Artikel

Bild-Ingenieure kontra Architekten
ORF.at

Die ungekürzte Fassung dieses Essays von Michael Shamiyeh finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.

10. April 2001
Betrachtet man die gegenwärtige explosionsartige Verbreitung von Freizeit-, Entertainment-, Themen- und Infotainmentwelten, so wird deutlich, dass die Erfahrung von inszenierten Ersatzwelten Teil unseres Lebens geworden ist. Der neue Typ des „Erlebniskonsumenten“ sucht gar nicht mehr die Wirklichkeit, das Authentische, sondern die perfekt in Szene gesetzte Illusion. Und diese bekommt er heute im Großformat.

Bereits 1998 existierten mehr als 30 größere Themenparks in Frankreich, etwa 20 in Großbritannien, 15 in Spanien, zehn in den Niederlanden, sieben in der Schweiz, fünf in Belgien und drei größere Parks in Dänemark. Im EU-Raum wird die jährliche Besucherzahl von Themenparks auf rund 150 Millionen geschätzt; noch immer verhältnismäßig wenig im Vergleich zu den 250 Millionen Besuchern, die bereits Mitte der 1990er Jahre in etwa 100 der größeren Themenparks der USA gezählt wurden.


Der Park lernt schwimmen

Aber schon längst beschränkt sich das Angebot der Superlative nicht mehr nur auf „Parks“. Angesichts der enormen Anzahl an weltweit Reisenden hat die Event-Industrie nun den Passagier als Konsument entdeckt. So finden sich im Repertoire der Erlebniswelten Jets mit eingebauten Palmenstränden ebenso wie Superkreuzer in Form von schwimmend inszenierten Freizeitwelten.


Disney erobert New York

Das Synthetische hat die streng umrissenen Mauern der Parks längst verlassen, um die reale Welt in der Form einer großen „Show“ selbst zu vereinnahmen. Als Beispiel für dieses Phänomen wären die Ambitionen der Disney Enterprise zu nennen. Der große Vorreiter und Initiator des Imaginären hat nun die Phase des simplen Kulissenzaubers verlassen, um die reale Welt selbst in sein synthetisches Universum zu integrieren: etwa den New Yorker Times Square! Denn anstelle eines herabgekommenen Schmuddelviertels wird das Quartier unter der Leitung von Robert A.M. Stern in ein von Disney kontrolliertes Zentrum für Theater, Unterhaltung und Reklame verwandelt.


New Urbanism

Die gegenwärtige Erneuerungsbewegung des US-amerikanischen Städtebaus - der New Urbanism - folgt offenbar diesem Beispiel. Ganze Regionen werden gemäß dem Disney-Syndrom in eine städtische Welt voller Reminiszenzen an die unterschiedlichsten Stadtbaukulturen der nordamerikanischen Gründerzeit verwandelt, wenngleich auch nicht immer Disney selbst im Spiel ist. Celebration oder Seaside sind nur die bekanntesten Beispiele. In ihnen vermischt sich das Inszenierte mit dem realen Alltagsleben dermaßen, dass die Inszenierung - die Kulisse - als solche nicht mehr identifiziert wird.


Der kontrollierte Blick

Ein überaus gebräuchlicher Schutzmechanismus gegen bildzerstörende bzw. -feindliche Elemente aus der Umwelt ist daher die räumliche und visuelle Abschottung der inszenierten Welten von ihrer Umwelt. Um ein Beispiel zu nennen: Disneyland, Anaheim, ist von der (realen) Außenwelt so abgeschottet, dass man nur die jeweiligen Inszenierungen sowie den Himmel darüber sehen kann. Diese bewusste Abgrenzung wurde schon einmal gefährdet, als 1966 um Genehmigung für den Bau eines Hotels in unmittelbarer Nachbarschaft bei den Behörden angesucht wurde. Disneyland gelang es nur auf Grund seiner wirtschaftlichen Bedeutung für Anaheim, dieses Vorhaben durch das Veto der Behörde zu verhindern.


Das Gegenmodell der Architektur

Im Unterschied zu den Isolationsbestrebungen der Bild-Ingenieure lassen die Bestrebungen der Architekten seit Ende der 1980er Jahr eine deutliche Tendenz hin zur Integration in die Umwelt erkennen. Das Ziel dieser infrastrukturellen Architektur ist der Verzicht auf Gebäude samt deren unvermeidlichen Begrenzungen und Limitierungen - zugunsten von formlosen, kontinuierlichen und das Umfeld integrierenden „Lava“-artigen Topographien, die das Entfalten von jeder Menge realer (also nicht inszenierter) Ereignisse zulässt. Die Arbeiten von Rem Koolhaas (Yokohama Urban Ring), Alejandro Zaero Polo (Myeong-Dong Plaza Seol), Peter Eisenman (Nördliches Derendorf), Ben van Berkel (Bus Terminal, Arnhem) sowie in weiterer Folge von Bernard Tschumi (Parc de la Villette) und Enric Miralles (Public Park, Mollet) wären an dieser Stelle zu nennen.

Auf die Frage, ob der Mensch in Zukunft Kultur oder Kulisse, Wirklichkeit oder Illusion wünsche, meinte Horst Opaschowski, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Freizeit und des Tourismus: „Der Mensch will verwirklichte Visionen und nicht Illusionen, denn Illusionen kann man zerstören, Visionen nie.“

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ORF.at

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: