finden.
Erneuerung aus der Geschichte
Zum 70. Geburtstag des Architekten Paolo Portoghesi
Mit der «Strada Novissima», die er im Rahmen der ersten, von ihm selbst kuratierten Architekturbiennale von Venedig 1980 in den Corderie des Arsenals zusammen mit namhaften Architekten aus aller Welt einrichtete, löste Paolo Portoghesi in Europa eine heftige Diskussion über Sinn und Möglichkeiten postmodernen Bauens aus. Seither gilt der am 2. November 1931 in Rom geborene Architekt als Wegbereiter einer Stilrichtung, die in den folgenden Jahren fast überall ihre oft fragwürdigen Duftmarken hinterlassen sollte. Portoghesi verstand jedoch die Rückbesinnung auf die Architektur vergangener Epochen nicht als dekorative Spielerei. Vielmehr strebte er als ausgewiesener Kenner der barocken Baukunst seit eh und je nach einer architektonischen Erneuerung aus der Geschichte. Nachdem er schon 1956 über Guarino Guarini publiziert hatte, gelang dem gerade erst Dreissigjährigen «auf der Suche nach der verlorenen Architektur» (Christian Norberg-Schulz) mit der Casa Baldi ein genialer Wurf. Diese in der Agglomeration Roms entstandene Villa darf heute als frühes postmodernes Manifest gelten. Bereits hier gelang es Portoghesi nämlich, dem nüchternen Funktionalismus eine Neuinterpretation der Moderne aus dem Geiste Borrominis entgegenzusetzen.
Seit der Casa Baldi verstand der auch als Theoretiker, Kritiker und Lehrer tätige Portoghesi jedes seiner Gebäude als Versuch, die Architektur «im Schosse der Geschichte» zu verankern und ihr gleichzeitig auch symbolischen Tiefgang zu verleihen. Erinnert sei nur an die aus konkaven und konvexen Betonschalen und Kuppeln gebildete Kirche der Sacra Famiglia in Salerno (1974), deren Kuppeln «das Konzept der Trinität» reflektieren, oder an den neopompejanischen Stadtplatz von Poggioreale auf Sizilien (1986), der eine - allerdings nicht ganz gelungene - Antwort auf Charles Moores postmoderne Piazza d'Italia in New Orleans darstellt. Schlüssel zu all diesen Bauten sind die Grundrisse mit ihren bedeutungsvollen, rational gezähmten Kreis- und Bogenformen. Diese steigerte Portoghesi in seinem wichtigsten Werk, der Moschee mit islamischem Kulturzentrum in Rom (1976-95), in die dritte Dimension. Auch wenn diese Anlage von aussen etwas knochig wirkt, gelang ihm zusammen mit seinem Partner Vittorio Gigliotti und dem Iraker Sami Mousawi nicht nur die formale Verschmelzung von maurischer und türkischer Architektur mit Gotik, Barock und Jugendstil, sondern - zumindest auf architektonischer Ebene - auch eine Aussöhnung von Orient und Okzident.
In unserer schnelllebigen, vor allem an oberflächlichem Architekturdesign interessierten Zeit wirkt der hochkultivierte Portoghesi mit seinem Geschichtsbewusstsein fast wie ein Exot - aber wohl nicht mehr lange. Denn Häuser wie die dem Neo-Liberty verpflichtete Palazzina Papanice in Rom (1966-70) dürften zumindest für die «Wallpaper»-Generation bald schon Kult sein.
Nordisches Licht
Ausstellung Sverre Fehn in Biel
Besucher der Biennale von Venedig kennen ihn als den luftigsten und wohl auch schönsten Bau in den Giardini: den Pavillon der nordischen Länder von Sverre Fehn. Mit diesem kleinen Meisterwerk wurde der 1924 in Kongsberg geborene Norweger Anfang der sechziger Jahre in der Kunst- und Architektenszene schlagartig bekannt. Eine internationale Probe seines Könnens hatte er aber schon vier Jahre zuvor gegeben - ebenfalls mit einer Kleinarchitektur, der viel beachteten Ländervertretung Norwegens auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958. Nach diesen beiden jugendlichen Geniestreichen wurde es um Fehn ruhig, auch wenn er sich in seiner Heimat als Entwerfer von Kultur-, Schul- und Gemeindebauten etablierte - darunter das 1979 vollendete Hedmark Museum in Hamar. Mit diesem Bau wurde er zu einem frühen Verfechter eines den Kontext, die Geschichte und das Licht berücksichtigenden Bauens. Obwohl er vor zehn Jahren mit dem einer «poetischen Moderne» verpflichteten Gletschermuseum in Fjærland und dem Haus Busk in Bamble zurückfand in die Architekturmagazine, war doch die Überraschung gross, als ihm 1997 der angesehene Pritzker-Architekturpreis verliehen wurde.
Vom damaligen Aufwind profitierte eine vom norwegischen Architekturmuseum organisierte Ausstellung, die im Frühjahr 1997 in Vicenza startete und auf ihrer Welttournee nun in der Schweiz, genauer im Centre Pasquart in Biel, angelangt ist. Als gültige Auswahl aus Fehns gesamthaft schmalem Œuvre werden 18 Bauten und Projekte gezeigt mittels winziger Modelle sowie eines kaum lesbaren Patchworks düsterer Tafeln. Begleitet wird die Schau von einem Katalogbuch, das Fehns neustem Bau, dem im Juni 2000 eröffneten und vorschnell zum Meisterwerk emporstilisierten Ivar-Aasen-Zentrum, etwas gar viel Aufmerksamkeit schenkt. Mit der Fehn-Ausstellung zeigt das Centre Pasquart, das dank einem Erweiterungsbau von Roger Diener zu einem Wallfahrtsort der jüngsten Schweizer Baukunst avancierte, bereits seine zweite bedeutende Architekturausstellung. Schön wäre es, wenn dieses architektonische Engagement andauern und Biel so zu einem Fokus internationaler Architekturausstellungen in der Schweiz werden würde.
[Bis zum 26. Oktober im Centre Pasquart in Biel, anschliessend vom 2. bis zum 18. November im Kornhaus Bern. Begleitpublikation: Sverre Fehn. Architekt. Hrsg. Adolph Stiller. Anton-Pustet-Verlag, Salzburg 2001. 94 S., Fr. 40.- (in der Ausstellung).]
Die Twin Towers als Mahnmal?
Wiederaufbauideen für Lower Manhattan
Die Terrorattacken auf die Zwillingstürme des World Trade Center haben im Weichbild Manhattans eine klaffende Wunde hinterlassen, die nach Vorstellung der New Yorker möglichst schnell vernarben soll. Dabei reichen die Ideen von einem Mahnmal bis hin zu neuen Wolkenkratzern. Die exakte Rekonstruktion der Twin Towers, deren neue Existenz stets an das Attentat erinnern würde, könnte beide Aufgaben erfüllen.
Auch wenn wir über die Medien am Untergang des World Trade Center teilnahmen, bleibt doch der Verlust dieses New Yorker Wahrzeichens für alle, die die Zerstörungen nicht vor Ort erlebten, bis zu einem gewissen Grade virtuell. In unseren Köpfen jedenfalls lebt ein doppeltes Bild von Manhattans Skyline weiter: eines mit und eines ohne Zwillingstürme; und letzteres möchten wir so schnell wie möglich wieder loswerden. Deshalb empfanden viele es wie eine Befreiung, als New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani kurz nach der Katastrophe die «Reconstruction» des WTC ankündigte. Ihm pflichtete der Immobilienmakler Larry Silverstein bei, der erst im vergangenen April das WTC zum Preis von 3,2 Milliarden Dollar für 99 Jahre von der Port Authority erworben hatte. Von einer Rekonstruktion der zeichenhaften Twin Towers war bei Silverstein allerdings nicht mehr die Rede, sondern von mehreren kleineren Türmen und einem Mahnmal.
Vorschläge aus New York
Nachdem am 17. September die Wiederaufbaukommission unter Vorsitzt von Giuliani ins Leben gerufen worden ist, denkt man auch in New Yorks Künstler- und Intellektuellenkreisen, vor allem aber in der Architektenszene laut über die Zukunft des Schreckensortes nach. Die Ideen reichen dabei vom intimen Mahnmal bis zum monumentalen neuen Sitz des um eine kulturelle Institution wie das Guggenheim Museum erweiterten New York Stock Exchange. Solch kommerzielle Bauten möchte der Soziologe Richard Sennett allerdings einer Gedenkstätte untergeordnet sehen. Diese kann sich der Kunsthistoriker Robert Rosenblum als leeres Phantomgebäude in der Form der Twin Towers vorstellen. Bescheidener geben sich die Künstler: Altmeisterin Louise Bourgeois legte in der «New York Times» einen Entwurf für ein sternförmiges Mahnmal vor; und in Umfragen derselben Zeitung äusserten sich etwa Barbara Kruger und John Baldessari zugunsten eines meditativen Parks, während Joel Shapiro das Areal leer lassen möchte. Wie James Turrell ist er gegen ein Denkmal, das ohnehin mit der Zeit seine Bedeutung verlieren werde.
Anders als Shapiro stellt sich Turrell jedoch drei Neubauten vor, die höher sein sollten als die zerstörten. Damit spricht er jenen Architekten aus dem Herzen, die schon davon träumen, sich am Unglücksort zu verewigen. Eine Ausnahme bildet das hierzulande durch das Projekt der Arteplage in Yverdon bekannt gewordene New Yorker Starteam Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio, das sich gegen eine Wiederherstellung der «verlorenen Skyline» wendet. Dem widerspricht David Childs vom Büro SOM, der Lower Manhattan «absolut atemberaubend» machen möchte mit mehreren nur noch halb so hohen Türmen, einer Skulptur, die an die Tragödie erinnert, einem der Kontemplation dienenden Grünraum sowie einem Kulturzentrum.
Spektakuläres schwebt auch Hyman Brown, einem der Ingenieure des WTC, vor, der eine identische Rekonstruktion der Türme fordert, wobei er deren einstige Höhe von 417 und 415 Metern um dreissig Etagen oder rund 120 Meter aufstocken möchte. Auch Bernard Tschumi, der aus Lausanne stammende Leiter der Architekturabteilung der New Yorker Columbia University, votiert für ein noch höheres, geschäftlichen und kulturellen Aktivitäten dienendes Bauwerk von zukunftsgerichteter Erscheinung mit integriertem Ort der Trauer. Sein Kollege Robert Stern von der Architekturschule in Yale möchte die Türme als Symbol dafür rekonstruiert sehen, dass Amerika nicht besiegt werden kann, während Philip Johnson den Terroristen zeigen will, dass alles, was sie zerstören, wiedererrichtet wird. Peter Eisenman hingegen sieht «die Kultur und die Werte des Westens angegriffen». Deshalb sollten wir nicht davon zurückschrecken, erneut so hoch zu bauen wie die zerstörten Türme. Ähnlich versteht Cesar Pelli, der Entwerfer der rekordhohen Petronas Towers in Kuala Lumpur, die Errichtung von zwei Türmen derselben Dimension als Demonstration «unserer Stärke». Renzo Piano, der demnächst als erste «Icon» nach dem WTC-Attentat das 260 Meter hohe «New York Times»-Building an der Ecke 8. Avenue und 41. Strasse errichten soll, möchte die technisch überholten Türme durch etwas Neuartiges ersetzen. Auch Richard Meier kann sich mit einer mimetischen Rekonstruktion nicht anfreunden, weil «die Türme 1966 entworfen wurden und wir nun im Jahre 2001 leben». Ihm schwebt ein Ensemble vor, «das ein ebenso mächtiges New Yorker Symbol abgeben wird, wie es die World Trade Towers waren».
Fehlende architektonische Qualität
In Architektenkreisen dominiert ganz offensichtlich die Vorstellung, die Terrence Riley vom MoMA auf den Punkt bringt: «We should build an even greater and more innovative skyscraper.» Dies ist bei Designern wie Richard Meier verständlich, der 1987 das Scheitern seines (nicht wirklich gelungenen) Doppelturmprojekts für den Madison Square erleben musste. Dennoch darf die Ruinenstätte des WTC nicht zum Ort architektonischer Eitelkeiten werden - allem voran aus Respekt vor den Opfern, aber auch aus Gründen der Vernunft. Denn ein Blick auf das von Investoren und Developern geprägte, völlig kommerzialisierte Bauwesen in den USA zeigt, dass dieses Land gegenwärtig kaum in der Lage ist, einen wirklich zukunftsweisenden Neubau an die Stelle der Twin Towers zu setzen. So ist in den vergangenen Jahren in Manhattan mit Ausnahme von einigen «Miniaturen» (den beiden rund 20-geschossigen Lückenfüllern des LVMH-Hauses von Portzamparc und des Österreichischen Kulturinstituts von Raimund Abraham, dem der Vollendung entgegengehenden Museum of American Folk Art von Williams und Tsien sowie dem gescheiterten Hotelprojekt von Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas) kein einziger Bau von internationaler Ausstrahlung entstanden.
