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Das Ende der Bohème
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Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich

Österreichische Architekturszenen seit 1975

1. Oktober 1995 - Otto Kapfinger
Die Mitte der siebziger Jahre markiert ein Wellental. Den technoiden, libidinösen und gesellschaftlichen Visionen der späten sechziger Jahre war durch den Ölschock der konjunkturelle Nährboden entzogen worden. Bevor die utopistischen Ideen der Gruppen Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau, Missing Link, Zündup u.a. auch nur in die Nähe realisierbarer Ansätze kamen, wurden sie vom urbanistischen Rücksprung der Postmoderne links und rechts zugleich überholt. Die bereits etwas angegraute Nachkriegsavantgarde, gegen deren systemkonforme Ethik und Moral die zornigen „Achtundsechziger“ ja nicht zuletzt aufbegehrt hatten, konnte wohl 1976 retrospektiv ihre Leistungen in einer großen Ausstellung darstellen und auch international vermitteln.1 Diese Bilanz kam aber zu einem Zeitpunkt, als die wichtigen Innovationsschübe der fünfziger und sechziger Jahre - vor allem jene im Kirchen- und im Schulbau - bereits verebbt waren, und als die leicht übersehbare Schar der heimischen Baukünstler den politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Kräften des Landes nach wie vor in einer Position der inneren Emigration gegenüberstand.

Es ist vielleicht symptomatisch, daß die engagierte kleine Vereinigung, die wesentlich an diesem für die Epoche von 1945-75 immer noch gültigen Überblick beteiligt war - die Österreichische Gesellschaft für Architektur - unmittelbar danach in eine schwere Krise schlitterte und vor ihrer Auflösung stand. Während also damals die „alte Avantgarde“ ein quantitativ schmales, doch qualitativ kompaktes Oeuvre an Bauten resümieren konnte, stand die zeitgenössische Baukunst innerhalb der relevanten Kraftfelder des Bundes, der öffentlichen und der genossenschaftlichen Bauträger, nach wie vor im Ruf einer unverständlichen Exotik. 1970 etwa war der bis dahin größte internationale Architekturwettbewerb im Lande für die Errichtung der UNO-Dependancen in Wien in einem zwielichtigen Gerangel um nationales Prestige und Auftragspfründe mit einer äußerst mittelmäßigen „österreichischen Lösung“ entschieden worden.2

War also um 1975 die „alte Avantgarde“ - Friedrich Kurrent, Johannes Spalt, Gustav Peichl, Hans Hollein, Ottokar Uhl, Anton Schweighofer, Josef Lackner, Johann Georg Gsteu u.a. - trotz errungener akademischer Funktionen und etlicher präziser Bauten in ihrem Selbstverständnis wie in der gesellschaftlichen Außensicht absolut eine Randgruppe, so zog sich damals gleichzeitig auch die „neue Avantgarde“ aus dem medialen und universitären Agitationsfeld in den leichter bespielbaren Freiraum der Kunstszene zurück.

Zwanzig Jahre später sieht alles anders aus. Scheinbar. Auf verlagertem Niveau jedenfalls. Die avancierte Bauszene hat nun nicht nur ein explosiv angewachsenes, schillerndes Bukett an Realisierungen vorzuweisen, die Architekten genießen zumindest medial vereinzelt sogar Star-Status, und entgegen den schlimmen Zeiten der ministeriellen Freihandvergaben und des dominierenden Schematismus der Wohnbaulöwen der siebziger Jahre sind auch die großen öffentlichen Aufträge jetzt durchweg in qualitätvolle Ausleseverfahren eingebunden. Die Avantgardisten der sechziger Jahre haben in den letzten zehn Jahren mit einer weiteren Schicht von Hauptwerken nun auch Akzente in größerem Maßstab setzen können.3 Und aus ihren langen Schatten sind zwei weitere Generationen herausgetreten, deren ältere aus der Bohème der siebziger Jahre in die professionelle Praxis der achtziger Jahre gefunden hat und die sich vom moralisierenden Druck der Vorgänger und Lehrer endgültig emanzipieren konnte, und deren jüngere ohne Umschweife ihren Anteil am Baugeschehen mit internationalem Selbstverständnis einfordert. All dies stellt eine vielleicht bloß regional gefärbte und grob skizzierte Version des Paradigmenwechsels in der gesamten europäischen Szene dar. Im Rahmen der überregionalen Ereignisse sind rückblickend jedoch einige Weichenstellungen klar erkennbar, die für die Entwicklung der österreichischen Szene spezifisch und entscheidend waren.

