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Von der Lounge zum Museum
Neue Zürcher Zeitung

Schauplatz Wolfsburg

Neuer architektonischer Glanz durch Zaha Hadid

22. Mai 2001 - Hubertus Adam
Durch den «Autostadt» genannten Themenpark des Volkswagenkonzerns hat Wolfsburg im letzten Jahr weitherum neue Aufmerksamkeit erlangt. Mit einem «Science-Museum» von Zaha Hadid will die Stadt in Zukunft auf diese Vorgabe reagieren und zugleich ihre beträchtlichen urbanistischen Defizite kompensieren.

Nach einer halben Stunde Fahrtzeit stoppt der ICE Hannover-Berlin in Wolfsburg. Durch das Zugfenster geht der Blick nach Norden auf die jenseits des Mittellandkanals gelegenen Hallen der VW-Werke, die durch die vorspringenden Ziegelsteintürme der Treppenhäuser rhythmisiert werden. Im wuchtigen Riegel des Kraftwerks mit seinen vier Schloten findet das Fabrikareal seine grandiose Coda. Jenseits eines Hafenbeckens schliesst sich die vom Büro Henn Architekten aus München geplante und im vergangenen Jahr fertiggestellte «Autostadt» an (NZZ 28. 7. 00), die im Sinne des zeitgenössischen «Infotainments» VW-Kundencenter, Automuseum, Ausstellungspavillons, ein von Andrée Putman eingerichtetes Fünfsternehotel sowie diverse Restaurants und Shops vereint. Ein völlig anderer Eindruck hingegen entsteht, wenn man nach Süden schaut. Der Bahnhof scheint sich irgendwo im städtebaulichen Nirwana zu befinden: Brachflächen, ein architektonisch belangloses Multiplexkino und, etwas entfernt, nichtssagende Bebauungen aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren.


Städtebauliche Paradigmata

Wolfsburg gilt, folgt man den Bearbeitern der jüngsten Auflage des Dehio-Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler zu Niedersachsen, als «wirtschaftlich und urbanistisch bedeutendste deutsche Stadtgründung des 20. Jahrhunderts». 1938 entwickelte der österreichische Architekt Peter Koller den ersten Bebauungsplan für die auf dem Boden des einstigen Rittergutes Wolfsburg neu gegründete «Stadt des KdF-Wagens». Grundgedanke war die Trennung von Volkswagenwerk und Stadt; der west-östlich verlaufende Mittellandkanal und das ihn begleitende Bahntrassee schotten das Fabrikareal im Norden noch heute von den Siedlungsbereichen ab.

In dem Masse, wie die Nazipropaganda von der «Volksmotorisierung» jener der «Volksmobilisierung» wich und die Autofabrik auf kriegswirtschaftliche Zwecke umgestellt wurde, stagnierte auch die Stadtplanung; 1945 bestand die Struktur aus dem Werkareal, einigen Wohnquartieren sowie zahllosen Barackenlagern, in denen die zur Arbeit gezwungenen KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter untergebracht waren. Viel Platz also, um die Vision einer neuen Stadt zu realisieren. Nach dem Krieg versuchte der Urbanist Hans-Bernhard Reichow, die von Koller in zentrale Blockrandbebauung, periphere Gartenstadtsiedlungen und eine - nicht realisierte - monumentale «Stadtkrone» unterteilte Anlage im Sinne seiner «organischen Stadtbaukunst» zu überformen. Im Jahre 1955 indes wurde Koller erneut in eine leitende Position berufen und als Stadtbaurat installiert. Da die am Ideal einer organischen Kleinstadt orientierte Reichow-Planung mit dem Konjunkturaufschwung der Wirtschaftswunder-Ära nicht korrelierte, griff Koller auf sein Ursprungskonzept zurück, das nun allerdings in entnazifizierter Variante vorgelegt wurde, also ohne Stadtkrone und Aufmarschachsen - und auch ohne die bisher charakteristischen Rückgriffe auf die Tradition vernakulären Bauens. An die Stelle der zentripetalen Organisation trat nun ein zentrifugales Konzept, das die Stadt mit Satellitensiedlungen ins Umland entgrenzte: die offene Stadtlandschaft, wie sie Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann in ihrer einflussreichen Publikation «Die gegliederte und aufgelockerte Stadt» (1957) postuliert hatten.

Abweichend von Kollers Vorkriegsplanungen entstand das Kultur- und Verwaltungszentrum nicht als «Stadtkrone» auf dem Klievertsberg, sondern in Fortsetzung der das Zentrum in nordsüdlicher Richtung durchmessenden, heute von belanglosen Einkaufsbauten verstellten und zur Fussgängerzone umgestalteten Porschestrasse. Das Rathaus (1955-58) von Titus Taeschner leitete die Sequenz der Bauten ein, ihm folgten das Kulturzentrum von Alvar Aalto (1959-62) - ein Hauptwerk des Finnen -, das Theater von Hans Scharoun (1969-73) und schliesslich das Kunstmuseum der Architekten Schweger und Partner (1991-94). Mit dem bescheiden proportionierten und bewundernswert detaillierten Aalto-Bau verglichen, wirkt der Museumshangar grobschlächtig: Aber vielleicht bedarf es des ruppigen Auftritts, um in der weder durch Intellektualität noch durch Feinsinn geprägten Stadt Wolfsburg zu bestehen. «Let's entertain» heisst die jüngste Ausstellung des ambitionierten Instituts; die Veranstalter sprechen von einer «künstlerischen Auseinandersetzung mit der Eventkultur», die in «einer Stadt, in der Autos nicht nur gebaut, sondern im Themenpark Autostadt auch multimedial inszeniert werden, am rechten Ort» sei.