Selbst bei einem internationalen Wettbewerb wären daher auf Grund der gegenwärtigen Baubedingungen die Chancen äusserst klein, dass die Leerstelle des WTC durch einen überzeugenderen Bau ersetzt werden könnte als durch Minoru Yamasakis Meisterwerk, in dessen Zwillingstürmen sich Hochhausgotik und Minimal Art sinnfällig vereinen (NZZ 12. und 17. 9. 01). Wenn nun baulustige Architekten die Statik der Twin Towers als veraltet bezeichnen und schon Möglichkeiten für ihre eigenen Visionen wittern, dann dürfen die Ergebnisse neuster Untersuchungen nicht unerwähnt bleiben. Diese zeigen, dass die in Form einer quadratischen «Röhre» errichtete tragende Fassade nicht nur den Einsturz verzögert, sondern die stürzenden Decken senkrecht nach unten geleitet und so das noch viel schrecklichere Szenario eines unkontrolliertes Umkippens der Türme über Lower Manhattan vermieden hat.
Für eine exakte Rekonstruktion der zum Synonym für New York gewordenen Twin Towers spricht neben ihrer Formvollendung auch die Zeit. Denn um ein vergleichbares Meisterwerk zu schaffen, müsste zunächst die neue Nutzung des Orts der Katastrophe diskutiert, dann ein Wettbewerb ausgeschrieben und dieser schliesslich verwirklicht werden. Doch selbst dieses Prozedere wäre ungewiss, denn letztlich haben die Investoren das Sagen. Diese aber tendieren erfahrungsgemäss hin auf rein kommerziell bestimmte, architektonisch alles andere als zukunftsweisende Bauten - vergleichbar den Banalitäten rund um den Times Square und den unweit des Lincoln Center entstehenden Doppeltürmen des neuen «One Central Park»-Komplexes, die für einen Neubau des WTC kaum Gutes verheissen.
Doch zunächst muss aufgeräumt werden; und das ist nicht ungefährlich: George Tamaro, der als Ingenieur für den Bau des Rückhaltebeckens, das die Fundamente des WTC vor dem Druck des Hudson River schützte, verantwortlich war, befürchtet nämlich, dass gegenwärtig nur die Trümmermassen die vermutlich schwer beschädigte Wanne stabilisieren. Eine schnelle Entfernung des Schuttes ohne vorangehende Sicherung der rund einen Kilometer langen Stützmauer könnte dazu führen, dass der Hudson sich durch den aufgeschütteten Untergrund einen Weg ins Herz von Lower Manhattan bahnen würde - mit unvorhersehbaren Schäden für das ohnehin schon arg in Mitleidenschaft gezogene Stadtviertel. Untersuchungen am WTC und an den Nachbarbauten - der schwer erschütterten One Liberty Plaza und mindestens zehn weiteren beschädigten Wolkenkratzern - können dem Hochhausbau aber auch neue Impulse betreffend strukturelle Sicherheit, Fluchtweggestaltung und Hitzeresistenz geben und so die den Terroristen so verhassten «Türme der westlichen Zivilisation» sicherer werden lassen. Zurzeit ist nämlich kein Konstruktionsprinzip bekannt, das deutlich günstiger reagiert hätte als jenes der Twin Towers. Jon Magnusson von der Ingenieurfirma Skilling hielt denn auch in der «New York Times» fest, dass 99 Prozent aller Hochhäuser unverzüglich nach einem Crash mit einer Boeing 757 eingestürzt wären, «but the perimeter structural tube allowed the building to stand, giving people more time to escape».
Mahnmal und Vorbild
Aber nicht nur die Vernunft spricht für einen Wiederaufbau der Twin Towers. Auch die Pietät verlangt ihn: Will man am Ort der Katastrophe einen Neubau erstellen, der Mahnmal, Symbol und Bürohaus zugleich ist, so kommt nur eine nach neusten technischen Erkenntnissen ausgeführte mimetische Rekonstruktion in Frage. Denn nur die wiedererrichteten Zwillingstürme werden alle Erinnerungsfunktionen erfüllen können und gleichzeitig in der Lage sein, den Terroristen zu zeigen, dass die freie Gesellschaft sich nicht in die Knie zwingen lässt. Dass eine Rekonstruktion nicht heillos veraltet wäre, beweist die in den letzten Jahren rapid gewachsene Popularität des WTC bei Studenten und jungen Architekten. Dieses Ensemble nahm nämlich in einem gewissen Sinn schon jene Stadt des 21. Jahrhunderts vorweg, die nun von selbsternannten Architekturgurus gepredigt wird. Auch deren Hochhäuser des 21. Jahrhunderts sind - das veranschaulichen die gegenwärtigen Erkenntnisse klar - von ihrer baulichen Struktur her noch ganz den herkömmlichen Prinzipien verpflichtet. Einzig im Erscheinungsbild würden sie sich von den Twin Towers unterscheiden. Das aber hiesse nichts anderes, als dass man die noble Erscheinung der Zwillingstürme mit ihrem meisterlichen Zusammenklang von Struktur und Licht einem modischen Fassadendesign opfern würde. Wären aber farbige Glashäute, Medienmembranen oder tätowierte Hüllen wirklich eine würdige Antwort auf die Katastrophe von Manhattan?
Unsicherheit macht sich breit
Europas Hochhausdiskussion am Beispiel Barcelonas
Die Ölkrise und die vom Club of Rome prognostizierten «Grenzen des Wachstums» brachten das Hochhaus Mitte der siebziger Jahre in Verruf. Erst eine neue Generation von zeichenhaften Wolkenkratzern - darunter Norman Fosters technoider Bankenturm in Hongkong oder Philip Johnsons «Chippendale-Kommode» in New York - bereitete der jüngsten Hochhaus-Renaissance das Terrain. Kurz darauf wurde die Mär vom ökologischen Wolkenkratzer in die Welt gesetzt, und spätestens seit sich Fosters Commerzbank in Frankfurt mit Skygärten und energetischen Erneuerungen ein «grünes» Mäntelchen umlegte, sind himmelstürmende Bauten als Ausdruck städtischen Selbstbewusstseins wieder salonfähig. Dabei weiss man längst, dass Häuser mit mehr als 20 Geschossen nicht wirklich umweltfreundlich sind und zudem für viele Benutzer zur psychischen Belastung werden können. Doch wer daran erinnerte, galt als Spielverderber.
Nun sind die Zentren der globalisierten Welt durch die Terrorattacken auf die Twin Towers des WTC in Manhattan jäh aus ihrem Höhenrausch erwacht; und die einstigen Objekte des Stolzes haben sich in bedrohliche Symbole verwandelt. In London und Frankfurt, den beiden Städten, die sich leidenschaftlich um die höchsten und schönsten Wolkenkratzer Europas streiten, schweigt man gegenwärtig diskret zum Thema Hochhausbau, stellt aber die ehrgeizigen Projekte noch nicht in Frage. Hingegen wird in Barcelona, das erst vor einem Jahrzehnt mit den rund 150 Meter hohen Zwillingstürmen am Port Olímpic einen fernhin sichtbaren Akzent erhalten hat, nun heftig diskutiert. Denn in der katalanischen Metropole - die von der Umgestaltung des Port Vell bis hin zu dem von Herzog & de Meuron geplanten «Forum der Kulturen» am meerseitigen Ende der Avinguda Diagonal eher auf flache Bauten setzte - sind gegenwärtig knapp ein Dutzend Hochhausprojekte in Planung. Unter diesen Werken, die sich in den Augen von Jean Nouvel wie «Geysire aus dem Magma der gebauten Stadt» erheben, befindet sich an der Plaça de les Glòries Catalanes als architektonisch anspruchsvollster Entwurf dessen 142 Meter hoher phallischer Rundturm mit farblich changierender Membran und als narrativstes Projekt das an ein geblähtes Segel erinnernde, 170 Meter hohe «Edificio Vela» von Ricard Bofill, das nun auf 80 Meter zurückgestutzt werden soll. Diese Höhenmarke, die der Stadtarchitekt von Barcelona, Josep Acebillo, den Bauherren und Architekten als vernünftige Limite nahelegt, hielt schon von Anfang an der von Benedetta Tagliabue und dem verstorbenen Enric Miralles entworfene Turm in der Barceloneta ein. Damit entspricht dieser noch am ehesten der Stimmung im Volk, die in den Hochhäusern gegenwärtig in erster Linie potenzielle Zielscheiben für Terroristen sieht. Auch wenn die bauende Zunft noch immer von der Sicherheit der Wolkenkratzer überzeugt ist, dürften über deren Zukunft letztlich die Benutzer entscheiden - und die müssen zunächst ihr Vertrauen wiederfinden.
Belle Epoque am Genfersee
Der Architekt Eugène Jost in einer Lausanner Ausstellung
Die Relativität unserer Sicht der Welt brachte im Bereich der Bilder und der Zeichen kaum einer so provokativ auf den Punkt wie der ungarisch-amerikanische Grafikdesigner Tibor Kalman in den von ihm gestalteten Ausgaben der Benetton-Zeitschrift «Color». Dem Schaffen dieses 1999 im Alter von 50 Jahren verstorbenen Gestalters widmet gegenwärtig das Lausanner Design-Museum «Mu.dac» eine irritierende Retrospektive. Blickt man - angeregt von Kalmans visuellen Fallen - vom Belvedere des Museums über Stadt und See, so wird einem bewusst, wie anders wir die Ufer des Léman sehen als noch die britischen Grand-Touristen, die - angelockt von Jean-Jacques Rousseaus «Nouvelle Héloïse» - rund um Montreux das irdische Paradies zu finden hofften.
Da sich aber das einfache, unverdorbene Leben angenehmer von bequemer Warte aus betrachten liess, boten die gewitzten Gasthausbesitzer und späteren Hoteliers in ihren Häusern immer mehr Komfort. Als dann mit der Eisenbahn ab 1860 immer mehr Gäste die milden Gestade von Montreux aufsuchten, entstand hier ähnlich wie an der Côte d'Azur ein Eden der Belle Epoque: Wo sonst konnte man unter Palmen und Zypressen lustwandeln und dabei einen Blick auf das schneebedeckte Hochgebirge werfen? Diese gründerzeitliche Welt liegt weit zurück, und gleichwohl ist sie - selbst inmitten der Jahrmarktstimmung des Jazzfestivals - zumindest architektonisch noch zugegen, bildet doch das «Montreux Palace» mit all seinen Annexbauten und dem einstigen Pavillon des Sports (mit dem restaurierten Tea-Room La Coupole) das vielleicht eindrücklichste Fin-de-Siècle-Ensemble unseres Landes.
Virtuose Entwürfe
Erdacht wurde diese grossbürgerliche Herrlichkeit von Eugène Jost (1865-1946), der - an der Ecole des Beaux-Arts in Paris ausgebildet - seit 1892 in Montreux tätig war als Architekt. Diesem lange Zeit vergessenen Baukünstler widmen nun die Archives de la construction moderne der ETH Lausanne im Forum d'architectures (FAR) eine eindrückliche Werkschau. Virtuose Entwürfe aus seiner Studienzeit zeigen Jost als genialen Zeichner und Erfinder, während die mit Plänen, Aquarellen und zeitgenössischen Photographien dokumentierten Bauten seine Fähigkeit belegen, der jeweiligen Aufgabe entsprechend mit den Stilen zu spielen und diese unter Anwendung aller technischen Errungenschaften den neuen Typologien von Bahnhof, Post oder Hotel anzupassen.
Gekonnte Realisierungen
Schon während er an der Restaurierung des Lausanner Schlosses arbeitete, konnte sich der 31-jährige Senkrechtstarter 1896 in einem Wettbewerb den Auftrag für das Hauptpostgebäude an der Place Saint-François sichern. Dieses eindrückliche, von der Schlossarchitektur der französischen Renaissance inspirierte Gebäude beherrscht noch heute in seiner ganzen Pracht das Weichbild der Stadt, auch wenn das Innere der durch die Eckrisalite zugänglichen Schalterhalle verunstaltet wurde. Neben der Post, dem nahe gelegenen Sitz der Credit Suisse, einem Mehrfamilienhaus und der Eisenkonstruktion des Pont Charles-Bessières besitzt Lausanne mit der überschwänglich neobarocken Rotunde des Hotels Beau Rivage in Ouchy ein weiteres Hauptwerk des Architekten. Josts übrige Bauten aber finden sich - die Berner Bollwerkpost ausgenommen - in Montreux. Der Bahnhof sowie mehrere zwischen Neugotik, zweitem Rokoko und Art nouveau changierende Villen und Hotels, darunter die denkmalgeschützten Ensembles von «Palace», «Grand-Hôtel» und «Hôtel des Alpes», werden gleichsam bewacht vom hoch oben am Berg thronenden «Caux Palace», einem riesigen und dennoch höchst pittoresken, von mittelalterlichen Türmen überragten Luxushotel.