Die ersten strukturverändernden Impulse wurden ab 1975 in der Steiermark eingeleitet. Dort konnten beispielsweise die Richtlinien für den Wohnungsbau so revidiert werden, daß seither die Förderung aus öffentlichen Mitteln ab einer Projektgröße von 50 Wohneinheiten an die Durchführung eines baukünstlerischen Wettbewerbes gebunden ist. Parallel dazu wurden ab 1978 von der steirischen Landesbaudirektion keine „Amtsplanungen“ im Hochbau mehr durchgeführt. Statt dessen entschied man sich, die Palette der öffentlichen Bauaufgaben - vom Krankenhaus- und Hochschulbau bis zu kleinsten Umbauten in bestehenden Amtsräumen - künftig über sorgfältig ausgeschriebene Wettbewerbe oder über Direktaufträge an ausgewählte Architekten abzuwickeln. Darüberhinaus wurde 1980 mit dem „Modell Steiermark“ innerhalb des geförderten Wohnungsbaus ein Anteil festgelegt, der ausdrücklich der vorbildhaften Anwendung innovativer und experimenteller Planungskonzepte gewidmet war.4

Für diese Reformen ausschlaggebend waren zweifellos das persönliche Engagement des steirischen Landeshauptmannes Josef Krainer für zeitgenössische Architektur und das unermüdliche Wirken von Wolfdieter Dreibholz in der Hochbauabteilung der Landesregierung. Das phänomenale Aufblühen der „Grazer Schule“ weit über den üblichen Sektor privater Auftraggeber und sporadisch an Baukunst interessierter Wirtschaftsbosse hinaus wäre ohne diese in Österreich einmaligen Strukturbedingungen, ohne die kulturpolitische Stützung „von oben“ nicht möglich gewesen. In dieses Bild paßt weiterhin, daß 1980 mit Günther Domenig die prononcierteste Leitfigur der jungen Grazer Architekturszene als Lehrer an die dortige Technische Universität berufen wurde, womit eine davor deklariert anti-institutionalistische Schule nun den im Freiraum ihrer legendären „Zeichensäle“ gewachsenen Nonkonformismus als offizielle Lehrmeinung etablierte.

Vergleichbare Voraussetzungen ließen in Wien noch lange auf sich warten. Dem Realisierungsschub der Steirer konnten die Wiener jahrelang nur das Niveau des theoretischen Diskurses entgegenhalten. 1979 begann durch einen Generationswechsel in der Österreichischen Gesellschaft für Architektur und mit der Gründung der Zeitschrift „UMBAU“ eine intensive Diskussion der zeitgleichen Tendenzen in der Schweiz, in Deutschland, Italien und den USA.5 Die seit den frühen achtziger Jahren auch in den Wiener Printmedien wieder forcierte, permanente Architekturrezension war eine direkte Folge dieser Bemühungen. In Wien konnte man um 1980 durchaus das Gefühl haben, diese Stadt sei längst komplett. Das alte Gehäuse der Donaumonarchie sei wie ein zu groß gewordener Rock, in dem die Gegenwart allein mit der Erhaltung des Vorhandenen überfordert sei, und wo Zukunftsträchtiges sich nur noch im Ephemeren, in Miniaturen oder in homöopathischen Umdeutungen des status quo manifestieren könnte.

