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Wissen, wie die Rose wächst
Der Standard

Jean Prouvé ging an seine Entwürfe erst einmal mit Gespür heran. Dann setzte er sie mit präziser Überlegung fort, und erst wenn er wusste, dass alles gut und richtig war, schritt er zur Tat. Dieser Tage wäre der französische Grandpère der High-Tech-Konstrukteure 100 geworden. Eine Würdigung.

14. April 2001 - Ute Woltron
Alle Quellen, die über Leben und Werk des französischen Architektur- und Ingenieurerfindergeistes Jean Prouvé berichten, bezeugen, dass die außergewöhnliche Kraft und Originalität des Mannes einen ganz konkreten Ursprung besaß: Die Kindheit des Ausnahmekonstrukteurs war perfekt gewesen.

Sie war nicht nur behütet und glücklich verlaufen, sondern auch von Kreativität, Intellektualität und besonderen Menschen ausgefüllt gewesen. Prouvé selbst pflegte zeitlebens die Tage seiner Kindheit im Gespräch dankbar heraufzubeschwören. Er erinnerte sich daran, dass stets überall Zeichenstifte und Skizzen parat lagen, Tonmodelle geknetet wurden und die väterlichen Anregungen zum genauen Studium der Natur, der Pflanzen und ihrer konstruktiven Gestalt ermutigten. Schau dir an, wie der Dorn aus dem Stamm der Rose wächst, hatte sein Vater etwa im Vorübergehen gemeint, und mit dieser en-passant-Schule des Schauens und Sich-Überlegens, warum was wie aussieht und funktioniert, eine der bestimmenden Richtungen für den so eigenwilligen und deshalb auch einsamen Konstrukteursweg angezeigt, den sein Sohn später gehen sollte.

Prouvé ist erstaunlich unberühmt, macht man sich die heute noch gültigen Errungenschaften des 1984 Verstorbenen gewärtig. Er war nicht nur einer der fruchtbarsten Ahnen der High-Tech-Architektur und stand an vorderster Front, als Industrie und Bauen in den 30er-Jahren zusammenzuwachsen begannen. Er war vor allem der erste Konstrukteur und Architekt, der vorfabrizierte Bauelemente selbst zur Gänze entwarf und auch in eigener Werkstatt produzierte - ein Umstand, der ihn aus der Riege der Avantgardisten wie Buckminster Fuller oder Mies van der Rohe noch ein Stückchen herausragen lässt.

Doch auch diese Tatsache macht letztlich nur einen, wenn auch wichtigen Teil der Magie seiner Person aus. Die vielleicht größte Gabe Prouvés war es, eine gewisse handwerkliche, menschliche Wärme in die coole industrielle Fertigung hinüber zu retten und solchermaßen die besten Talente der beiden Weltanschauungen miteinander zu vereinen. Sowohl die Möbel und Raumelemente Prouvés wie auch seine Architekturen sind niemals kalt, sie strahlen immer eine gewisse Menschenfreundlichkeit aus, und auch diese sympathische Eigenschaft seiner Produkte ist in der persönlichen Menschwerdung ihres Erzeugers begründet.


Jean Prouvé wurde am 8. April 1901 in Paris geboren und wuchs in Nancy auf. Vater Victor war Bildhauer und Maler, arbeitete als Graveur und entwarf Skulpturen für die namhaften und heute als französisches Nationalheiligtum verehrten Werkstätten des Emile Gallé. Die Gallés residierten gleich neben den Prouvés, und Jean pflegte regelmäßig über die Gartenmauer zu klettern und in den Galléschen Manufakturen herumzustöbern. Eigentlich wollte er später einmal Flugzeuge und Autos bauen und an der Spitze einer technikversessenen neuen Welt Großtaten vollbringen, doch der Erste Weltkrieg machte die Pläne zunichte. Die Familie konnte sich keinen studierenden Sohn leisten, der 15jährige Jean heuerte bei einem Kunstschmied in Paris an, lernte erst einmal den Umgang mit Feuer, Metall, Hammer und Amboss und schmiedete ein paar Jahre lang händisch kunstvolle Gitter, Geländer, Ornamente und andere durchaus verschnörkelte Architekturelemente für die besten Baumeister der Epoche.