Wie überlegt Jost, einer der grossen Hotelarchitekten der Schweiz, bei seinen Stilmischungen vorging, zeigt sich bei seinem Anbau an das «Hôtel Europe», dessen schwülstige Kurven er mit seinem streng gezeichneten Vokabular korrigierte. Trotz ihren unbestreitbaren architektonischen Qualitäten schienen Josts Belle-Epoque-Paläste mit dem durch den Ersten Weltkrieg eingeleiteten Niedergang des Luxustourismus dem Tod geweiht. Doch blieben sie wunderbarerweise bis auf das Casino erhalten. Die Karriere des einst von Hoteliers und Investoren umworbenen Architekten aber endete damals abrupt, auch wenn sich Jost 1928 noch am Wettbewerb für das Lausanner Métropole beteiligte. Allein, der Zuschlag ging an den nur sieben Jahre jüngeren Alphonse Laverrière, der den Schritt hin zu einer moderaten Moderne noch schaffte.
[Bis 29. Juli im FAR an der Avenue Villamont 4. Begleitpublikation: Eugène Jost. Architecte du passé retrouvé. Hrsg. Dave Lüthi. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2001. 200 S., Fr. 49.70. - Ausserdem kostenloses Faltblatt zu Eugène Josts Bauten in Lausanne und Montreux. ]
Architektur als Entertainment
New York zelebriert den Architekten Frank O. Gehry
Der New Yorker Ausstellungssommer steht ganz im Zeichen der Architektur. Mit einer monumentalen Doppelausstellung wird Mies van der Rohe geehrt; und das Solomon R. Guggenheim Museum zelebriert in einer grossen Retrospektive das Schaffen von Frank O. Gehry. Der kalifornische Meisterarchitekt nutzt mit viel künstlerischem Geschick die schwierige Rotunde des Wright-Baus für einen fulminanten Auftritt.
In einer Zeit, da die Jugend alles gilt, traut man dem Alter kaum noch Visionen zu. Manch einer reibt sich daher erstaunt die Augen, wenn er in der neusten Guggenheim-Ausstellung in New York feststellt, dass der Exzentriker, dem hier gehuldigt wird, schon 72 Jahre alt ist. Frank O. Gehry, 1929 in Toronto geboren und seit nunmehr 40 Jahren im Grossraum Los Angeles als Architekt tätig, gehört zu jenen Künstlern, denen - wie etwa Kandinsky - erst spät Erfolg beschieden war. Fast wie eine Komposition von Kandinsky wirkt denn auch die mit einem Gespinst aus Wellblech, Maschendraht und Spanplatten umhüllte Gehry Residence in Santa Monica, mit der er 1978 erstmals die Fachwelt irritierte.
Dieses Werk - halb Skulptur, halb biederes Vorstadthaus - liess sich nicht leicht einordnen. Wohl verstiess es gegen die Tradition der Moderne, doch wollte es nicht in die postmoderne Welle jener Jahre passen. Es brauchte Philip Johnson, das Enfant terrible der amerikanischen Architektur, um «Frank Gehry's Merzbau» 1988 in der MoMA-Ausstellung «Deconstructivist Architecture» in einen stilistischen Kontext zu stellen.
Rasanter Aufstieg
Bereits ein Jahr zuvor hatte der Basler Rolf Fehlbaum Gehry nach Europa geholt und ihn mit dem Bau des Vitra-Design-Museums in Weil am Rhein beauftragt, das nach seiner Eröffnung 1989 als neues Ronchamp sogleich zu einem Wallfahrtsort des internationalen Architekturtourismus wurde. Nicht zuletzt dieser fern am Horizont ganz neue Dimensionen ankündigende neobarocke Musentempel trug Gehry noch im gleichen Jahr mit dem Pritzker Prize die prestigeträchtigste Auszeichnung der Branche ein. Erneut Furore machte er anlässlich der 5. Architekturbiennale von 1991 in Venedig mit der Präsentation seiner bis heute nicht vollendeten Walt Disney Concert Hall in Los Angeles. Damit begab sich Gehry in die Arme von Dream Factory und Entertainment Industry, deren Rezepte damals gerade vom Guggenheim Museum übernommen wurden. Dieses ermöglichte ihm den Jahrhundertbau von Bilbao, der 1995 während der Kunstbiennale Venedig bei Peggy Guggenheim ausgestellt wurde (NZZ 14. 6. 95). Hier konnte er erstmals demonstrieren, wie eng und einzigartig in seinem Workshop traditionelles Handwerk, bildhauerische Virtuosität und Hochtechnologie zusammenspielen.
Dieser venezianische Ausstellungstriumph wird nun im New Yorker Solomon R. Guggenheim Museum noch übertroffen. Mit künstlerischem Gespür steckte Gehry die grosse Spirale von Frank Lloyd Wrights Meisterwerk in ein silbernes Kettenhemd, hinter dem man auf der Schneckenrampe bunte Modelle erahnen kann. Es wundert nicht, dass das hochkommerzialisierte Ausstellungsunternehmen Guggenheim die populär inszenierte Schau vor allem dazu benutzt, um Goodwill für sein umstrittenes Projekt einer Dependance in Lower Manhattan zu schaffen. Das dürfte ihm gelingen, denn der Ausstellungsauftakt ist mit den Maquetten dieses Museumsprojekts schlicht atemberaubend: Eine sich im East River spiegelnde Wolke aus Titan schwebt um einen gläsernen Turm, der wie eine Reminiszenz an das kürzlich gescheiterte «New York Times»-Hochhausprojekt wirkt. Durch die weit über dem Strassenniveau sich öffnenden Fenster erblickt man kleine Figürchen vor miniaturisierten Serra-Plastiken und Stella-Bildern. Betört von dieser Puppenstube, pilgert das Publikum anschliessend die Rampe hoch - vorbei an zahllosen architektonischen Miniaturen, die anders als die nur vereinzelt aufgelegten Planbücher auch für Laien lesbar sind und die es ihnen so gestatten, die Werkentwicklung zu studieren. Die frühen Fingerübungen, die Bricolage der schrägen Gehry-Residence, die kubischen Villen der achtziger Jahre und der klassizistisch anmutende Campus der Loyola Law School in Los Angeles zeigen noch einen Suchenden. Doch dann markieren die beiden Vitra-Bauten in Weil am Rhein und Birsfelden die grosse Öffnung hin zu den barock wirbelnden Kulturbauten, aus denen die metallenen Girlanden bald organisch quellen, auf denen sie bald aber auch wie appliziert erscheinen.
Der Architekt als Künstler
Der entwerferische Akt, der bei Gehry immer ein plastisch-gestalterischer und kein abstrakt-konzeptioneller Vorgang ist, feiert in der Lewis Residence Triumphe. Dieser nicht realisierte Schlüsselbau diente dem Meister über Jahre als Laboratorium. Er führte ihn hin zum computertechnischen Entwurfssystem «Catia» und ermöglichte damit erst die Entstehung der stählernen Magnolie von Bilbao. Dass Gehry daneben aber auch ganz banale Ideen entwickelte, zeigt das Bürohaus «Fred und Ginger» in Prag, dessen Fassadenentwurf mit den einfältig tanzenden Lochfenstern seither bei Wohn- und Verwaltungsbauten immer wieder auftaucht und die Grenzen seines Formenvokabulars in der Alltagsarchitektur eindrücklich demonstriert. Doch Gehry wäre nicht Gehry, könnte er sich nicht immer wieder auffangen. So entwarf er für den Pariser Platz eine vergleichsweise traditionelle Steinfassade, die sich jedoch schnell als höchst intelligente Antwort auf den Berliner Klassizismus entpuppte. Hinter der steinernen Lochfassade explodiert dann der Raum, um sich im schwebenden Pferdekopf des Konferenzzentrums, eines trendigen Stücks Computerarchitektur, wieder zu verdichten.
Gehrys Masslosigkeit beim Zusammenstellen dieser Schau führt dazu, dass er sein eigenes Werk zerredet. Gleichzeitig aber gelingen ihm auch immer wieder Sequenzen oder ganze Räume von faszinierender Dichte: etwa das nächtliche Aquarium des ersten Ausstellungssaals im Gwathmey-Annex mit den schummrig illuminierten Kartonmöbeln und den durch den Raum schwimmenden Fisch-Leuchten - oder die Studioatmosphäre evozierende Präsentation des gesamten Plan-, Skizzen- und Modellmaterials für das Stata Center auf dem MIT-Campus in Cambridge. Obwohl Gehry den neusten Projekten viel Platz einräumt, vermisst man eine Arbeit: den Entwurf für das New Yorker Hotel Astor Place, mit dem er sich schon auseinandersetzte, bevor Ian Schrager die Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas quittierte (NZZ 27. 6. 01). Gespannt fragt sich New Yorks Architektenszene nun, ob Gehry dafür das einer gigantischen Fazzoletti-Vase aus Muranoglas gleichende «New York Times»-Projekt, dessen Scheitern ihn so schwer getroffen hat, aus der Mottenkiste zaubert.
Die Vorgänge um das Astor-Place-Projekt zeigen ebenso wie die Ausstellung selbst, dass in der Gunst des grossen Publikums das Verspielte stets über das Intellektuelle siegt. Die Schau im Guggenheim ist ein Fest für die Sinne, aber tiefere architektonische Erkenntnis bringt sie kaum. Dass der politische, soziale, geschichtliche und baukünstlerische Kontext unterschlagen wird, ist bei monographischen Ausstellungen leider längst die Norm. Vom Katalog aber, der im Grunde nichts anderes als einen bunten Bilderreigen durch Gehrys Schaffen bietet, hätte man einen erweiterten Blick erwarten dürfen.
[Bis 26. August. Katalog: Frank Gehry. Architect. Hrsg. Fiona Ragheb. Abrams, New York 2001, und Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2001. 390 S., Fr. 116.- ($ 45.-/75.- in der Ausstellung).]
Wie ein Phönix aus der Asche
Wettbewerb für das Kulturzentrum „Palace“ in Lugano
Als frühes Meisterwerk der Schweizer Tourismus-Architektur kommt dem ehemaligen Grand-Hotel Palace in Lugano eine wichtige kulturgeschichtliche Stellung zu. Doch das 1851-55 von Luigi Clerichetti im Stil des Mailänder Klassizismus errichtete und 1903 vom international tätigen Luzerner Hotelarchitekten Emil Vogt aufgestockte Luxushotel verkam nach dem Verkauf im Jahre 1975 durch ein spekulatives Trauerspiel zur Ruine und brannte Anfang 1994 aus. Daraufhin propagierte der freisinnige Sindaco Giorgio Giudici - unterstützt von der Lega - die Idee, die denkmalgeschützten Überreste durch einen Kasino-Neubau zu ersetzen (NZZ 7. 3. 98). Das Volk jedoch wehrte sich dagegen und wollte auf Grund einer Petition das «Palace» als Zeugen einer grossen touristischen Vergangenheit wiederhergestellt sehen. Doch erst als die Kasino-Anforderungen des Bundes Giudicis Tabula-rasa-Projekt bedrohten, wagte er die Flucht nach vorn und machte sich im Stadtrat für den Umbau des «Palace» in ein Kulturzentrum stark. Im Juli 2000 wurde ein zweistufiger internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, in welchem die Teilnehmer aufgefordert waren, zwischen Hotelfassaden, Renaissancekreuzgang und Kirche sowie im Park ein Museum, einen Theater- und Musiksaal sowie Wohnbauten zu entwerfen.
Stunde der Wahrheit
Dieser Wettbewerb zählte zweifellos zu den anspruchsvollsten baukünstlerischen Herausforderungen der vergangenen Jahre in der Schweiz, weil architektonische Meisterwerke aus verschiedenen Jahrhunderten erhalten und unter Anwendung einer zeitgenössischen Formensprache zueinander in Bezug gesetzt werden mussten. Die Präsentation der Resultate (vom 21. Mai bis 1. Juni im Ausstellungszentrum Mac 7 in Lugano; NZZ 23. 5. 01) machte klar, dass die hochkarätige Jury unter dem Vorsitz von Mario Botta gute Arbeit geleistet hat. Auch wenn in der zweiten Runde vier Projekte einheimischer Architekten die vordersten Plätze belegen, trifft der verschiedentlich laut gewordene Vorwurf, einmal mehr habe die «Ticino Connection» gespielt, nicht zu. Die Jury würdigte vielmehr die Tatsache, dass Tita Carloni, Ivano Gianola, Michele Arnaboldi und Sebastiano Gibilisco am sorgfältigsten auf den historischen Ort und die städtebaulich empfindliche Lage am See eingegangen sind.
Dem grossstädtischen Erscheinungsbild des «Palace» zollte Carloni am meisten Respekt. Viele auswärtige Architekten hingegen ignorierten die Bedeutung der klassizistischen Schaufront als Südeingang zum Centro storico, die doch Anlass zum Wettbewerb gegeben hatte, und sahen sich durch das zu erhaltende Gemäuer in ihrer Kreativität gehindert. Dies bewirkte in zahlreichen Entwürfen eine Degradierung des «Palace» zum Bühnenbild oder zur potemkinschen Fassade, was einer endgültigen Zerstörung des Gebäudes gleichkäme. Selbst Dominique Perrault kokettierte mit dieser simplen Lösung: Der Architekt, der im Niemandsland hinter der Pariser Gare d'Austerlitz den kontroversen, aber wichtigen Neubau der Bibliothèque nationale de France zustande gebracht hatte, versagte vor der Luganeser Herausforderung kläglich mit einer hoch über den Ruinen des «Palace» aufgeständerten goldenen Theaterkiste. Wie Perrault blieben auch die anderen Stars - Bellini, Chipperfield, Kleihues - schon im vergangenen Herbst bei der ersten Sichtung der 122 eingereichten Projekte auf der Strecke.
Dabei konnten hier die Architekten wie selten sonst ihre Fähigkeit, mit dem historischen Kontext umzugehen, unter Beweis stellen. Dazu eignet sich allerdings weder ein postmoderner Mix aus Rossi-Bauten und Turiner Schlossplatz noch eine gestenreiche dekonstruktivistische Rahmenkonstruktion in der Art der Grazer Domenig-Adepten Wolff-Plotegg und Böhm. Interessanter ist da der Versuch von Hans Frei und seinen Kasseler Mitarbeitern, die Neubauten in den Hügel einzugraben, um sie dann durch Folies à la Bernard Tschumi im Park anzudeuten. Noch diskreter verstecken die Zürcher Herczog Hubeli Comalini ihr Theatergehäuse im Berg, während der St. Galler Marcel Ferrier sein Theater in den eigens terrassierten Grünraum integriert. Völlig unabhängig voneinander bedrängen die beiden Mailänder Architekten Pierluigi Nicolin und Mario Bellini das «Palace» mit einem Neubau in der Form einer riesigen ovalen Pillbox. Sonst aber dominiert bei den Italienern der Hang zur planerischen Hysterie, die nun auch bei den jüngsten Tessinern vermehrt Gehör zu finden scheint.
Eine nicht ganz unberechtigte Kritik an den Veranstaltern, die vielleicht zu viel auf dem historischen Gelände unterbringen wollten, wagt der angekaufte Entwurf des Berliner Architektenteams um Uli Ackva, das schon im vergangenen Jahr mit dem Umbauprojekt für eine ehemalige Fabrik in Vaduz in Fachkreisen Aufsehen erregte. Um nicht an beliebiger Stelle einen Theaterneubau hinzusetzen, bringt es das gesamte Bauprogramm hinter den «Palace»-Fassaden unter und opfert dafür den Renaissance-Kreuzgang, der allerdings einen unantastbaren Bestandteil des nationalen Baudenkmals von Santa Maria degli Angeli darstellt. Als einziges äusseres Zeichen weist eine entfernt an den gläsernen Leuchtbalken der Tate Modern erinnernde Aufstockung auf die Eingriffe hinter dem klassizistischen Gemäuer hin. Das Wettbewerbsprogramm kritisiert ein weiteres Projekt, das ebenfalls angekauft wurde: Nicole und Sandro Cabrini aus Lugano stellen ihren halbtransparenten Theaterpavillon just dort an den See, wo sich bis vor gut 80 Jahren eine malerische Häusergruppe mit der Renaissance-Kapelle Santa Elisabetta befand. Ein naheliegender Vorschlag - doch verlangt die prominente Lage an der Bucht von Lugano entschieden nach einem genialen Wurf à la Utzon in Sydney, Nouvel in Luzern oder Gehry in Bilbao.
Intelligente Lösungen
Solch seltene Glücksfälle lassen sich kaum herbeizaubern: Auch unter den vier Siegerprojekten - so intelligent sie die Aufgabe angehen - ist keines auszumachen, das in allen Punkten befriedigt. Carloni überzeugt durch einen denkmalpflegerisch behutsamen Umgang mit dem ruinösen Baukörper und den Fassaden, die er bis hin zu Clerichettis klassizistischer Farbgebung und Vogts Dachabschlüssen restauriert. Auch in der Klarheit des Plans, die sich in der Placierung der übrigen Bauteile (Theater und Wohnblock) äussert, besticht sein Vorschlag. Leider aber gleicht der verglaste Theaterkubus allzu sehr einer «banca in periferia». Zu einer ähnlichen Setzung der Bauten fand Gibilisco, ein bis anhin wenig bekannter Nachwuchsarchitekt. Allerdings wirkt seine Wohnsiedlung am Hang eher schwerfällig - verglichen etwa mit den über einem parallel zum Hügel gelegten Basiskörper elegant auskragenden Wohnkuben von Roberto Briccola, dessen Entwurf wegen sonstiger Mängel nicht in die zweite Runde kam. Bei Arnaboldi gefällt die deutschschweizerisch anmutende Grundrissgestalt, dank der sich das «Palace» in eine spannungsreiche Stadtfigur verwandelt. Gianola schliesslich führt die Volumetrie des «Palace» geschickt fort und fügt - ähnlich wie der leer ausgegangene Chipperfield - dem Altbau einen bergseitigen, für das Theater bestimmten Flügel an.
Nun müssen sich die vier Sieger auf Wunsch von Stadt und Jury zu einer gemeinsamen Lösung zusammenraufen. Es wäre jedoch durchaus zu erwägen, die Restaurierung und Erneuerung des «Palace» direkt Carloni zu übergeben, die Wohnbauten am Hang unter allen vier Beteiligten ausmachen zu lassen und für das Theater, das in der von Carloni und Gibilisco vorgeschlagenen Position zu einem prägnanten Bau werden könnte, einen kleinen Wettbewerb unter den Siegern und einigen gezielt geladenen Architekten (etwa Ben van Berkel, Zaha Hadid, Steven Holl oder Peter Zumthor) auszuschreiben. So bestünde die Chance, dass neben dem «Palace» als erstrangigem Zeugen der Baukultur des 19. Jahrhunderts ein ins 21. Jahrhundert weisendes Gebäude entstehen könnte.
Zwei gläserne Monolithe
Europäischer Mies-van-der-Rohe-Preis an Moneos Kursaal in San Sebastián
Am Montagabend wurde in Barcelona der 1988 initiierte und jetzt - mit einiger Verspätung - zum siebten Mal verliehene Mies-van-der-Rohe-Preis 2001 dem Kursaalgebäude im baskischen San Sebastián zugesprochen. Diese grossartige Kulturbastion von Rafael Moneo, die zwei Eisbergen gleich am Atlantikstrand liegt (NZZ 16. 10. 99), wurde anlässlich des Filmfestivals im Herbst vor einem Jahr eröffnet. Obwohl kaum ein Architekt auf Grund seines Könnens die neu zum EU-Preis für zeitgenössische Architektur avancierte und mit 50 000 Euro dotierte Ehrung mehr verdient als der heute 64 Jahre alte Spanier, räumte man dem Bau zunächst kaum Chancen ein. Denn der letzte «Premio Mies van der Rohe» ging 1998 ebenfalls an einen gläsernen Monolithen, genauer: an Zumthors Kunsthaus in Bregenz. Mit San Sebastián setzt die Jury unter dem Vorsitz von Vittorio Magnago Lampugnani nun nicht nur auf Qualität, sondern auch auf Innovation und erstickt mit der baskischen Karte zudem andernorts aufkommende nationale Animositäten im Keim.
Dennoch spielt bei der Preisvergabe das Ländergleichgewicht eine ähnlich wichtige Rolle wie die Architektur. So hatte etwa Jean Nouvels ebenso umstrittener wie einschüchternder Justizpalast in Nantes (NZZ 6. 3. 01) schon deshalb einen schweren Stand, weil Frankreich 1996 mit Perraults Bibliothèque nationale geehrt worden war. Und einer der urbanistisch, soziologisch und baukünstlerisch wichtigsten Beiträge der letzten Jahre, die New Art Gallery von Caruso St John in Walsall (NZZ 6. 11. 00), scheiterte nicht zuletzt daran, dass Grossbritannien 1990 und 1994 mit Foster und Grimshaw zum Zuge kam. Ein idealer Kandidat wäre der niederländische Expo-Pavillon von MVRDV in Hannover gewesen, da mit ihm zwei noch nie ausgezeichnete Länder zugleich hätten gekürt werden können. Vermutlich aber wollte man Rem Koolhaas, dessen bald vollendeter Konzertsaal in Porto gute Aussichten auf den Preis im Jahr 2003 haben dürfte, den Weg nicht verbauen. Ein valabler Kandidat war schliesslich das GSW-Hochhaus von Sauerbruch & Hutton in Berlin (NZZ 3. 9. 99). Doch kann sich Deutschland nun mit dem Nachwuchspreis trösten, der an einen Gewerbebau des jungen Münchners Florian Nagler in Bobingen geht.
Utopie und Realität
Berlin im Banne von Schinkels Klassizismus
Szenengeheul und bauliche Verirrungen sorgen in Berlin stets für neuen Zündstoff. Gleichzeitig aber steht Schinkels Erbe immer noch für Kontinuität. Davon zeugen zurzeit zwei Ausstellungen, die Diskussion um den Wiederaufbau der Bauakademie, Gehrys DG-Bank beim Brandenburger Tor sowie die Projekte für die Museumsinsel.
Neben einer zeitgeistigen Szene ist es vor allem das rasant sich wandelnde Stadtbild, das Berlin-Besucher fasziniert und irritiert. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass hier um fast alles gestritten und debattiert wird - bis hin zum ebenso leidigen wie überflüssigen Wiederaufbau des Stadtschlosses. Dessen Anhänger vergessen nur allzu leicht, dass nicht das Schloss das architektonische Herz der Stadt ist, sondern das Alte Museum. An diesem Meisterwerk von Karl Friedrich Schinkel haben sich Generationen von Baukünstlern gemessen: selbst Mies van der Rohe, der sich in den sechziger Jahren - von Chicago aus - mit der Neuen Nationalgalerie tief vor Schinkel verneigte.
Klenze bei Schinkel
Nun bietet Schinkel, der Übervater des deutschen Klassizismus, in seinem vornehmsten Haus dem Grossmeister des Münchner Klassizismus Gastrecht. Mit Leo von Klenze feiert die aus München importierte Schau (NZZ 12. 8. 00) im Alten Museum jenen Architekten, der die süddeutsche Residenzstadt in ein Athen an der Isar verwandelte. Die an der Spree in reduzierter Form gezeigte Retrospektive fordert zum Vergleich des Alten Museums mit Klenzes Galeriebauten heraus und beweist so die Modernität der gleichsam als Ausstellungsmaschine konzipierten Alten Pinakothek in München mit ihren wegweisenden Oberlichtsälen. Neben hervorragenden Dokumenten zu Klenzes Œuvre präsentiert die Ausstellung auch Höhepunkte des preussischen Klassizismus, etwa die berühmte Gouache von Friedrich Gillys nie gebautem Denkmal für Friedrich II. Diese Inkunabel des deutschen Klassizismus deutet an, was aus Berlin hätte werden können, wenn um und nach 1800 an der Spree eine ähnliche Baueuphorie geherrscht hätte wie heute. Doch Schinkel, der Erbe des jung verstorbenen Gilly, musste sich mit partiellen Interventionen ins spätbarocke Stadtgewebe zufrieden geben. Wozu er als Architekt und Urbanist fähig gewesen wäre, veranschaulicht in der Klenze-Schau das im Krieg verlorene Gemälde «Blick in Griechenlands Blüte» in der Kopie von Wilhelm Ahlborn.
Dennoch kann Berlin mit einer derart reichen Palette an Schinkel-Bauten aufwarten, dass man beim Namen Schinkel sogleich an diese Stadt und ihr Umland denkt: an das Schloss Charlottenhof, das Gärtnerhaus und die Nikolaikirche in Potsdam, die mediterrane Anlage in Glienicke, das Humboldtschlösschen in Reinickendorf, vor allem aber an das Alte Museum, die Schlossbrücke, die Neue Wache, die Friedrichswerdersche Kirche und das Schauspielhaus im Bezirk Mitte. Dabei gehen die bedeutenden Berliner «Vorstadtkirchen» meist ebenso vergessen wie die zahllosen Arbeiten im einst preussischen Herrschaftsbereich von Aachen bis ins ostpolnische Wielbark. Dieser kaum bekannten Vielfalt ist gegenwärtig in der Kunstbibliothek eine durch Pläne, Zeichnungen und Spolien angereicherte, von einem opulenten Begleitband dokumentierte Ausstellung mit hervorragenden Fotos von Hillert Ibbeken gewidmet. Sie veranschaulicht den heutigen Zustand von rund 150 Bauten - darunter viele nie gesehene Landkirchen - und zeigt damit selbst manchen Schinkel-Kennern einen ganz neuen Künstler.