Einen Wendepunkt im sozialen Wohnungsbau bedeutete hier aber die Initiative Erwin Wippels, eines ausgefuchsten Immobilienmaklers, der ab 1981 die in schematischer Routine erstarrten „schwarzen“ Wohnbaugenossenschaften radikal auf Qualitätskurs trimmte. Für die Zusammenführung von unkonventionellen, zum Teil renommierten, zum Teil ganz jungen Architekten mit den vorher rein kommerziell orientierten Bauträgern wurde damals eine eigene Koordinationsstelle gegründet, die „GWV“ - Gesellschaft für Wohnungs-, Wirtschafts- und Verkehrswesen. Ihr Pilotprojekt war die 1981 begonnene Siedlung Biberhaufenweg.6 Trotz ihrer geringen Dimensionen wirkte diese Anlage in der in Wien seit langem schwelenden Wohnbaudebatte im richtigen Moment so programmatisch und war auch medial so erfolgreich, daß die Hypothese zutrifft, die Wohnbauproduktion der „roten“ Stadtgemeinde hätte daraufhin ebenfalls mit einer Qualitätssteigerung reagiert.7 Von der „GWV“ wurden dann immerhin fast alle jene Projekte initiiert, die in den achtziger Jahren zu den Lichtblicken im Wiener Wohnbaugeschehen zählen. Dies bildete überdies fast ein Jahrzehnt lang in der Donaumetropole die einzige Nische, in der international beachtete Architektur auch außerhalb der hier (notgedrungen) besonders gepflegten Kleinkunst der Laden-, Gastronomie- und Villen(um)bauten entstehen konnte.8 Erst die Reaktion auf die in Westeuropa längst angelaufene Entwicklung der „Städtekonkurrenz“ und der „Neuen Urbanität“, erst die Berufung von Hannes Swoboda zum Wiener Planungsstadtrat 1988 und die mit dem Fall der Ostgrenzen eröffneten Wachstumsperspektiven brachten auch in Wien wieder das größere Feld urbanistischer, kommerzieller und repräsentativer Projekte ins Blickfeld der Qualitätsdebatte.

War der frühe Impuls in der Steiermark als „Reform von oben“ aus dem Zentrum der politischen Macht abgesichert, so entstand das womöglich noch umfassendere und radikalere „Salzburg-Projekt“ als überraschender Coup einer peripheren Protestbewegung gegen etablierte Verhältnisse. Mit dem Wahlerfolg der „Bürgerliste“ übernahm dort 1982 Johannes Voggenhuber das Amt des Planungsstadtrates. Dank der in seiner Funktion vereinigten Kompetenzen der Baubehörde, der Architekturbegutachtung und der Raumordnung konnte er eine tiefgreifende Architekturreform starten. Salzburg, eine Kommune mit einzigartiger historischer Stadtlandschaft aber auch mit besonders verfilzter Baupolitik und krassen Städtebausünden in der Gegenwart, sollte ein Musterbeispiel der Sanierung einer „europäischen Stadt“ werden. Mit Hilfe des 1983 gegründeten „Gestaltungsbeirates“ konnte Voggenhuber eine Reihe von beachtlichen Projekten durchziehen und etliche bekannte in- und ausländische Architekten in diese Vorhaben einbeziehen - eine Situation, die hier seit Jahrzehnten ein völliges Novum darstellte.9

Architektur und Urbanistik wurden in Salzburg über Nacht zum Gegenstand intensivster, zum Teil sehr hart und populistisch, zum Teil hochqualifiziert geführter öffentlicher Auseinandersetzungen. Das Prinzip des „Gestaltungsbeirates“ wurde in der Folge von einigen anderen Landesstädten modifiziert übernommen oder aktualisiert, u.a. in Wien, Bregenz, Linz und Krems. Voggenhubers tief in wirtschaftliche, politische und kulturelle Mißstände eindringendes Engagement wurde bei den nächsten Wahlen nicht mehr honoriert. Doch sein Impuls hat am Ort die bis heute wirkende Wiederbelebung der Architekturdiskussion bewirkt, hat einige wichtige realisierte Bauten hinterlassen und überregional spürbare Anregungen ausgelöst.10

Wieder anders lagen die Verhältnisse in Westösterreich. Der Ausverkauf der Landschaft und der alpinen Bautradition im Zeichen des Tourismus hat in Tirol wohl alle kritischen Umkehrpunkte längst überschritten. Der relative Wohlstand hat den begabten Einzelkämpfern unter den Architekten aber immer auch eine konstante Auftragslage durch private Bauherrschaft gewährleistet.11 Vorarlberg hingegen ist - nicht nur im österreichischen Rahmen - als Sonderfall einzustufen. Was in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren hier als „Vorarlberger Bauschule“ über den Horizont der Fachwelt hinaus bekannt wurde, war keine Schule im herkömmlichen Sinn. Im Unterschied zur Steiermark oder zum „Salzburg-Projekt“ hatte sich dort eine solidarische Bewegung für rationales, zeitgemäßes, ökonomisches Bauen schrittweise „von unten“ formiert. Abseits von den Hochschulen, in Distanz zum kulturellen und bürokratischen Establishment war dies von Beginn an eine Aktivität, die nicht allein von den Architekten, sondern wesentlich durch die Bauherren und Baufrauen mitbestimmt wurde.

Herangewachsen in einer Alternativszene ist es diesen „Baukünstlern“ in den achtziger Jahren gelungen, eine erstaunlich breite Wirksamkeit zu erreichen und in die Mittelschichten, in den gängigen sozialen und genossenschaftlichen Wohnbau vorzudringen. So ist im „Ländle“ ohne offiziöse Unterstützung gleichsam „subkutan“ ein Architekturklima entstanden, wo am Ende der achtziger Jahre der Ausbruch aus der Nische des kleinen Siedlungs- und Einfamilienhausbaues gelang und eine dichte Wettbewerbsfolge auch das Spektrum der öffentlichen und größeren Bauaufgaben qualitativ erfaßt hat.12 Wenn es in dieser Entwicklung ein signifikantes Datum gab, ist auch dies am ehesten Ende der siebziger Jahre anzusetzen: 1978 begann die Cooperative in Dornbirn ihre Tätigkeit. Ihre Dynamik hat den gemeinschaftlichen, billigen Wohnungsbau entscheidend vorangetrieben, und die aus der Cooperative hervorgegangenen Architekten haben auch später zur Öffnung der Szene für größere Aufgaben und zur Internationalisierung des Vorarlberger Phänomens wesentlich beigetragen.

In all dem bisher gesagten sind weder die Oeuvres einzelner Architekten noch die eigentlichen architektonischen Positionen im Lande näher berührt worden. Bei der in Österreich heute sichtbaren Vielfalt an interessanten Gegenwartsbauten ist es unumgänglich, zunächst einmal das historische „äußere“ Gerüst der Wachstumsbedingungen für diese Vielfalt klarzulegen, bevor eine in diesem Rahmen nur andeutbare innerarchitektonische Analyse beginnen kann. Sowohl für die Wiener als auch für die Grazer Szene sind um 1986/87 wichtige Verschiebungen erkennbar. In Wien befreit sich die Generation der heute 45-55jährigen aus dem Sog der hier allgegenwärtigen großen Traditionen und entfaltet ein Panorama sehr differenzierter Positionen. Helmut Richter wird von der „GWV“ mit der Wohnhausanlage Brunnerstraße beauftragt, Coop Himmelblau gewinnt das Gutachterverfahren zum Ronacher und arbeitet am Dachausbau Falkestraße, Adolf Krischanitz baut mit Herzog & de Meuron und Otto Steidle die Siedlung Pilotengasse, Heinz Tesar gestaltet die Schömer-Zentrale, Rüdiger Lainer/Gertraud Auer erhalten die ersten größeren Aufträge, der mediale, öffentliche Kampf um das Haas-Haus von Hans Hollein wird vor den Bauplanken und der offenen Baugrube letztlich für ihn entschieden.

