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Der Raum als Beziehungsgeflecht
Neue Zürcher Zeitung

Bernard Tschumis Architekturschule in Marne-la-Vallée

1. Juni 2001 - Hubertus Adam
Nicht die Verabsolutierung der Ästhetik, sondern die kommunikative Funktion des Gebäudes interessiert den in Paris und New York tätigen Schweizer Architekten Bernard Tschumi. In Marne-la-Vallée bei Paris bildet eine von Treppen und Stegen durchzogene Halle das Herz der neuen Architekturschule des Lausanner Dekonstruktivisten.

Die postmodernen Wohnpaläste von Ricardo Bofill in Noisy-le-Grand markieren das westliche, die gewaltigen Areale von Euro-Disney das östliche Ende von Marne-la-Vallée. Als eine der Villes nouvelles zur Entlastung von Paris gegründet, erstreckt sich das lockere Siedlungsgefüge über dreissig Kilometer im Marnetal östlich der französischen Hauptstadt. Eine knappe halbe Stunde benötigt man mit dem RER, um das «Cité Descartes» genannte Universitätsgelände zu erreichen, auf dem sich einige Teile der 1991 gegründeten Université de Marne-la-Vallée sowie diverse Forschungsinstitute befinden. Weit verstreut stehen die in den vergangenen Jahren entstandenen Bauten auf dem Terrain, das auf Grund seiner grosszügigen Konzeption, der vielen Parkplätze und der gähnenden Leere des monofunktional genutzten Areals ausserhalb der Unterrichts- und Arbeitszeit eher den Charme eines Gewerbegebiets als den eines Universitätscampus ausstrahlt. Nur das historische Geviert der Ferme de la haute maison erinnert noch an das einst ländlich geprägte Marnetal.

Obgleich sich die meisten Institutsbauten eher durch Quantität als durch Qualität bemerkbar machen, sind doch einige interessante Architekturen entstanden: die von einem bis zum Boden herabgeführten Dach überfangene Ingenieurschule für Elektronik und Elektrostatik (1984-88), mit der Dominique Perrault erstmals auf sich aufmerksam machte, die beiden als Glaskubus und expressiv geschwungene Betonplastik komplementär materialisierten Universitätsbauten von Jourda et Perraudin (1996) und schliesslich als jüngste Erweiterung des Quartiers die Architekturschule von Bernard Tschumi. Der 1944 in Lausanne geborene Architekt, der - mit seinem Büro in Paris und New York ansässig - zunächst theoretisch tätig war, bevor er mit dem Konzept und den «Follies» des Pariser Parc de la Villette das Schlüsselwerk des architektonischen Dekonstruktivismus schuf, bezeichnet seinen Bau als «Zero Degree Architecture». In der Tat interessiert sich Tschumi nicht für eine architektonisch vordergründige Ästhetik, und es geht ihm auch nicht um die Fortsetzung eines Bautyps, der mit der Ecole des Beaux-Arts im 19. und dem Bauhaus im 20. Jahrhundert seine spezifischen Ausprägungen gefunden hat.

Häuser sind für Tschumi keine statischen Gebäudehüllen, sondern Generatoren, welche Menschen in Bewegung setzen. Daher widmet er den Freiräumen, also den nicht eindeutig determinierten Flächen, seit je seine besondere Aufmerksamkeit. Waren es im Medienzentrum Le Fresnoy bei Tourcoing abgehängte Stege im künstlichen Himmel unterhalb der Dachzone und im Lerner Student Center der Columbia University New York weit geführte Rampen, so übernimmt in Marne-la-Vallée ein zentraler Lichthof die öffentliche Funktion. Mit üblichen glasgedeckten Atrien, deren Funktion sich auf das Verteilen von Menschen und Licht beschränkt, hat diese mit einem von bullaugenförmigen Lichtöffnungen durchbrochenen Sheddach gedeckte Halle allerdings kaum etwas zu tun. Sie dient der Erschliessung, fungiert aber - je nach Bedarf - auch als Ausstellungshalle, Kommunikationsbereich oder Partyspace. Allerdings wird der Gedanke, den Hallenboden vermittels Treppen und Rampen nach Osten hin um insgesamt sieben Meter ansteigen zu lassen, im derzeitigen Zustand kaum erkennbar. Realisiert wurde bisher nur ungefähr die Hälfte des Projekts; ob die Erweiterung überhaupt erfolgen wird, ist derzeit fraglich.

Der Lichthof trennt und verbindet zugleich zwei Gebäuderiegel. Der südliche, der Forschungslabors und Verwaltung birgt, zeigt sich von der Strasse aus verschlossen; der nördliche, zum Innenhof und nach aussen hin verglast, enthält die Ateliers und Studios der Studenten. Hermetische Räume existieren nicht, Offenheit dominiert. Es sind aber nicht nur Sichtbeziehungen, die Kommunikation ermöglichen, sondern auch eine Reihe von Stegen und Treppen, welche den zentralen Lichthof überbrücken und begleiten. Sie verbinden überdies die Studios und Labors mit dem massigen, metallverkleideten Hörsaalblock, der, auf Stützen gestellt, in der Halle nachgerade zu schweben scheint.

Einen instruktiven Überblick über Tschumis Projekte der vergangenen Jahre gibt der unlängst erschienene zweite Teil der unter dem programmatischen Titel «Event-Cities» publizierten Werkmonographie. Mit einer Fülle von Zeichnungen, Skizzen und Computeranimationen in Schwarzweiss bzw. Rotweiss - auf suggestive Farbbilder und ein trendiges Layout verzichtet der Architekt seit je - wird der Leser zu einer Tour eingeladen, die durch Tschumis Leidenschaft für die Kinematographie inspiriert ist. Nicht ohne Grund findet sich zu Beginn des Buchs der Entwurf eines Hauses, das Tschumi nach einem Gespräch mit Eric Rohmer und Boris Karloff entworfen hatte und das Bewegungslinien der Akteure des Frankenstein-Films von 1932 in ein Raumgefüge übersetzt. Der Schwerpunkt des Bandes liegt in einer umfangreichen Dokumentation des Parc de la Villette, bei dem es Tschumi mit seinem klaren Konzept aus Flächen, Linien und mit roten «Follies» verschiedener Gestalt markierten Punkten gelang, den zeitgenössischen Landschaftspark neu zu definieren. Ausführlich vorgestellt werden überdies die Architekturschule von Marne-la-Vallée, das Lerner Center und einige im Entstehen begriffene Projekte, darunter die mit Marne-la-Vallée verwandte Architekturfakultät für Miami und ein Konzert- und Ausstellungszentrum für Rouen. Leider unrealisiert blieb das 1995 vorgelegte Projekt für ein von einer ondulierend geführten Rampe durchzogenes Shopping-Center an der Zürcher Hohlstrasse: ein neuerlicher Beweis für mangelnden baulichen Wagemut an der Limmat, aber auch ein Zeichen der Ignoranz, auf die Tschumi in seinem Herkunftsland trifft.


[Bernard Tschumi: Event-Cities 2. The MIT Press. Cambridge/Mass. und London 2001. 692 S., £ 23.95.]

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