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Das Ablaufdatum aufgestempelt
Spectrum

Was gestern noch als der neueste „Hype“ abgefeiert wurde, ist heute bereits optisch verschlissen. Was tun, wenn der modische Lack ab ist? Ein Plädoyer für mehr Verantwortung beim Bauen, gerichtet an Auftraggeber, Architekten - und Medienleute.

12. Mai 2001 - Walter Zschokke
Wenn man tiefer in die Architekturgeschichte einer Epoche eindringt, gerät man immer wieder ins Staunen ob der Reichhaltigkeit an architektonischen Konzepten, räumlichen Verdichtungen, Materialwirkungen oder Lichtführungen. Die Wirklichkeit erweist sich vielfältiger als alle Versuche der Wiedergabe, die sich verständnishalber einen roten Faden auslegen, vereinfachen und auswählen müssen.

Die Zuwendung zu Bauwerken der Vergangenheit fällt meist leicht. Den Forscherdrang steigert das Wissen, daß diese Bauten Zeugnisse jener Zeit sind, aus der unsere hervorgegangen ist. Das erleichtert es uns, einen Weg zu gehen, den andere, vielleicht gebildetere, klügere, erfahrenere oder genialere vor uns angelegt haben. Ihren Spuren folgend, uns da und dort Nebenwege suchend, ja, sich eigene Auffassungen erarbeitend, erlaubt man sich, mit Vorgängern nicht einverstanden zu sein, ihnen gar im Geiste zu widersprechen, das ehemals teure Buch womöglich zuzuklappen und wegzulegen. Man wird, wenn sie nicht zerstört ist, zur Substanz, zu den Bauwerken dieser Zeit hingehen, die Originale befragen, wie sie entstanden sein mögen, um ihre Wirkung in die Gegenwart zu verstehen. Aber mittelmäßige oder schwache Bauten taugen dazu nur wenig. Man wird daher die Finger davon lassen.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein mag es uns für Europa noch gelingen, eine gewisse Übersicht zu erarbeiten, doch in den jüngsten Jahrzehnten ist so viel und so kontrovers, in einem intensiven Wechsel von Auffassungen und Haltungen geplant und gebaut worden, daß die Wahrnehmung und Verarbeitung sowohl die Möglichkeiten von Normalbürgern als auch jene interessierter Laien übersteigt. Selbst die Kapazitäten jener, die sich berufsmäßig damit befassen, geraten an ihre Grenzen.

In diesem Kontext verwundert es kaum, daß die Kunstfigur „Austerlitz“ in W. G. Sebalds gleichnamigem Roman den Verlust an Raumstimmung und geschichtlicher Aura im alten Lesesaal der Bibliothéque Nationale in Paris beklagt - jenes hohen Raums, der von Henri Labrouste Mitte des 19. Jahrhunderts aus vielerlei gußeisernen Einzelteilen konzipiert wurde - und den Wechsel zur neuen Bibliothéque de France mit einer vernichtenden Kritik quittiert, die sich über mehrere Seiten zieht. Die Architektur betreffende Argumente mischen sich mit Kritik am Betrieb, aber das Sinnbild, die Zielscheibe der Standpauke bleibt das Gebäude.

Doch die Bauten von Dominique Perrault, dem Architekten der Bibliothéque de France, bilden bloß eine Strömung im breit verzweigten zeitgenössischen Ar- chitekturgeschehen. Denn nicht wenige Architekten manifestieren sich mit ihren Bauten auf ganz andere Weise. Einige agieren historisierend, andere klassisch modern, dritte graben Konzepte aus den sechziger Jahren aus oder haben immer schon so entworfen und so weiter. Vielen aber ist gemeinsam, daß ihre Bauten gleichsam schreiend daherkommen müssen, weil sie glauben, in einem angeblich unerbittlichen Konkurrenzkampf bestehen zu sollen.