In Graz zeigt sich zur gleichen Zeit ein Schwenk vom barocken Überschwang der Expression, von der heroischen Kraftmeierei gegen die Konventionen hin zu einer eleganten Versachlichung. 1988 gewinnt das junge Team ARTEC mit einem lakonisch-spröden und völlig unromantischen Beitrag den Wettbewerb für das Grazer Bauamtsgebäude.13 Die individuellen Handschriften eines Günther Domenig, eines Klaus Kada, Volker Giencke, Konrad Frey oder von Michael Szyszkowitz/Karla Kowalski haben das frühere Etikett der „Grazer Schule“ längst gesprengt und überschritten. In Vorarlberg lösen sich Dietmar Eberle/Karl Baumschlager von ihrer Holzbau-Phase und beginnen mit fulminantem Tempo und etlichen großen Wettbewerbserfolgen die Auseinandersetzung mit der neuen deutsch-schweizer Architektur; Erich G. Steinmayr realisiert seine ersten Bauten.

Wenn man hier fortsetzend versuchte, die heute mit ihrem Oeuvre in Österreich hervorragenden Baukünstler - es sind weit über 80 Namen —, in Kategorien zu fassen, kann man meines Erachtens nur scheitern. In der Generation der jetzt über Sechzigjährigen zeigen sich einerseits die ausgereiften Personalstile eines Hans Hollein, der in seiner komplexen Narrativität die gesamte internationale Entwicklung seit 1960 vor dem Hintergrund der speziellen Wiener Psychologisierungs- und Inszenierungskunst auf unverwechselbare Weise amalgamiert; eines Günther Domenig, der seine Transformationen des Organischen aus der Expression der siebziger Jahre heraus formal und auch konzeptionell wesentlich erweitert und auch quantitativ bereichert hat; eines Gustav Peichl, dessen symbolische Technizismen jetzt in abgeklärte Versionen der klassischen Moderne münden; eines Josef Lackner, dessen originäre, plastische Baugestalten immer schon spezifische Lichtführungen aufwiesen und der dieses Thema zuletzt in der Arbeit mit neuen Technologien in „späten“ Meisterwerken fortsetzte; oder eines Wilhelm Holzbauer, dessen Talent der großen Raum- und Zeichenorganisation mit der Fülle der Aufgaben im letzten Jahrzehnt in kalkulierbare Routine mündete.

In der Generation der Fünfzigjährigen könnte andererseits eine grobe Sondierung vielleicht zwischen „neomodernen“ und „transmodernen“ Haltungen grundsätzlich unterscheiden, wobei die ersteren den technischen bzw. konzeptionellen Positivismus der klassischen Moderne in neuen Schichten ausloten und weitertreiben, während die letzteren sich vom puristischen Idealismus der Moderne auf jeweils individuelle Weise verabschiedeten. Für die „transmoderne“ Haltung stehen in Wien das Team Coop Himmelb(l)au und ihre intuitive Dynamisierung der Kräfte im Raum - Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky zählen zu den Bannerträgern und Weltstars des Dekonstruktivismus -, weiters Laurids Ortner und Manfred Ortner und ihr kühler Realismus der urbanen Zeichen, Adolf Krischanitz und seine Subversionen des Minimalen, Rüdiger Lainer und seine Poesie der Inkongruenzen, oder das junge Team The Office mit seiner medialen Energie der Oberflächen. In Graz könnte man unter diesem Gesichtspunkt Manfred Wolff-Plotteggs doppelbödige Etüden digitalen Entwerfens sehen, oder die komplexe Einfachheit des Duos Florian Riegler/Roger Riewe, in Salzburg die high culture/low tech-Projekte von Manfred Max Rieder. Hermann Czechs tiefgründige Durcharbeitung des Banalen, Boris Podreccas orchestrale Kontinuität der architektonischen Erzählung oder Heinz Tesars Archaik der Körperformen scheinen sich solcher Zuordnung zu entziehen, sind aber ebenfalls durch kritischen Abstand zu den Rezepten der Moderne gekennzeichnet.

