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Stadt der Fussgänger
Neue Zürcher Zeitung

Hans Boeschs urbanistische Essays

4. Mai 2001 - Beat Mazenauer
Wer heute für Langsamkeit plädiert, gerät leicht in Verdacht, ein konservativer Geist zu sein. Denn Geschwindigkeit und Effizienz sind Trumpf. In seinen jüngst in einem Sammelband erschienenen urbanistischen Essays denkt der Schriftsteller und Ingenieur Hans Boesch über die Grundlagen einer lebenswerten Stadt nach. Boesch, der von 1970 bis 1989 als Verkehrsplaner an der ETH Zürich wirkte, hat sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Er erkennt in der rasanten Mobilisierung den Auslöser für eine Unruhe, die wiederum ingenieurtechnisch gebändigt werden muss. Diesem Teufelskreis hält Boesch das Konzept der «Langsamverkehrs-Stadt» entgegen. Ihr liegt das Mass des Fussgängers zugrunde. Ergehen heisst erleben, weil nur der Fussgänger den Rundblick hat. Die Geschwindigkeit dagegen zwingt den Autofahrer zur Konzentration auf einen fernen Fluchtpunkt. Entfremdung und Refugium, Mobilität und Langsamkeit sind Kernbegriffe dieser Überlegungen. In ihrem Zentrum steht nicht die effiziente Verkehrsführung, sondern deren Drosselung durch «verkehrsberuhigende» Massnahmen, wie sie inzwischen mit Erfolg eingesetzt werden. Sie helfen mit, der Stadt ihre Wohnlichkeit zurückzugeben.

Zwischendurch lässt Boesch das Ideal einer dörflichen Zelle innerhalb der grossen Stadt aufblitzen - doch frei von Nostalgie. Er ist Pragmatiker genug, um nicht alte Zeiten zurückzusehnen, wie es gewisse konservative Parteien im Widerspruch zur eigenen Verkehrspolitik rhetorisch gerne tun. Boesch versucht weiter zu denken. Er hat keine Lösungen parat, er entwickelt sie. Irritierend und überraschend sind diese Essays zur Urbanistik besonders dort, wo sie Mythen ins Spiel bringen. Odysseus, «der Stadtzerstörer», wird zum Schutzpatron der nomadischen Automobilisten, die sich permanent ihrer Umgebung entfremden auf der Suche nach einem häuslichen Refugium. Boesch will den gewagten Vergleich als Denkanstoss verstanden wissen.

Was Boeschs Essays weiter auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie offenkundig nicht mit literarischen Absichten verfasst wurden. Der Autor befleissigt sich einer didaktischen Denkweise, die nicht brillieren, sondern überzeugen, also verstanden werden will. Schon die Quellenhinweise zeigen an, dass er bei seiner Leserschaft ein eher technisches Verständnis voraussetzt, das er mit kulturellen Aspekten herausfordern will. Nie verliert Boesch aber die sachliche Argumentation aus dem Blickfeld. Odysseus ist zwar ein Mythos, doch zugleich Repräsentant des städtebaulichen Dilemmas zwischen Effizienz und Vertrautheit, Grösse und Nähe. «Die Rückgewinnung eines menschenwürdigen Wohnumfeldes soll sanft und beharrlich, keinesfalls stur schematisch erfolgen.» In diesem Sinn sind Hans Boeschs Essays wohltuende Zumutungen. Sie widerspiegeln die bescheidene Zurückhaltung ihres Autors. Wer aber genau hinschaut, sieht sich mit erstaunlich radikalen Thesen konfrontiert.


[Hans Boesch: Die sinnliche Stadt. Essays zur modernen Urbanistik. Mit einem Nachwort von Elsbeth Pulver. Nagel & Kimche, Zürich 2001. 202 S., Fr. 27.80. ]

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