Die Schau beweist, dass trotz Kriegsverlusten ein reicher Schinkel-Bestand erhalten geblieben ist. Die schwer beschädigte Bauakademie allerdings, die gemeinhin als sein modernster Bau bezeichnet wird, musste dem DDR-Aussenministerium weichen. Doch jetzt verheisst die von Baufachschülern am Originalstandort wiederhergestellte Nordostecke die Wiedergeburt dieses Meisterwerks. Angesichts des in Berlin immer lauter werdenden Rufs nach der Rekonstruktion verlorener Bauten dürften gewisse Schinkel-Verehrer bald auf den Gedanken kommen, auch dessen nie realisierten späten Projekten Leben einzuhauchen. Das Planmaterial existiert ja - und das Geld scheint hier - ausser bei Zumthors Topographie des Terrors - ohnehin keine Rolle zu spielen. Am Wannsee liessen sich die Plinius-Villen verwirklichen. Für das auf der Krim geplante Zarenschloss Orianda fände sich vielleicht eine Felsenklippe an der Ostsee, während die archäologisch nicht ganz korrekte Vision eines Königspalastes auf der Akropolis schon von Klenze als nicht realisierbarer, gleichwohl aber «wunderbarer Sommernachtstraum» bezeichnet wurde. So wird man denn gescheiter von diesen mediterranen Phantasien weiterhin nur träumen, zumal einem dabei der jüngst bei Axel Menges erschienene, attraktiv ausgestattete und von Klaus Jan Philipp sachkundig kommentierte Doppelband zu Schinkels «Späten Projekten» hilft.
Berlins neuer Klassizismus
Nicht nur die Sehnsucht nach der verlorenen Bauakademie zeigt, dass gut 200 Jahre nach Gillys und 160 Jahre nach Schinkels Tod noch immer ein klassizistischer Hauch durch Berlins Strassen weht. Mit der auf den Pariser Platz gerichteten Fassade der DG-Bank, die mit ihrer sorgsam ausgewogenen Steinkonstruktion weit überzeugender als Kleihues' Annexbauten den Säulenhallen von Langhans' Brandenburger Tor antwortet, fand der Formzertrümmerer Frank Gehry zu einem ebenso zeitgemässen Klassizismus wie Roger Diener in der zu Unrecht vielgeschmähten, von Gunnar Asplunds Göteborger Rathaus hergeleiteten Erweiterung der Schweizer Botschaft. Verglichen mit diesen Arbeiten stellen Axel Schultes' geschmäcklerische Säulenhalle des Treptower Krematoriums und die Glastempel von Hilmer und Sattler über den Aufgängen des Bahnhofs Potsdamer Platz einen höchst fragwürdigen Flirt mit dem klassizistischen genius loci dar und sind im Grunde nur ein dürftiger Abglanz von Louis Kahn und Mies van der Rohe.
Interessant wird sein, wie David Chipperfield seine Aufgabe auf der Museumsinsel lösen wird, die derjenigen der Schweizer Botschaft nicht unähnlich ist. Während Stülers Alte Nationalgalerie aussen bereits saniert und innen nun mit grösstem Aufwand als edler Rahmen der Sammlung des 19. Jahrhunderts hergerichtet wird, soll die benachbarte Kriegsruine von Stülers Neuem Museum demnächst von Chipperfield zeitgenössisch ergänzt werden. Grossartig wäre es freilich, wenn der Karyatiden-Saal und der Römische Saal, die beide samt Freskenresten noch erstaunlich gut erhalten sind, in ihrem heutigen Zustand konserviert werden könnten durch eine Renovation, die - ähnlich wie die Londoner Studio-Umbauten von Caruso St John - alle Spuren der Geschichte bewahren würde und künftig für skulpturale Werke genutzt werden könnte.
Von Chipperfield darf man erwarten, dass er mit den Stüler'schen Bauresten sorgsamer umgehen wird als Ungers mit dem Pergamon-Museum. Die enormen Ausgaben für die vom Kölner Altmeister geplante, den Ehrenhof abschliessende Pfeilerhalle, könnte man getrost sparen. Dann könnte zudem die vor 20 Jahren errichtete Eingangshalle erhalten bleiben, die eine seltene Reverenz der DDR an Mies' Nationalgalerie und damit indirekt auch an Schinkel darstellt. Weit behutsamer als Ungers gehen die Berliner Landschaftsarchitekten Levin Monsigny mit dem Weltkulturgut Museumsinsel um: Ihr siegreicher Vorschlag für die Gestaltung des Grünraums rund um die Alte Nationalgalerie findet nicht nur zu einer dem Bauerbe adäquaten Sprache. Er lässt zudem das Museum als Stülers Antwort auf Friedrich Gillys ungebautes Monument für Friedrich II. wiedererkennen und verweist mit der «Neugierde», einem in den Spreekanal vorkragenden Aussichtsbalkon, einmal mehr auf Schinkel: nämlich auf dessen «Grosse Neugierde» im Park von Schloss Glienicke.
[Klenze-Ausstellung im Alten Museum bis 29. April. Katalog: Leo von Klenze. Architekt zwischen Kunst und Hof. Hrsg. Winfried Nerdinger. Prestel-Verlag, München 2000. 540 S., Fr. 137.- (DM 58.- in der Ausstellung). - Schinkel-Ausstellung in der Kunstbibliothek bis 30. April. Begleitbuch: Karl Friedrich Schinkel. Das architektonische Werk heute. Hrsg. Hillert Ibbeken und Elke Blauert. Edition Axel Menges, Stuttgart 2001. 348 S., Fr. 186.- (DM 98.- in der Ausstellung). - Klaus Jan Philipp: Karl Friedrich Schinkel. Späte Projekte. 2 Bde. Edition Axel Menges, Stuttgart 2000. 112 u. 128 S., Fr. 348.-. ]
Puristische Bauten in strahlendem Weiss
Ausstellung über Richard Meier in Rotterdam
Er gilt als Meister einer blendend weissen Spätmoderne: der New Yorker Architekt Richard Meier, der in den achtziger Jahren mit skulpturalen Bauten in den USA und in Europa Weltruhm erlangte. Nun feiert ihn das Nederlands Architectuurinstituut (NAI) in Rotterdam mit einer aus Los Angeles übernommenen Retrospektive.
Kreative Neugier, öffentliche Förderung und eine ausgeprägte Diskussionskultur standen am Anfang des holländischen Architekturbooms der letzten 20 Jahre. Kritisch begleitet wird die Entwicklung seit langem vom Nederlands Architectuurinstituut (NAI) in Rotterdam. Dieses begnügt sich nicht damit, die neusten Tendenzen im Lande selbst zu reflektieren. Es lädt auch immer wieder ein zur Auseinandersetzung mit wichtigen internationalen Architekturpositionen. In diesem Rahmen ist die neuste, dem amerikanischen Meisterarchitekten Richard Meier gewidmete Retrospektive zu sehen. Auch wenn dessen Werk heute quer zur niederländischen Architekturentwicklung steht, so war es doch Meiers Entwurf, der 1986 im Wettbewerb für das neue Rathaus von Den Haag den in zwischen zum Guru aufgestiegenen Rem Koolhaas auf die Plät ze verwies und damit eine wichtige Auseinandersetzung auslöste. Der 1995 vollendete Grossauftrag, Meiers komplexestes Werk neben der Getty-Zitadelle in Los Angeles, war für das Rotterdamer Ausstellungshaus denn auch Anlass, die aus europäischer Sicht etwas unzeitgemäss wirkende Schau vom Museum of Contemporary Art in Los Angeles zu übernehmen. Die im grossen Parterresaal des NAI vom Meister selbst erfrischend einfach eingerichtete Retrospektive zeigt die wichtigsten Bauten in Form von Zeichnungen, Plänen, Fotos und einer audiovisuellen Präsentation - vor allem aber mittels prachtvoller weisser Maquetten und eines gigantischen, acht mal dreizehn Meter grossen Originalmodells des Getty Center.
Mit dem Pritzker-Preis von 1984 und der im Jahr darauf erfolgten Eröffnung seines ersten europäischen Meisterwerks, des Museums für Kunsthandwerk in Frankfurt, avancierte der New Yorker zum Liebkind der Architekturszene. Meiers frühe amerikanische Villen und Kulturbauten wurden einem von den baulichen Banalitäten der siebziger Jahre angeödeten Publikum zu Wegweisern in eine schönere Zukunft. Die aus dem Grün von Parks und Küstenlandschaften weiss aufleuchtenden Gebäudeskulpturen waren das Ergebnis einer architektonischen Recherche, die Meier - den einstigen Mitarbeiter von SOM und von Marcel Breuer - auf die Spuren von Le Corbusiers Purismus geführt hatte. Das Interesse an der weissen Moderne teilte er damals mit Eisenman, Graves, Hejduk und Gwathmey, mit denen er 1972 das folgenreiche Manifest «Five Architects» herausgab. Im Gegensatz zu Eisenman interessierte sich Meier allerdings mehr für das Bauen als für die graue oder in diesem Fall doch eher «weisse» Theorie.
Nach kleineren Anfängerbauten gelang ihm 1967 mit dem aus weiss gestrichenem Holz und viel Glas errichteten Smith House in Darien an der Felsenküste von Connecticut der Durchbruch. Die corbusianischen Hauptthemen dieser Villa, die «Wohnmaschine» und das «Schiff», die sich im puristischen Weiss, in Rampen, Brücken, Promenaden und in einer völlig aufgelösten Front zum Meer hin manifestierten, wurden im dramatisch über dem Michigansee inszenierten Douglas House mit Kaminen, Decks und Relings perfektioniert. Mit dem Zentrum für behinderte Kinder in der New Yorker Bronx näherte sich Meier kurz dem Hightech: Hier experimentierte er mit einer Verkleidung aus silbergrauen Aluminiumplatten, die dann - weiss emailliert - im 1979 vollendeten Atheneum von New Harmony erneut auftauchten und seither zum Markenzeichen wurden. Neben den Schiffsmetaphern setzte Meier hier erstmals einen jener barock geschwungenen, geschlossenen Baukörper ein, die bald an puristische Gemälde, bald an Borrominis Kirchenfassaden erinnern, mit welchen er sich 1973 während eines Romaufenthalts beschäftigt hatte.
Jeder dieser drei Bauten stellte einen wichtigen Schritt hin zum High Museum of Art in Atlanta (1983) dar, dessen Foyer als geniale und durchaus kritische Antwort auf Frank Lloyd Wrights New Yorker Guggenheim-Schnecke gelesen werden kann. Dieses meisterhafte Museumsgebäude markiert den eigentlichen Höhepunkt in Meiers Schaffen, denn schon das vielgerühmte Frankfurter Museum für Kunsthandwerk sollte in seiner formalen Exaltiertheit erste Ansätze zu einer Manieriertheit zeigen, der - von Eisenmans pseudophilosophischem Dekonstruktivismus bis hin zu Graves' verspieltem Postmodernismus - auch seine einstigen Mitstreiter erlagen. Seither realisierte Meier nur noch einige kleinere Arbeiten wie das Ackerberg House in Malibu oder das (anders als die Grossbauten in Barcelona, Basel oder Ulm) wirklich überzeugend in den städtischen Kontext integrierte Museum for Radio and Television in Beverly Hills, bei denen die architektonische Verunklärung wieder einem klareren Rationalismus Platz machte. Dies und die Tatsache, dass Meier immer wieder dieselben Themen variierte, dass er die durch Rotationen gegeneinander leicht verschobenen Raster komplexer werden und die Fassaden im geometrischen Formalismus und im kalten Weiss des Emails erstarren liess, führten gerade auf dem alten Kontinent zu einem schwindenden Interesse am Werk dieses Amerikaners, der doch in seiner Heimat als ganz besonders europäisch gilt.
Die Skepsis gegenüber Meiers Schaffen wurde noch durch eine in Europa zunehmend kontextueller und antirationalistischer gewordene Sichtweise gemehrt, aber auch durch die Enttäuschung über das in seiner funktionalen Komplexität formal nicht wirklich bewältigte Getty Center. Nun offenbart die Rotterdamer Schau jedoch, dass Meier sich dieser Problematik durchaus bewusst ist: In seinen neusten Projekten, den Courthouses in Phoenix, Arizona, und in Islip, New York, versucht er sich nämlich aus dem Teufelskreis des Selbstzitats zu befreien. Gelungen ist ihm dies im minimalistisch simplen, fast transparenten Neugebauer House mit dem V-förmigen Dach in Naples, Florida - und ebenso bei der aus sphärisch gekurvten Schalen bestehenden, für das Giubileo geplanten Kirche in Rom, die allerdings kaum vor dem kommenden Herbst geweiht werden dürfte.
Der Architekt als Wunderheiler
Jean Nouvel und der neue Justizpalast von Nantes
Das Kultur- und Kongresszentrum Luzern, Jean Nouvels grosses Meisterwerk, hat im Palais de Justice von Nantes sein Pendant erhalten: Doch spiegelt sich in den Fluten der Loire kein optimistisches Gebäude, sondern ein zwischen Werft und Sakralbau oszillierender schwarzer Riese, der zu einem bedrohlichen Symbol der Judikative wird.