Aber ist das nicht kurzsichtig? Tragen Bauten, die mit dem Speed des Drastischen oder Modischen aufgepeppt sind, nicht einen Stempel mit baldigem Ablaufdatum? Wird man es sich überhaupt leisten können, sie nach einem Dutzend Jahren, wenn ihre penetrante Erscheinung sich optisch verschlissen hat, abzureißen und durch einen Bau in dannzumaliger Mode zu ersetzen? Sollte sich die Architektur von jenem Virus, der für die Kleidermode unabdingbares Ferment ist, nicht etwas weniger oft infizieren lassen?

Ein Altmeister der Architekturkritik, Adolf Max Vogt aus Zürich, versteckte kürzlich einen starken Satz gleichsam beiläufig in einer Buchbesprechung: „Die Rangelei um Aufmerksamkeit, die Lust am Wechselsurfen muß die Architektur deshalb nicht fürchten, weil sie in einen elementaren Lebensbereich gehört. Ihre Würde besteht gerade darin, daß sie im Tempofieber nicht mittun kann und etwas anderes zu artikulieren hat“ (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 79/2001).

Vogt ordnet die Architektur einem „elementaren Lebensbereich“ zu und signalisiert damit die große Verantwortung jener, die Architektur zu schaffen sich anheischig machen. Er spricht von „Würde“, mit der sie sich zu befassen haben, so sie Architektur wollen. Mit dem „anderen, das sie zu artikulieren“ habe, das er nicht ausschreibt, sondern bloß als Gegensatz zum „Tempofieber“, in dem die Architektur „nicht mittun kann“, andeutet, meint Vogt jene Dauerhaftigkeit der Formen über die Generationengegensätze hinweg, die man Nachhaltigkeit nennen könnte. Jene Kraft nämlich, die uns aus Bauten anspricht, die historisch geworden sind, sodaß eine neue Generation Menschen ihre Präsenz unvoreingenommen, parallel zu älteren, ganz alten und neuen, als Topographie von Bauwerken wahrnehmen kann.

Aus der Distanz der Jahre läßt sich die Qualitätsdiskussion noch einmal führen, und nicht selten haben die Vorzeichen im Zuge solcher Wiederaufnahmen der öffentlichen Diskussion gewechselt. Wird dies unterlassen, können ausgezeichnete Bauwerke sang- und klanglos verschwinden.

Oder sie können so weit durch Umbauten entstellt werden, daß sie nach einem weiteren Lebensabschnitt diskussionslos abgebrochen werden. Aber in der Regel ist es schwaches Mittelmaß, das absteigt. - Entscheidend scheint mir auch die einleitende Bemerkung Vogts: daß nämlich die Architektur den hektischen Wechsel nicht zu fürchten brauche, denn Architektur ist das, was bleibt - was im Guten wie im Schlechten überdauert, wenn Ideologien und kleinliche Streitereien längst im Humus der Geschichte versickert sind.

A us dieser Perspektive läßt sich die Verantwortung jener ableiten, die Architektur beauftragen; vor allem aber jener, die sie entwerfen und ihre Realisierung beaufsichtigen. Sie gilt den Architekten. Zynismus, Gewinnsucht, Ränkespiel und Eitelkeit, die zu Cliquenwirtschaft und Packelei mit Politikern oder privaten Spekulanten führen, können nachhaltige Qualität nicht erzwingen, selbst wenn es kurzfristig gelingen mag, gewisse Medienleute Lobeshymnen verfassen zu lassen.

Wenige Jahre Distanz genügen meist, den Propagandafirnis zu verblättern. Wenn dann darunter die Substanz nicht ausreichend architektonische Qualität aufweist, die sich an gleichzeitigen und vorangegangenen Bauwerken ermessen und beurteilen läßt, bleibt nämlich die abschließende Anerkennung versagt, und das fälschlicherweise hochgelobte Mittelmaß und Kitschzeug versinkt im riesigen Meer des Vergessens.

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