In die „neomoderne“ Strömung zählen in Wien dagegen Helmut Richters radikale Transzendenz des konstruktiven Gerüstes, Rudolf Prohazkas gebaute Orts-Diagramme, Elsa Prochazkas Präzision der subtilen Eingriffe, Michael Loudons strukturelle Raumkonzepte, die sensitive Einfachheit der Arbeiten von Eichinger oder Knechtl, ebenso die apparative Ästhetik von Driendl + Steixner, die geöffneten Raumsequenzen von Dieter Henke/Marta Schreieck oder die Abstraktionen der Schwerkraft in den Entwürfen von Pauzenberger-Hofstätter. Vergleichbare Haltungen sind in Graz etwa in Klaus Kadas souveräner Eleganz des Ökonomischen zu sehen, in Volker Gienckes spielerischer Humanisierung des High Tech oder in Konrad Freys oft unterschätzter, feiner Ökonomie der Technologie.

Die Reihe der Namen wäre damit längst nicht erschöpft. Sie könnte in Wien fortgesetzt werden mit Paul Katzberger/Karin Bily, Andreas Fellerer/Jiri Vrendl, mit Georg Reinberg/Martin Treberspurg, Christian Jabornegg/Andras Pallfy, Walter Stelzhammer oder dem Baukünstler-Kollektiv, in Graz mit Ernst Giselbrecht, Hubert Riess, Bernhard Hafner, Irmfried Windbichler oder Manfred Zernig, in Vorarlberg mit Roland Gnaiger, Hermann Kaufmann, Helmut Dietrich oder Martin Häusle, in Tirol mit Jörg Streli, Peter Lorenz, Reinhardt Honold, Hans Fritz oder Peter Thurner, in Kärnten mit Felix Orsini-Rosenberg oder Sonja Gasparin, in Salzburg mit dem Team Halle 1 und Fritz Lorenz, in Oberösterreich mit dem Duo Riepl/Moser, in Niederösterreich mit Ernst Beneder - und auch damit würden noch etliche Beiträge vor allem aus der jüngeren Generation unter den Tisch fallen.

Die einleitende These vom Ende der Bohème bestätigt sich jedenfalls allein durch die unübersehbar gewordene Zahl von Protagonisten, die fast alle auch rasch zum Bauen kommen, womit sich der Existenzkampf für die meisten freilich bloß graduell, aber nicht grundlegend verändert. Hat sich in der Steiermark das Engagement von oben zuletzt deutlich abgekühlt (das experimentelle Wohnbauprogramm wurde nicht weitergeführt), so ist dafür jetzt auch in den „Architekturprovinzen“ Kärnten, Niederösterreich und Burgenland mit der Gründung lokaler Zentren und Diskussionsforen für neue Baukunst ein Aufwind spürbar.14 Eine Initiative wie das seit 1991 in Wien durchgezogene „Schulbauprogramm 2000“ wäre noch fünf Jahre davor undenkbar gewesen. Das Problem ist heute nicht so, daß ein williger Bauherr nicht einen kongenialen Planer, daß eine große öffentliche Bauaufgabe über entsprechende Wettbewerbe nicht ein optimales Projekt finden würde. Das Problem liegt - angesichts eines vom Rechtspopulismus wieder geschürten Kulturkampfes und des überall wieder einsetzenden Sparkurses - eher im Risiko, zeitgenössische Architektur in der Öffentlichkeit an heiklen Punkten auch durchzusetzen. Beispiele dafür boten das drastisch zurückgestutzte „Museumsquartier“ von Ortner & Ortner und die per Volksentscheid durchgefallene EXPO in Wien, oder das jahrelang verschleppte Trigon-Museum in Graz, um nur die prominentesten zu nennen.