Seit Bauen hierzulande wieder «in» ist und fast jedes alte Gemäuer zur Disposition steht, geistert durch den Blätterwald ein Gespenst, das gerne schwarz trägt und auf den Namen Jean Nouvel hört. Hier und dort wird es beschworen - etwa in Zürich, wenn man das Kasernenareal vermarkten, das Rathaus verlassen oder das Landesmuseum loswerden will, weil es renovationsbedürftig und nicht eben trendy ist. In diesen Fällen schielen die sonst so weltstädtischen Zürcher nach Luzern, wo Nouvels Kultur- und Kongresszentrum metropolitanen Glamour verströmt. Dabei vermögen, abgesehen vom Luzerner Glücksfall, Neubauten selten mehr zu überzeugen als die ins Pfefferland gewünschten Baudenkmäler. Bedenklich aber ist, dass mit dem Ruf nach Nouvel letztlich nur der Weg geebnet wird für jene Lokalmatadoren, die - vom Eurogate bis zum bedrohten Kreuzplatz (um in Zürich zu bleiben) - nur dürftige Allerweltsbauten aufstellen. In provinzieller Fehleinschätzung verkennen die Schreihälse jedoch nicht nur die Bedeutung des architektonischen Erbes, sie ignorieren auch die Tatsache, dass lang nicht jeder Bau von Nouvel so vornehm in Erscheinung tritt wie das Meisterwerk am Vierwaldstättersee. Erinnert sei nur an die Galeries Lafayette in Berlin, jenen schwarzen Pudding, der allein deswegen nicht wabbelt, weil er aus Glas und Stahl besteht. Das heisst nun nicht, dass Nouvel ein schlechter Architekt wäre. Es heisst aber sehr wohl, dass er nicht der städtebauliche Wunderheiler ist, den viele gerne in ihm sähen.
Schwarzer Glanz
Das vor wenigen Monaten vollendete Palais de Justice in Nantes zeigt, zu welch unerbittlich strenger Architektur Nouvel fähig ist. Gemäss dem fast schon jakobinischen Motto «définir avec justesse une architecture juste» projektierte er 1993 für die direkt der Altstadt gegenüberliegende Ile de Nantes ein Repräsentationsgebäude, das Erinnerungen an Revolutionsarchitektur und Terreur evoziert und so die Menschen auf Distanz zu halten sucht. Wie ein Tempel thront es bleiern schwarz und unnahbar über den Fluten der Loire, dominiert die Relikte der industriellen Vergangenheit des Ortes und will mit seinem stets verschatteten Erscheinungsbild ganz offensichtlich die Stadt einschüchtern. Mit diesem Bau bezieht sich Nouvel (wie zuvor schon in Luzern) auf alte Werftanlagen, vor allem aber auf Mies van der Rohes Nationalgalerie in Berlin - nur dass die Pfeilerhalle seines Justizpalastes zweimal so hoch und doppelt so breit ist wie das ehrwürdige Vorbild. Vom humanen Mass des Berliner Museumsbaus ist nichts mehr zu spüren; und so wird denn dieses Monument zu einem geradezu bedrohlichen Symbol der dritten Gewalt. Damit unterscheidet es sich entschieden von den Justizpalästen eines Portzamparc in Grasse und eines Rogers in Bordeaux, die ebenfalls 1992 vom Justizministerium in Auftrag gegeben wurden.
Um das Besondere von Nouvels Neubau zu erfassen, muss man sich ihm zu Fuss nähern. Da die direkt auf ihn ausgerichtete Passerelle von Clotilde und Bernard Barto noch nicht existiert, ist man gezwungen, auf einer verkehrsreichen Brücke vom zentralen Quai de la Fosse auf die andere Flussseite hinüberzuwechseln. Dort versucht man sich dann - vorbei an einem moosbewachsenen Autosilo und modernden Fabrikhallen - zum Haus der Justiz durchzuschlagen. Plötzlich endet die Strasse vor der schwarzen, messerscharf umgrenzten Seitenwand des Gerichtsgebäudes. Ein Fensterband weit oben lässt das Auge nach Norden wandern, wo man schräg durch den schwarzen, fast 20 Meter hohen Portikus die Stadt erblickt und so gleichsam aus einer surrealen Welt zurück in die Realität findet. Eine von der Uferstrasse ansteigende dunkle Rampe hebt das Gebäude vom Profanen ab und schafft darunter Platz für ein banales Parking. Die schräge Ebene führt hinauf zum stramm ausgerichteten schwarzen Pfeilerwald der Vorhalle, der ein an Luzern gemahnendes, weit vorkragendes Dach trägt. In der schwarzen Kassettendecke klingt jener Quadratraster an, der diese rationalistische Stahl-und-Glas-Architektur bis ins Innerste durchdringt.
Die schlanken Pfeiler setzen sich hinter der verglasten Nordfassade im Inneren fort, wo sich die «Salle des pas perdus», eine 16 Meter hohe und über 110 Meter lange Wandelhalle, ausdehnt, die ähnlich wie die Foyers in Luzern vom Spiel der Oberflächen lebt, nur dass hier alles nachtschwarz blitzt und glänzt. Dunkle Metallgitter und gitterartig stuckierte Wandflächen spiegeln sich im blank polierten schwarzen Marmorboden, so dass man auf der abgründigen Fläche fast den Halt verliert. Das einzig Feste in diesem Raum, der die durchscheinende Vielschichtigkeit von Giuseppe Terragnis Casa del Fascio ins Unfassbare steigert, sind die drei enigmatischen Monolithe der Gerichtssäle. In ihrem Innern lösen sich Verunsicherung und Schrecken kurz auf in einer Symphonie in Rot. Bald aber wecken die nur durch ein Oberlicht zur Aussenwelt offenen Räume klaustrophobe Gefühle, und man wähnt sich in ihnen wie im Allerheiligsten eines ägyptischen Tempels.
Hybride Architektur
Der räumliche Luxus der riesigen Wandelhalle geht letztlich auf Kosten der Angestellten. Denn Nouvel marginalisiert die Büros, türmt sie im Rücken der Gerichtssäle dreigeschossig auf oder verlegt sie kurzerhand auf das Flachdach. Durch diesen Aufsatz erhält das Gebäude in der Seitenansicht etwas seltsam Unbestimmtes, das ebenso schlecht zur rigorosen Tempelfront wie zu der U-förmigen Gitterfassade an der Rückseite passt. Diese seltsam hybride, mehrfach codierte Architektur, die bald wie ein Sakralbau, wie eine Fabrik oder ein Gefängnis und dann wieder wie ein Ufo in einer ebenso stimmungsvollen wie abgetakelten Umgebung steht, soll nun zum Katalysator für einen neuen Stadtteil werden, der hier nach einem urbanistischen Entwurf von Alexandre Chemetoff demnächst realisiert werden dürfte.
Eins ist gewiss: Mit dem Palais de Justice hat Nantes einen Bau von seltsamer Gewalt und Kraft erhalten, der Angst einflösst und doch auch fasziniert. Stünde er in Deutschland, so würde man in ihm wohl Naziideologie erblicken. In Frankreich aber liessen sich selbst Kritiker mit dem Hinweis darauf beruhigen, dass dieser Gerichtspalast ja keiner Gewaltherrschaft, sondern dem französischen Recht diene. Trotz dieser Feststellung und obwohl der Bau jenseits des Flusses steht, trägt Nantes nicht leicht an ihm. Zumal bei winterlichem Regenwetter, wenn er sich schwarz zwischen das Grau der Loire und des tiefhängenden Himmels schiebt, ahnt man kaum noch seine Verwandtschaft mit dem noblen Luzerner Kulturpalast oder mit der transparenten Fondation Cartier in Paris: Das Haus genügt sich dann ganz als meisterhafte Provokation, mit der sich hierzulande wohl kaum jemand auf Dauer auseinandersetzen wollte.
Selbstinszenierungen am See
Ehrgeizige urbanistische Projekte in den Zentren der Tessiner Agglomerationen
Ende des 19. Jahrhunderts war man im Tessin für neue Formen des Urbanismus offener als in anderen Landesteilen. Damals entstand in Locarno mit dem schachbrettartig um die zentrale Fontana Pedrazzini organisierten Quartiere Nuovo die formal wohl konsequenteste Stadterweiterung der Schweiz. Danach aber schwand das Interesse an zukunftsweisender Stadtplanung.
In den siebziger und achtziger Jahren sorgte die Tessiner Architektur zwar international für Aufsehen, doch beschleunigte sie - gefördert vom lateinischen Autokult - nur die Zersiedelung mit all ihren negativen Auswirkungen auf Umwelt und Zusammenleben. Zum bedenklichen Symbol des individuellen Bewegungsdrangs wurde jüngst der gigantomanische Verkehrskreisel vor Locarnos mittelalterlichem Castello: die «Megarotonda» von Aurelio Galfetti. Da erstaunt es nicht, dass die autofreie Piazza Grande, für die Luigi Snozzi bereits Ende 1990 ein höchst durchdachtes Projekt vorlegte, bis heute Vision geblieben ist. Nun versucht man andernorts nach Jahrzehnten des suburbanen Wildwuchses die Innenstädte wieder aufzuwerten und neu zu ordnen. Ein erstes Resultat kann Bellinzona mit der Piazza del Sole vorweisen. Livio Vacchini verwandelte sie in einen Präsentierteller für das Castelgrande, das zentrale Schaustück des zum Welterbe avancierten Befestigungswerkes der Altstadt. Auch wenn die Härte irritieren mag, so besticht der durch vier Betonkeile definierte Platz doch durch seine rationalistische Klarheit.
Gleiches gilt leider nicht für die Ergebnisse eines Wettbewerbs, mit dem sich Ascona im vergangenen Jahr Anregungen für die Piazza am See erhoffte. Denn die meisten Entwerfer - auch der siegreiche Wahl-New-Yorker Raimund Abraham - verstellten mit überflüssigen «Accessoires» wie schwimmenden Plattformen oder wellenförmig in den See ausgreifenden Piers das Panorama. Selbst der formal zurückhaltende Vorschlag des zweitplacierten Rolando Zuccolo vermochte nicht wirklich zu begeistern. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Vernunft siegt und man der Piazza ihren Charme lässt. Der Ausgang der Asconeser Ausschreibung liess kaum Gutes ahnen, als Lugano im Juni 2000 einen Wettbewerb auslobte zur Neugestaltung der an den «Salotto» der Stadt, die zentrale Piazza Riforma, angrenzenden Freiräume rund um den Palazzo Civico. Zu überdenken galt es die parkartige, in den vergangenen Jahren stark übernutzte Piazza Manzoni auf der Ostseite des Stadthauses, die westlich an dieses anschliessende Piazza Rezzonico sowie die Uferzone. Wie befürchtet, zeugt die Mehrzahl der 68 kürzlich jurierten Projekte vor allem von der Selbstverliebtheit der Planer und von deren Unfähigkeit, auf einen gewachsenen Ort zu reagieren. Die entwerferischen Fragwürdigkeiten reichen vom «Petersplatz» eines Mailänder Teams über die sinusförmigen Passerellen des Zürcher Büros Dürig und Rämi bis zu Mario Campis Wasserpromenade auf einem schwimmenden Autotunnel.
Glücklicherweise liess sich die Jury von solchen Machwerken nicht blenden und setzte die drei vernünftigsten Projekte auf die ersten Plätze. Die bestehenden Anlagen beidseits des Palazzo Civico interpretierte das drittrangierte Büro Giraudi & Wettstein am sorgfältigsten, obwohl man sich auch hier - wie bei fast allen Eingaben - fragen muss, ob auf der Piazza Rezzonico der alte Pinienbestand gefällt, der neobarocke Brunnen von Otto Maraini (dem Erbauer des heutigen Istituto Svizzero in Rom) verschoben und so dem einstigen Herzstück der Luganeser Uferpromenade der Geist des 19. Jahrhunderts ausgetrieben werden muss. Wenig gelungen ist bei diesem Projekt aber vor allem die etwas allzu selbstgefällig inszenierte Dachkonstruktion am See.
Da gibt sich das erstprämierte Projekt von Mauro Buletti und Paolo Fumagalli bescheidener - zumindest was die kleinen Kioskgebäude mit der transluzenten Gebäudehaut betrifft; monumental geraten ist hingegen das für Markt- und Konzertveranstaltungen gedachte, tischförmige Dach vor der Piazza Manzoni, das als Scharnier zwischen dem östlichen Lungolago und der rasterartig durchgestalteten, den Palazzo Civico dreiseitig umfassenden Platzanlage dient. Diese überzeugt zwar im Plan und im Modell. Doch scheinen die beiden Architekten, obwohl sie in Lugano ansässig sind, die Bedürfnisse der Benutzer nicht erkannt oder aber bewusst ihrem formalistischen Gestaltungswillen geopfert zu haben. So dünnen sie den alten Baumbestand aus und opfern den wegen seiner Kühle beliebten Springbrunnen einer am See völlig überflüssigen Wasserfläche.