„In dieser Zeit lebte ich untertags als Handwerker, und später, am Abend, traf ich wichtige Leute von der Universität, die Freunde meines Vaters. Da war dieser Kontrast zwischen dem, was wir das Leben der Leute nennen, und dem anderen Leben der Intellektuellen“, erinnerte sich Prouvé 1982 in einem Interview. „Doch waren das keine normalen Intellektuellen, es waren Leute, die sich über die Zukunft Gedanken machten, fast alle waren Sozialisten, die Pläne für die menschliche Weiterentwicklung schmiedeten.“

Als Prouvé 1924 seine eigene Wärkstätte in Nancy aufsperrte, kamen diese Überlegungen, wie die Welt sozial und gerecht gestaltet werden könne, seinen Mitarbeiter zugute. Der Chef beteiligte sie stets am Unternehmen und hob hervor, dass alles, was hergestellt wurde, ein Produkt der Solidarität und Gemeinschaft war. In der vollständigsten derzeit erhältlichen und vorläufig zweibändigen Prouvé-Monografie (Birkhäuser-Verlag), die mit vielen Originalskizzen und Fotodokumenten einen hervorragenden Überblick über das Werk des Franzosen gibt, schreibt Herausgeber Peter Sulzer: „Die Werkstätten Prouvés hatten mit den heutigen oder morgigen Industriesystemen mehr gemein als mit dem Ford-Modell: Sie basierten auf Teamgeist und Verantwortungsgefühl des einzelnen, erzeugten rasch und intelligent entworfene Produkte mit den besten Werkzeugen ihrer Zeit und antworteten auf die sich ändernden Fragestellungen.“

Und die Zeiten änderten sich rasch, damals. Prouvé erkannte, dass die Ära des Handwerks unter- und das Industriezeitalter aufging. Er begann mit der Fertigung industriell und in Massen herstellbarer - übrigens heute noch atemberaubend avantgardistischer - Möbel, Stiegengeländer, Stahlfenstersysteme und anderer Architekturelemente, er hinterfragte den gesamten Prozess des Häuserbauens und suchte nach preiswerten, rasch realisierbaren industriellen Lösungen. Die neuen Materialien der Zeit hießen Stahl und Aluminium, und Prouvé - als gelernter Schmied natürlich mit den Qualitäten des Materials innigst vertraut - fertigte Fassadenelemente aus Metall, die ganz einfach auf ein Gerüst zu montieren und flexibel in der Anwendung waren. Die hier vereinfacht beschriebene Technik ist heute Standard.

Dieses lockere Umdenken von Stein und Ziegel in neue architektonische Dimensionen, das Erkennen und die unvoreingenommene Anwendung aller zur Verfügung stehenden Materialien und deren spezifische Verwendungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten: Das ist es, was Jean Prouvés Lebenswerk so außergewöhnlich macht. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg erfand er zum Beispiel die ersten vollständigen Fertigteilhäuser aus Holz und/ oder Metall, die man rasch und einfach aufstellen, wieder abbauen und anderswo erneut errichten konnte. Ob das Rathaus von Boulogne-Billancourt oder das Flieger-Clubhaus Roland Garros bei Buc, ob Sitz- und Schreibmöbel für Große oder Kleine, ob Fertigteilhaus oder Stiegengeländer: Prouvés Arbeiten waren immer minimalistisch, ästhetisch, pur und reizvoll.

Für Architekt Norman Foster bleibt Prouvé bis heute „die Inspiration, die zeigt, wie Kunst und Technologie vereint werden können“. Kollege Renzo Piano gibt ihn als wichtigstes Vorbild an: „Ich bin mir immer seiner fundamentalen Wahrheit bewusst, dass man Kopf und Hand, Idee und Verwirklichung nicht voneinander trennen darf.“ Ein ehemaliger Prouvé-Mitarbeiter sagt ganz einfach folgendes: „Ich habe ihn immer sehr gemocht.“


[Jean Prouvé, Volume 1: 1917-1933, öS 1.250,-/EURO 90,84/240 Seiten,
Volume 2: 1934-1944", öS 1.341,-/EURO 97,45/352 Seiten, Hg. Peter Sulzer, Verlag Birkhäuser,
Basel 1999 bzw. 2000;
zwei weitere Bände sind in Arbeit. ]

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