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Architektur der Welt auf Kartonbogen
Neue Zürcher Zeitung

Das Gewerbemuseum Winterthur eröffnet Sommerausstellung

23. Juni 2001
Der Taj Mahal, das Guggenheim-Museum in Bilbao, die Freiheitsstatue, der Eiffelturm gleich mehrfach, aber auch Bauernhäuser, Kraftwerke und Dorfidyllen, sie alle stehen, in Kleinformat, zurzeit im Gewerbemuseum Winterthur. Der Architekt und Sammler von Modellbogen Dieter Nievergelt stellt während dieses Sommers einen kleinen Teil seiner rund 4000 Modellbaubogen und der 200 Papierobjekte aus.

re. Modellbogen - diesen Begriff kennt jedes Kind, auch wenn heute virtuell durch alle Räume und Zeiten gesurft werden kann. Und welcher Erwachsene ist nicht gross geworden mit einer windschiefen Burg, einem wackligen Flugzeug oder einem ständig kippenden Schiff im Kinderzimmer? Im Gewerbemuseum Winterthur werden mit der diesjährigen Sommerausstellung Kindheitserinnerungen an Finger voller Leim, schiefe Wände und nicht passende Dächer wach. Modellbogen sind aber offensichtlich auch Freizeitvergnügen für Erwachsene. Denn welches Kind hätte die Geduld, 982 Einzelteile zu falten, zu kleben und zum Abbild des grossen Marktplatzes in Brüssel zusammenzufügen. Dass Dieter Nievergelt dazu mehr als 300 Stunden gebraucht hat, wird angesichts der Details, etwa der 116 winzigen Dachaufbauten, gerne geglaubt.

Der Faszination der Modellbogen erlag der Winterthurer Architekt erst in reiferem Alter. Natürlich kannte er als Kind die Bastelbogen aus dem Pädagogischen Verlag des Lehrervereins Zürich, dem heute weltweit grössten Herausgeber von Modellbogen. 1919 begann der Lehrer Edwin Morf, Pädagogik mit Spiel und Freizeitbeschäftigung zu verbinden, und zeichnete die ersten Bauten. Es seien sehr akkurate, genau passende Vorlagen gewesen, merkt Dieter Nievergelt an, der im Lauf seiner Sammeltätigkeit in der ganzen Welt auch mit unsorgfältig gefertigten Bogen konfrontiert wurde. Bald bastelte der Architekt nicht nur in seiner Freizeit. Rund 200 Objekte hat er schon zusammengebaut, darunter das Guggenheim-Museum in Bilbao, die Freiheitsstatue, den Eiffelturm und den Taj Mahal. Er begann auch gezielt zu sammeln - 4000 Modellbaubogen sind es heute - und der Geschichte dieses Bildmediums nachzugehen.


Kleiderpuppen und Heerlager

Bereits im Spätmittelalter kannte man die Bilderbogen, welche die Bevölkerung über Schlachten, Kriege und andere Weltereignisse informierten. Später folgten Aufstellbogen und Kleiderpuppen aus Papier mit austauschbarer Garderobe. 1544 wurde in einem Lehrbuch über Militärwesen der wohl erste Modellbogen gedruckt, als pädagogisches Hilfsmittel zum strategisch richtigen Aufbau eines Heerlagers.

Modellbogen sind ein Massenprodukt, müssen es auch sein, denn die hohen Fixkosten für die massstabgetreuen Konstruktionen und die aufwendigen Kolorierungen tragen sich nur bei hohen Auflagen. Deshalb richten sich die Modelle nicht nur nach den «Hitlisten» der Weltarchitektur, sondern auch nach Zeitgeschmack und Zeitgeist. Im 20. Jahrhundert entdeckte die Werbung die Modellbaubogen: Die sieben Weltwunder wurden auf Frühstücksflocken-Packungen aufgedruckt, eine Mineralölfirma verschenkte Tankstellenmodelle, und die «Marga»-Schuhcrème-Dörfchen verführten die Kinder in den dreissiger Jahren zum eifrigen Schuhputzen.


Workshops für Kinder und Erwachsene

Als Ergänzung und Kontrast zur filigranen Modellwelt entsteht während der Dauer der Ausstellung (bis zum 30. September) eine begehbare Stadt aus Wellkarton. Schulklassen sind eingeladen, aus einfachen geometrischen Grundflächen architektonische Gebilde zu schaffen und an einer «Stadt» zu bauen, die sich laufend verändern wird. Bereits haben sich 60 Klassen für diese Workshops angemeldet. Erwachsene haben die Gelegenheit, sich unter Anleitung von Dieter Nievergelt an Modellbaubogen zu versuchen - es muss ja nicht gleich der Taj Mahal sein (sonntags von 13 bis 16.30 Uhr).


[Die Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur ist jeweils von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Informationen unter www.gewerbemuseum.ch]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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