Angesichts der im Süden der Innenstadt angesiedelten Kulturangebote bleibt die Nordkante - also der Bereich um den Bahnhof - ein urbanistischer Problemfall, und die Verantwortlichen der Stadt mögen befürchten, dass die Besucher zukünftig gar nicht erst das Stadtzentrum aufsuchen, sondern gleich über die neue - leider nicht nach dem Entwurf des Berliner Teams Léon Wohlhage realisierte - Kanalbrücke die «Autostadt» ansteuern. Die vom Wolfsburger Kulturdezernenten lancierte Idee eines «Science-Centers» sucht nun, der VW-City auf der Stadtseite Paroli zu bieten mit dem Konzept eines Wissenschaftsmuseums, das sich in den Nachbarländern, vor allem aber in den USA, als sehr erfolgreich erwiesen hat, in Deutschland aber bisher keine Nachahmer fand. «Erneut Weltklassearchitektur für Wolfsburg», jubelte die «Wolfsburger Allgemeine», als die Entscheidung bekannt geworden war, dass Zaha Hadids Entwurf von der Jury des Architekturwettbewerbs mit dem ersten Preis bedacht worden war. Unter 23 ausgewählten Büros hatte sich die in London tätige Architektin durchsetzen können und Enric Miralles sowie Barkow Leibinger auf die nachfolgenden Ränge verwiesen. Bis Ende 2002 soll der Bau fertiggestellt sein; 67 Millionen Mark sind veranschlagt, mit mindestens 260 000 Besuchern pro Jahr wird gerechnet.

Hadid selbst bezeichnet ihren Entwurf als «alien but simultaneously coherent landscape». Der dreieckige Baukörper, dessen Hypotenuse an den Gleiskörper angrenzt, besetzt den Freiraum zwischen dem Bahnhofsvorplatz im Westen und der verlängerten Achse der Porschestrasse im Osten. Um indes die Blickbeziehungen auf die andere Seite des Kanals zu bewahren und überdies die Durchquerung des Areals zu ermöglichen, stemmt die Architektin die eigentliche Ausstellungsebene in die Höhe. Trichterförmige Betonelemente stützen und durchdringen die Ausstellungsebenen; an die Stelle der pilotis im Sinne Le Corbusiers sind raumhaltige Elemente aus Stahlbeton getreten, die aus der modellierten Bodenlandschaft herauswachsen, sich nach oben erweitern und somit die traditionelle Trennung von Stütze und Last tendenziell aufheben, zumindest visuell und räumlich überspielen.


Konfrontation und Harmonie

Die Trichter übernehmen verschiedene Funktionen - sie umfassen Eingangs- und Treppenbereiche, bergen Werkstätten und Lager, dienen als Räume für Bookshop oder Bistro. Einige von ihnen enden auf der Höhe der Hauptebene, andere hingegen münden in die Dachplatte ein und gliedern als ausgesparte Negativformen die Ausstellungsebene. Zum Teil nach oben geöffnet, lassen sie überdies Licht in die unteren Ebenen gelangen. Obwohl der annähernd dreieckige Grundriss und auch das nach aussen boxartig sich abzeichnende Hauptgeschoss einer klaren geometrischen Bestimmung gehorchen, erscheint das Innere als ein labyrinthisches Kontinuum. Dies umso mehr, als sich durch das Gewirr der Kompartimente zusätzlich die öffentliche Wegachse hindurchwindet, die vom Bahnhofsvorplatz hinauf auf die Brücke zur Autostadt führt.

Die jüngst eröffnete «Zaha Hadid Lounge» fungiert nun gleichsam als Appetizer für das neue Museum. Eine zunächst als Dépendance der im Aalto-Bau beheimateten Musikbibliothek vorgesehene, aber nie benutzte zweigeschossige Galerie des Kunstmuseums hat die Architektin in einen Raum umgewandelt, der Architekturgalerie, Cafeteria und Veranstaltungsort zugleich ist; sogar als Disco soll er zukünftig dienen. Graue, ondulierende Wandelemente, die formal den «cones» des Science-Museums entsprechen, unterteilen den Gebäuderest in eine spannungsvolle Abfolge von Raumsituationen, in denen Hadid Modelle, Zeichnungen und Perspektiven ihrer realisierten und projektierten Arbeiten ausstellt. Neben dem Science-Center für Wolfsburg sind dies die Museen für zeitgenössische Kunst in Rom und Cincinnati, aber auch realisierte Werke wie der Gartenschaupavillon in Weil am Rhein und ein Park-and-ride-Terminal in Strassburg. Dekonstruktivismus, so lehren Hadids jüngste Werke, bedeutet nicht nur Zusammenprall heterogener Formen, sondern kann zu neuen Raumvorstellungen führen: statt einer Konfrontation des Widersprüchlichen nun also der Versuch, mit einer organisch wirkenden Gestaltung Disparates auf höherer Ebene zu versöhnen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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