Auch wenn keines der Luganeser Projekte ganz befriedigen kann, so würde sich eine kritische Überarbeitung des Entwurfs von Buletti und Fumagalli lohnen. Ohne eine Verkehrsberuhigung der Uferzone ist allerdings dieser neue Platz nicht machbar. Wenn in Locarno Parkplätze das Projekt Snozzi bis jetzt verhinderten, so ist die Gefahr gross, dass der rollende Verkehr die Luganeser Planungen bereits im Keim ersticken wird. Das wäre schade: Denn schon jetzt zeigt sich jeweils im Sommer, wenn der für die Autos gesperrte Quai zum abendlichen Corso wird, das soziale Potenzial einer Piazza am See. Diese könnte zudem anderen Städten zum Vorbild dienen: nicht zuletzt Zürich, das mit seinem Sechseläutenplatz ebenfalls den Schritt ans Wasser wagen sollte.
[Die Projekte für eine Piazza am See rund um den Palazzo Civico von Lugano sind am 4. März von 14.00 bis 18.30 Uhr im MAC 7 an der Via Campo Marzio in Lugano zu sehen.]
Architektonische Weltspitze
Spanische Baukünstler in Frankfurt und Florenz
Die moderne Architektur fand in Spanien erst relativ spät ein Echo. Doch seit den fünfziger Jahren wurden hier wegweisende Positionen diskutiert. Diese bereiteten jener kreativen Baukunst den Boden, die sich nach Francos Tod dank grossem Nachholbedarf fast explosionsartig entfalten konnte und längst Weltklasse erreicht hat
Auch die internationale Architekturszene hat ihre Charts, deren Topposition seit Jahren bei den Stars der Rotterdamer Guru Rem Koolhaas, bei den Ländern aber eine Troika einnimmt: Holland, Spanien und die Schweiz. Nun bietet das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zum Abschluss seiner verdienstvollen, wenn auch nicht immer völlig überzeugenden Länderreihe einen Blick auf die vielgerühmte spanische Architektur, die baukünstlerisch und urbanistisch auch deswegen als Vorbild gilt, weil sie das humane Mass respektiert. Die durch die Schrecken von Bürgerkrieg und Diktatur geschärfte menschliche Sicht kommt allerdings in der Frankfurter Schau nur am Rand zum Tragen, da diese sich in atemlosem Zelebrieren von architektonischen Spitzenleistungen aus den letzten 100 Jahren erschöpft. Gleichwohl wird so bestätigt, was jeder, der die neuere Entwicklung der spanischen Architektur mitverfolgt hat, längst weiss: dass nämlich das Niveau des zeitgenössischen Bauens - trotz zersiedelten Küstenregionen und viel spanischer Selbstkritik - überdurchschnittlich ist und dass in jüngster Zeit von der Hafenanlage über das Krankenhaus bis zum Auditorium in jeder Gattung ausser im Kirchenbau wegweisende Werke entstanden sind.
Formaler Pluralismus
Dabei war es gerade ein Sakralbau, der Spaniens berühmtestem Architekten, Antoni Gaudí, so sehr am Herzen lag. Seine Sagrada Familia sucht man allerdings vergeblich in der überlegt zusammengestellten Schau, kennt doch der katalanische Modernisme mit Gaudís Casa Batlló oder dem Palau de Música von Lluís Domènech Ikonen, die der 160 Werke umfassenden Frankfurter Blütenlese mehr entsprechen. Es liegt in der Natur einer solchen Gipfelschau, dass die Gewichtungen mitunter etwas irritieren. So mag man bedauern, dass hier Sevillas maurisch inspirierter Orientalismus, der noch immer kaum bekannt ist, auf Aníbal González' Plaza de España reduziert wurde. Besser erging es der klassisch-modernen Architektur, die in Spanien erst mit José Aizpurúas 1929 in San Sebastián erbautem Segelklub und der kurz danach gegründeten Gatepac-Gruppe in Erscheinung tritt. Sie ist mit Werken wie dem Parlamentsgebäude von Miguel Martín in Las Palmas, aber auch mit dem einst im ganzen Land beliebten Art déco (etwa Luis Gutiérrez' Kino Barceló in Madrid) gültig vertreten.
Kulminierte die Moderne 1937 in Josep Lluís Serts Pariser Weltausstellungspavillon der spanischen Republik, so favorisierte das Franco-Regime eine historisierende Staatsarchitektur, die 1951 im Luftfahrtministerium, einem Escorial-Zitat des längst «bekehrten» Gutiérrez, ihren erzkonservativen Ausdruck fand. Dabei hatte Francisco Asís Cabrero schon zwei Jahre zuvor mit der Zentrale der franquistischen Gewerkschaften in Madrid bewiesen, dass sich durch die Verschmelzung von Monumentalität und Rationalismus ein zeitlos modernes Vokabular kreieren liess, dem Rafael Moneo im «Bankinter»-Gebäude von 1976 noch seine Reverenz erwies. Die eigentlichen Meister der fünfziger Jahre aber waren der einem organischen Rationalismus verpflichtete, später für Miralles oder Torres & Lapeña wichtige Katalane José Antonio Coderch sowie Alejandro de la Sota, dem 1957 mit der Provinzialverwaltung in Tarragona das neben Moneos Römischem Museum in Mérida (1985) wohl folgenreichste Bauwerk des Jahrhunderts in Spanien gelang. Nach einer Krisenzeit entwickelte sich die Architektur seit 1975 zu einer zwischen minimalistisch-neomodernem und organisch-dekonstruktivistischem Idiom oszillierenden Vielfalt, aus der unter anderem das 1993 von Enric Miralles und Carme Pinós realisierte Internat von Morella, der Sitz der Landesregierung von Extremadura in Mérida von Juan Navarro Baldeweg (1995) und - als jüngstes Gebäude der Schau - Moneos Kongresspalast in San Sebastián herausragen.
Aus dem fast unerschöpflichen Reichtum neusten Schaffens hätte man strenger auswählen können, da das Dokumentieren ohnehin vom gut gemachten Katalog übernommen wird. Dies hätte es erlaubt, mehr Originalmaterial zu zeigen und darüber hinaus auch einige urbanistische Arbeiten zu würdigen, für die nun stellvertretend die legendäre Plaça de Sants von Viaplana & Piñón in Barcelona steht. Prestigebauten ausländischer Stars wären in der Schau ebenfalls entbehrlich gewesen, da selbst die Glanzlichter kaum Einfluss auf das spanische Architekturgeschehen hatten. So bezog sich in Bilbao das Nachwuchsteam Soriano & Palacios mit seinem Euskalduna-Musikpalast auf die alten Werftanlagen und nicht auf die Stahlmagnolie von Gehrys Guggenheim-Museum; und der Koolhaas-Schüler Eduardo Arroyo, der mit 36 Jahren jüngste Architekt der Schau, baute einen Kindergarten, in dem er sich mehr um die Bedürfnisse der Kleinen als um architektonische Extravaganz kümmerte. Dieses vielleicht interessanteste Werk der in Frankfurt nur schwach vertretenen Generation unter 40 erhebt sich ganz in der Nähe des vor kurzem eingeweihten Sondica-Flughafens von Santiago Calatrava. Hier zählt selbst Calatrava noch zu den Jungen und wird mit nur einem ausgestellten Werk, der Alamillo-Brücke in Sevilla, auch so behandelt.
Calatrava Superstar
Spielt man in Frankfurt den Erfolg des Wahlzürchers hinunter, so lassen sich die Italiener von seiner formalen Eloquenz nur allzu gern betören. In einer grossen Retrospektive im Palazzo Strozzi in Florenz wird Calatrava jedenfalls als «scultore, ingegnere, architetto» zum Universalgenie in der Nachfolge von Leonardo und Michelangelo emporstilisiert. Diese Apotheose gilt einem Künstler, der seine zoomorphe architecture parlante - Brücken, Bahnhöfe und Flughäfen ebenso wie Kirchen und Museen - mit steingewordener Musik vergleicht, der sich aber vor allem als Plastiker versteht. Im Innenhof des Palastes, gleichsam im Herzen der Ausstellung, die anders als das Frankfurter Unternehmen mit zahlreichen Modellen, Skizzen und Zeichnungen (etwa vom eben erst eröffneten Museo de las Ciencias in Valencia) aufwarten kann, stehen denn auch seine organischen und kinetischen Skulpturen. Diese bewirken allerdings einen unnötigen Verdoppelungseffekt, denn Calatravas ingenieurtechnische Höhenflüge in der Nachfolge von Gaudí, Maillart, Nervi und Candela sind ja selbst schon Skulptur genug.
[Die Frankfurter Ausstellung dauert bis zum 31. Dezember. Katalog: Architektur im 20. Jahrhundert. Spanien. Hrsg. Deutsches Architekturmuseum. Prestel-Verlag, München 2000. 368 S., Fr. 137.- (DM 68.- in der Ausstellung). - Die Ausstellung in Florenz dauert bis zum 7. Januar. Katalog 48 000 Lire.]
Erfolgreicher Baukünstler
Triumphe für Santiago Calatrava
holl. Der in Zürich tätige, 48-jährige spanische Architekt Santiago Calatrava wird derzeit vom Erfolg verwöhnt. Während sein Projekt für den Platz vor dem Zürcher Opernhaus in breiten Bevölkerungskreisen auf Zustimmung stiess, feiert Florenz sein Schaffen bis zum 7. Januar mit einer grossen Retrospektive. Der in Architektenkreisen immer wieder neidvoll kritisierte Baukünstler und Ingenieur ist nun in Dallas mit dem Meadows Award for Excellence in the Arts und in Valencia mit der Goldmedaille für die schönen Künste ausgezeichnet worden. Noch im November werden ausserdem von Calatrava, der nächste Woche zum Ehrenmitglied der Real Academia de las Bellas Artes in Madrid ernannt werden soll, das Museo de las Ciencias in Valencia, der Flughafen Sondica in Bilbao und die Europabrücke in Orleans eröffnet.
Der Blick auf das Gebaute
Architekturphotographie - eine Ausstellung in Barcelona
Die Architektur hat ihren jüngsten Höhenflug nicht zuletzt der Photographie zu verdanken. Bei Fachmagazinen gefragt ist zurzeit jener frontale, unterkühlte und von allem Zufälligen befreite Blick auf das Gebaute, wie ihn architekturbegeisterte Fotokünstler zelebrieren. Diese kommen nun in einer Ausstellung in Barcelona zu Wort.
Ein Lieblingsthema der noch jungen Photographie war die gebaute Welt: Dies nicht zuletzt aus dem pragmatischen Grund, weil sie statisch ist und vom Licht des Tages lebt. Als Propagandamedium wurde die Photographie aber erst von den Architekten der klassischen Moderne genutzt. Obwohl Frank Lloyd Wright bereits seine Präriehäuser professionnel aufnehmen liess, veröffentlichte er 1910 in der Wasmuth-Mappe noch purifizierte Präsentationszeichnungen. Walter Gropius stilisierte dann das Dessauer Bauhaus zum Kunstwerk, indem er die mit feinen Balkonen gegliederte Fassade des Studententraktes wie eine konstruktive Skulptur ablichten liess. Voll auf die Verführungskraft des Bildes setzte Le Corbusier: Hinter schwarzen Limousinen erschienen seine Wohnmaschinen - die Villa Stein in Garches genauso wie der Pavillon Suisse - noch leuchtender und kantiger, was letztlich den Mythos von der weissen Moderne mitbegründete.
Erstarrte Schönheit
Schon Photographen wie Julius Shulman, der in Ikonen wie dem in den Nachthimmel über Los Angeles ragenden Case Study House von Pierre Koenig den Californian Way of Life verherrlichte, wusste den Bauten von Eames bis Schindler eine magische Aura zu verleihen. Die Architekturphotographie aber setzte erst in den vergangenen Jahren zu jenem Höhenflug an, der ganz wesentlich zur Popularisierung der Baukunst beitrug. Architekturzeitschriften lieben heute Bilder, die die Neubauten - von allen Zufälligkeiten des Lebens befreit - in absoluter Schönheit zeigen. Zu dieser unterkühlten Sicht liessen sich die professionellen Architekturphotographen nicht zuletzt durch Künstler wie Andreas Gursky oder Thomas Ruff anregen. Diese kommen aus einer Tradition, die im Umkreis von Minimal und Conceptual Art wurzelt und etwa bei Jan Dibbets zu einer Auslotung der architektonischen Perspektive, bei Bernd und Hilla Becher aber zur fast anonymen, serienmässig angelegten Dokumentation banaler Häuser oder historischer Fabrik- und Förderanlagen führte.