Die Architektur des späten 20. Jahrhunderts ist in Österreich gewiß weniger von technologischer Innovation geprägt wie andernorts. Dazu fehlt einerseits die historisch gewachsene, breitere Basis einer entsprechend entwickelten Bau- und Großindustrie. Und andererseits herrschen hier partiell besondere restriktive, innovationshemmende Baugesetze und bürokratische Gepflogenheiten. Die Stärke dessen, was hier mit konzeptionellem, geistigem Anspruch über den alltäglichen Trott hinausweist, liegt in der undogmatischen Vielfalt der präzisen baukünstlerischen Antworten auf ganz unterschiedliche Kontexte und in der kreativen Gewitztheit, mit der es immer wieder doch gelingt, die strukturell hier vorhandenen Mankos zu überschreiten und eben damit überregional Beispielhaftes zu leisten. Das Potential erstklassiger Baukunst ist am Ende dieses Jahrhunderts in Österreich wieder so groß und vielgestaltig, wie es in der heroischen „goldenen“ Ära der vorigen Jahrhundertwende in einem größeren Kontext vielleicht war.15 Ich behaupte sogar, daß die Verteilung der Kräfte in den Ländern heute wesentlich gleichmäßiger und brisanter ist als zu Otto Wagners Zeiten. Der damaligen „Wiener Moderne“ steht ein aktuelles Panorama der „Baukunst in Österreich“ gegenüber, das so reichhaltig, vielgestaltig und kontrastvoll anmutet wie die mit Variationen und Brüchen, mit Gegensätzen und Übergängen so dicht ausgestattete österreichische Landschaft selbst.
[ Otto Kapfinger: Das Ende der Bohéme. Österreichische Architekturszenen seit 1975
in: Annette Becker, Dietmar Steiner, Wilfried Wang, (Hrsg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich, (Ausstellungskatalog, Deutsches Architektur - Museum, Frankfurt am Main), Prestel, München - New York 1995, Seite 51-58 ]

Anmerkungen:
1 Österreichische Gesellschaft für Architektur (Hrsg.), Österreichische Architektur 1945-75, Ausstellungskatalog, Wien 1976
2 Den 1. Preis im Wettbewerbsverfahren erhielten Cesar Pelli & Partner, Gruen Associates. Nach einer Überarbeitungsphase wurde dann das ursprünglich an vierter Stelle gereihte Projekt von Johann Staber ausgeführt.
3 Hier sind vor allem zu nennen: Wilhelm Holzbauers Vorarlberger Landhaus in Bregenz (1975-81, mit Guntram Mätzler, Norbert Schweitzer und Manfred Rapf) und Holzbauers Universitätsbau in Salzburg-Freisaal (1982-86, mit Heinz Ekhart, Stefan Hübner, Georg Ladstätter und Heinz Marschalek), Roland Rainers Siedlung Puchenau II (1977-92), Hans Holleins Haas Haus in Wien (1985-90), Josef Lackners Wüstenrot Center in Salzburg (1988-91), Günther Domenigs Landeskrankenhaus Bruck an der Mur (1987-94, mit Peter Zinganel) und Domenigs Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz (1985-95, mit Hermann Eisenköck).
4 Michael Szyszkowitz, Hansjörg Luser (Hrsg.), Wohnbau in der Steiermark 1980-86, Graz 1986; Forum Stadtpark Graz (Hrsg.), 13 Standpunkte. Grazer „Schule“. Architektur-Investitionen, Graz 1986; Haus der Architektur Graz (Hrsg.), Architektur als Engagement. Architektur aus der Steiermark 1986-92, Graz 1993
5 Die kritische Auseinandersetzung mit den theoretischen Ansätzen von Robert Venturi, mit Aldo Rossi und der Tessiner „Tendenza“, mit den „New York Five“ oder den urbanistischen Programmen der Kriers, Ungers etc. geschah freilich vor dem Hintergrund einer seit den frühen siebziger Jahren in Wien latenten Parallelaktion bzw. Vorwegnahme des Postmoderne-Diskurses, der vor allem in den Schriften und kleinen Bauten von Hermann Czech („Nur keine Panik“ 1971, „Zur Abwechslung“ 1978; Kleines Café 1970-74) und Appelt/Kneissl/Prochazka („Schöne Monotonie“ 1973, „Bastard Architektur“ 1975; Kirchliche Mehrzweckhallen in Wien 1976-80) zum Ausdruck kam.
6 Zu Entstehung und Wirkung der „GWV“ siehe: Dietmar Steiner (Hrsg.), Werkstatt Metropole Wien. Lücken in der Stadt, Wien 1987 und Werkstatt Metropole Wien. Die Kultur des Wohnens, Wien 1988.
7 Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 19 (Hrsg.), Wiener Wohnbau Wirklichkeiten, Ausstellungskatalog, Wien 1985. Die Matrize für den Typus der kommunalen Wohnhausanlagen der frühen achtziger Jahre lieferte aber nicht zuletzt der schon 1973 begonnene Josef-Bohmann-Hof von J. G. Gsteu, Karl Mang u.a.: Bauhöhe maximal vier Geschosse, Vielfalt der Typologie und Morphologie durch die Einbindung mehrerer Architekten in ein gemeinsames städtebauliches Konzept, statt den Zeilen und freistehenden Scheiben der Moderne wieder die konventionellen Städtebaumuster von Gasse, Hof und Platz.
8 Otto Kapfinger, Franz E. Kneissl (Hrsg.), Dichte Packung. Architektur aus Wien, Salzburg/Wien 1989. Die umfassende und abschließende Anthologie der sogenannten „little architecture“.
9 Dietmar Steiner (Hrsg.), Das Salzburg-Projekt. Entwurf einer europäischen Stadt. Architektur - Politik - Öffentlichkeit, Wien 1986; Johannes Voggenhuber, Berichte an den Souverän. Salzburg: Der Bürger und seine Stadt, Salzburg/Wien 1988
10 Roman Höllbacher, Ernst M. Klock, Ursula Spannberger (Hrsg.), Architektur Stadt Salzburg, Salzburg 1994
11 Zehra Kuz, Walter M. Chramosta, Kenneth Frampton, Autochthone Architektur in Tirol, Hall in Tirol 1992
12 Berufsvereinigung der bildenen Künstler Vorarlbergs (Hrsg.), Architektur in Vorarlberg seit 1960, Ausstellungskatalog, Bregenz 1993
13 Otto Kapfinger, „Neue Härte. Architektur und Design nach der Postmoderne“, in: Die Presse, Wien 5./6. Nov. 1988
14 Kärntens Haus der Architektur (Hrsg.), Architektur in Kärnten 1980-92, Klagenfurt 1992; Architektur-Raum-Burgenland (Hrsg.), (position)en. Beiträge zur Modernen Architektur im Burgenland, Ausstellungskatalog, Mattersburg 1993
15 Eine entsprechend dialektische Auswahl aus diesem Spektrum traf zuletzt Hans Hollein mit der Zusammenstellung der österreichischen Beiträge zur 5. Internationalen Architekturbiennale Venedig 1991. Siehe dazu: Hans Hollein (Hrsg.), 13 Austrian Positions. Biennale di Venezia 1991, Katalog, Klagenfurt 1991

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