Zu den Architekten, die schon früh das Potenzial einer künstlerischen Interpretation ihrer Bauten erkannten, zählen Herzog & de Meuron. Sie präsentierten 1991 auf der 5. Architekturbiennale in Venedig im Schweizer Pavillon vier Fotokünstler, die sich ihrem Schaffen ganz unterschiedlich annäherten - vom sachlichen Objektbezug Margherita Spiluttinis über Hannah Villigers körperbezogen-intimen Blick auf die Gebäudeoberfläche und Balthasar Burkhards Interesse am Knochengerüst der Bauten bis hin zu Ruffs in einer völlig unterkühlten Graupalette gehaltenem Porträt der Ricola-Lagerhalle in Laufen. Seither hat die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gebauten weiter an Bedeutung gewonnen, wie Ausstellungen mit Arbeiten von meist deutschen Fotokünstlern in Brüssel, London, Bregenz oder Leipzig zeigten.
Ein Überblick
Waren diese Veranstaltungen inhaltlich zum Teil sehr weit gefasst, versucht nun eine Schau im Centre de Cultura Contemporània von Barcelona das Thema einzugrenzen. Die Ausstellungsmacherin Gloria Moure entschied sich nämlich für sieben Künstler, die - anders als etwa Gabriele Basilico oder Thomas Struth - nicht anonyme Bauten oder Stadtlandschaften interpretieren, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit architektonischen Meisterwerken suchen. Auch hier stehen die deutschen Stars im Mittelpunkt: So hält Günther Förg Zwiesprache mit Häusern von Alejandro de la Sota, dem 1996 verstorbenen Meister der spanischen Moderne. Die riesigen, leicht unscharfen und von schweren Rahmen gefassten Schwarzweissbilder stehen, an die Wand angelehnt, auf Holzkeilen. Dadurch werden sie zu Objekten, bei denen das architektonische Sujet letztlich unwichtig wird. Gursky hingegen übersteigert den Bildgegenstand: Zusammen mit dem bekannten Nachtbild von Norman Fosters Hong Kong & Shanghai Bank und der hyperrealistisch verfremdeten Hotellobby von John Portman zeigt er ein erschlagendes Panorama von Gunnar Asplunds Stockholmer Nationalbibliothek. Hier gewinnt die Architektur als patternartiges Ornament ein Eigenleben, und gleichwohl bleibt der berühmte Innenraum stets erkennbar.
Ruff präsentiert ausschliesslich zwischen 1992 und 1994 aufgenommene Bauten von Herzog & de Meuron, darunter vier Ikonen, die ebenso wie die abgelichteten Bauten selbst Architekturgeschichte schrieben und so die professionelle Photographie der letzten Jahre besonders prägten: die Ricola-Lagerhalle, die Sammlung Goetz in München, das Stellwerk auf dem Wolf in Basel und - als Höhepunkt - die rotviolette, zwischen Hopper und «Blade Runner» oszillierende Nachterscheinung der Ricola Mulhouse. Daneben haben Candida Höfers stille, im Fall von Zumthors Kunsthaus Bregenz geradezu sakral überhöhte Mittelformate einen schweren Stand. Doch zeichnen sich diese Fotos gerade dadurch aus, dass sie auf Oberflächenkult verzichten und dem Wesen der Architektur als Funktion von Raum und Licht nachspüren.
All diese Bilder wirken wie gefroren, wenn man zurückdenkt an den Auftakt der Schau: den Mexiko-Stadt gewidmeten Film «Ciudad» von Balthasar Burkhard und Carlos Hagerman. Unter den hypnotisierenden Klängen von Silvestre Revueltas «La noche de los Mayas» erwacht hier ein Stadtkörper zum Leben. Diese körperhafte Interpretation des Gebauten verdichtet sich dann in Burkhards von der Architekturbiennale in Venedig her bekannter Installation der Ricola-Lagerhalle. Ein weiterer Bau von Herzog & de Meuron, diesmal das Stellwerk, schimmert einem aus den an Gerhard Richters frühe Gemälde erinnernden Fotos von Hiroshi Sugimoto entgegen. Eher als bei Förgs Bildobjekten kann man hier die Unschärfe als Kritik an der Perfektion heutiger Architekturphotographie lesen. Auch Bauten von Gaudí, Gropius, Le Corbusier und Wright werden bei Sugimoto zu gespensterhaften Schattenwesen. Diese bilden gleichsam den Gegenpol zum Schlussbild der Schau: Jeff Walls gigantischem Leuchtkasten, aus dem Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon im goldenen Abendlicht abgründig irreal und unglaublich wirklichkeitsnah zugleich erstrahlt.
Die Schau deckt mit vielen Highlights ein breites Spektrum der künstlerischen Architekturphotographie ab, und dennoch gibt es Lücken. So hätten Fischli und Weiss nicht fehlen dürfen. In der unlängst in Mailand gezeigten Ausstellung «Milano senza confini» überstrahlte ihr gelassener und ungekünstelter Blick vom Dom auf die Torre Velasca die anderen Beiträge bei weitem. Als Antwort auf Jeff Wall hätte man sich die Serie über den Barcelona-Pavillon gewünscht, die nun in ihrer Retrospektive im Basler Museum für Gegenwartskunst zu sehen ist. Eine Bereicherung wäre zweifellos auch die Grenzgängerin Hélène Binet gewesen, die mit ihren Aufnahmen Zumthors Bauten nobilitiert, die sperrigen Gebäude von Caruso St John in ein leicht melancholisches, neorealistisches Licht rückt und so ganz ohne künstlerische Prätention Sachlichkeit und Poesie zu vereinen weiss.
[Bis 10. Dezember im Centre de Cultura Contemporània. Katalog: La arquitectura sin sombra. Hrsg. Gloria Moure. Ediciones Polígrapha, Barcelona 2000. 159 S., 4800 Pta. ]
verknüpfte Publikationen
- All began just by chance. Julius Shulman.
Einseitige Blütenlese
Museumsarchitektur - eine Ausstellung in Hamburg
Im Rahmen des 1994 initiierten und nun zum dritten Mal durchgeführten Hamburger Architektursommers ist in den Deichtorhallen eine Wanderausstellung zu sehen, die unter dem etwas prätentiösen Titel «Museen für ein neues Jahrtausend» 25 überwiegend bekannte Bauten und Projekte in einer ebenso eleganten wie aufwendigen Präsentation zur Diskussion stellt.
Die Museumsarchitektur erlebte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon mehr als eine Blüte. Nach dem Krieg wurden vor allem in Italien (Gardella, Scarpa) und in den USA (Wright, Kahn, Johnson), aber auch in Frankreich (mit dem jüngst sorgfältig restaurierten Musée des Beaux-Arts in Le Havre) wichtige Positionen formuliert. Ein weiterer Höhenflug folgte zur Zeit der Postmoderne-Euphorie um 1980, der die Popularität der Baugattung Museum bei Architekten und beim Publikum festigte. Stimmten bei Wrights Guggenheim Museum, bei Kahns Kimbell Art Museum in Fort Worth, beim Centre Pompidou von Rogers und Piano oder bei Stirlings neuer Stuttgarter Staatsgalerie noch die Bedeutung von Gebäude und Sammlung überein, so war dies bereits bei Richard Meiers High Museum of Art in Atlanta nicht mehr der Fall. Hier wurde 1983 ein strahlend weisser Bau zum Aushängeschild einer boomenden Stadt, die sich gerne mit Kultur brüsten wollte. Seither setzt man vielerorts auf die Publikumswirksamkeit dieser «neuen Kathedralen», zumal das einfache Rezept von Stararchitekt und spektakulärer Form den schnellen Erfolg zu garantieren scheint. Dabei versuchen die Musentempel oft eher die Betrachter zu bezirzen, als der Kunst zu dienen.
Jetzt ist in Hamburg anlässlich des 1994 initiierten und nun zum dritten Mal durchgeführten Architektursommers eine Wanderausstellung zu sehen, die sich unter dem vollmundigen Titel «Museen für ein neues Jahrtausend» der Museumsarchitektur der vergangenen Jahre widmet. Zusammengestellt wurde die Schau von Vittorio Magnago Lampugnani und Angeli Sachs im Auftrag des privaten Art Centre Basel, das seit 1984 als international tätiger Organisator von Wanderausstellungen auftritt. Was nun in den Deichtorhallen gezeigt wird, überzeugt zwar durch die Fülle von Originalmaterialien, vermag aber von der Wahl der Bauten und Projekte her die beim Betrachter aufgebaute Erwartungshaltung nur bedingt zu befriedigen, denn den erhofften neuen und wegweisenden Ideen im Museumsbau wird er höchstens im Ansatz begegnen.
Die überwiegende Zahl der Exponate ist - zumindest in Fachkreisen - längst bekannt, wurde doch von Lampugnani nur gekürt, was gross ist oder von einem bekannten Büro stammt. Interessante Arbeiten jüngerer Architekten wie das Kirchner-Museum in Davos von Gigon & Guyer, Alfredo Payás Museo Universitario auf dem Campus von Alicante, das Valkhof-Museum von Ben van Berkel in Nijmegen, die Erweiterung des Musée des Beaux-Arts von Ibos & Vitart in Lille oder die jüngst eröffnete New Art Gallery in Walsall von Caruso St John werden hingegen nicht einmal am Rande erwähnt. Obwohl fast ausschliesslich Kunstmuseen zur Sprache kommen, wird einmal mehr das fulminante Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin und nicht dessen weniger bekanntes, aber in diesem Kontext aufschlussreicheres Nussbaum-Museum in Osnabrück gezeigt. Von Rem Koolhaas kommt der zweifellos visionäre, aber noch in den achtziger Jahren entstandene und nie realisierte Entwurf für das Medienzentrum Karlsruhe statt der 1994 eingeweihten Kunsthal in Rotterdam zum Zug. Und auf Steven Holls Kiasma in Helsinki, einen Lichtblick in der neusten Museumslandschaft, wurde zugunsten seines Projekts für das Bellevue Art Museum in Bellevue, Washington, verzichtet.
Wirklich problematisch wird es dort, wo die Ausstellung ihr Spitzenniveau preisgibt und sich mit Durchschnittsbauten wie Oswald Mathias Ungers' Erweiterung der Kunsthalle Hamburg oder Josef Paul Kleihues' Museum of Contemporary Art in Chicago befasst, gleichzeitig jedoch das neue Kunstmuseum in Niteroi von Altmeister Oscar Niemeyer völlig ignoriert. Dafür kommt Vittorio Gregottis pharaonisches Kulturzentrum Belém zu Ehren, welches das benachbarte Hieronymus-Kloster schrill übertönt. Hätte man unbedingt einen Bau aus Portugal in die Schau integrieren wollen, so hätte sich die intime Casa das Artes von Souto de Moura in Porto angeboten. Offensichtlich kam hier Lampugnani die Liebe zu Italien ebenso in die Quere wie bei der Wahl von Giorgio Grassis überholtem Entwurf für die Berliner Museumsinsel, der - für das gestellte Thema wenig erhellend - David Chipperfields Ausführungsprojekt gegenübergestellt wird.
Gewiss, bei einer nur 25 Bauten umfassenden Blütenlese lässt sich leicht Kritik anbringen. Gleichwohl darf man sagen, dass Lampugnani sich die Sache zu leicht gemacht hat, selbst wenn die üppig inszenierte Schau mehrere Highlights berücksichtigt: etwa Fosters Carré d'Art in Nîmes, Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao, die Tate Modern von Herzog & de Meuron, Moneos Moderna Museet in Stockholm, Sizas Zentrum für zeitgenössische Kunst in Santiago de Compostela oder Zumthors Kunsthaus in Bregenz. Am spannendsten wird die Ausstellung dort, wo sie noch nicht realisierte Arbeiten zur Diskussion stellt: neben Holls Entwurf für Bellevue die Projekte von Tadao Ando für das Modern Art Museum in Fort Worth, von Zaha Hadid für das Contemporary Arts Center in Cincinnati, von Juan Navarro Baldeweg für das Museum der Höhlen von Altamira und von Santiago Calatrava für das Milwaukee Art Museum.
Ähnlich wie die Schau überzeugt auch das zugehörige Katalogbuch vor allem durch das Bild- und Planmaterial zu den einzelnen Objekten sowie durch einige Begleittexte. Der Einführungsessay von Lampugnani ist hingegen etwas gar summarisch ausgefallen. Dabei hätten hier nicht nur einige der stillschweigend übergangenen Museumsbauten kurz betrachtet, sondern auch die ebenso wichtige wie komplexe Debatte zwischen Künstlern, Kuratoren, Architekten und Kritikern, wie sie jüngst wieder um Jean Nouvels Luzerner Etagenmuseum im KKL entbrannt ist, gestreift werden können.
[ Bis 10. September. Anschliessend in Bregenz und Stuttgart. Katalog: Museen für ein neues Jahrtausend. Hrsg. Vittorio Magnago Lampugnani und Angeli Sachs. Prestel-Verlag, München 1999. 224 S., Fr. 91.- (in der Ausstellung DM 38.-). ]