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Weltmann am Meer
Neue Zürcher Zeitung

Bexhill-on-Sea feiert den Architekten Serge Chermayeff

30. Juni 2001 - Ursula Seibold-Bultmann
In Grossbritannien fand die moderne Architektur nur zögernd Aufnahme. Viele ihrer Protagonisten hatten ausländische Wurzeln: Das gilt für Lubetkin, Goldfinger und Coates ebenso wie für Serge Chermayeff (1900-96), dessen Schaffen zurzeit im De La Warr Pavilion, einer Ikone der modernen Baukunst, in Bexhill-on-Sea gewürdigt wird.

In den zwanziger Jahren brachte Serge Chermayeff, damals Berufstänzer und international ausgezeichneter Tango-Champion, in Nachtklubs zwischen London und Buenos Aires den Atem des Publikums zum Stocken. Kaum liess sich da ahnen, dass er innert Kürze dank autodidaktischem Elan zum Architekten mutieren und zusammen mit dem grossen Erich Mendelsohn ein Büro in der britischen Hauptstadt leiten würde. 1930 lernte Mendelsohn den aus Grosny stammenden Chermayeff (1900-96) kennen und gewann ihn für den Plan, gemeinsam mit dem Architekten Hendricus Wijdeveld, dem Maler Amédée Ozenfant sowie anderen humanistisch gesinnten Intellektuellen als Alternative zum Bauhaus eine «Académie Européenne Méditerranée» in Südfrankreich zu gründen. Als die politische Situation und ein Waldbrand auf dem schon erworbenen Grundstück das Projekt 1934 zunichte machten, hatten sich Chermayeff und der im Jahr zuvor aus Berlin emigrierte Mendelsohn bereits auf ihre bis 1936 bestehende Londoner Geschäftspartnerschaft geeinigt.


Weisse Dynamik

Mendelsohns noch in Deutschland ausgeführte Bauten - darunter der Einsteinturm in Potsdam sowie die Schocken-Kaufhäuser in Stuttgart und Chemnitz - wurden damals international bewundert, während Chermayeff 1933/34 erst einen einzigen Bau vorweisen konnte: ein Wohnhaus für einen Biologielehrer in Rugby. Zuvor war er drei Jahre lang Direktor des Modern Art Studio bei der Londoner Innendekorationsfirma Waring and Gillow gewesen und hatte eine Reihe mondäner Interieurs geschaffen, in denen Elemente des Kubismus und des Art déco zielsicher anglifiziert waren. Recht erfolglos blieb demgegenüber sein Versuch, Möbel wie Walter Knolls neuartig konstruierte Sessel aus dem Stuttgarter Bahnhofshotel in England nachbauen zu lassen und unter dem Markennamen «PLAN» zu verkaufen.

Aber das zählte wenig, denn kaum hatten Mendelsohn und Chermayeff ihre Partnerschaft begonnen, gewannen sie gegen 229 Konkurrenten den Wettbewerb für den De La Warr Pavilion in Bexhill. Die deutsche Bedeutung von «Pavillon» entspricht der Funktion dieses Gebäudes nicht: Es ging um ein Kurhaus mit Restaurant, Tanzfläche, Gesellschaftsraum, Lesesaal, Sonnenterrassen, kleiner Konferenzhalle sowie einem Theater mit 1500 Plätzen, wobei der Ausschreibungstext die Wahl einer modernen Formensprache indirekt ermutigte. Promotor des Projekts war der junge Bürgermeister von Bexhill, Earl De La Warr - ein adliger Sozialist, der mit der Kraft zeitgemässen Bauens neuen Atem in das ziegelrote Küstenstädtchen bringen wollte. Mendelsohn und dem hauptsächlich für die Innenausstattung verantwortlichen Chermayeff gelang ein Meisterwerk: In jedem ästhetischen Kontrast steckt hier eine derartige Energie, dass der von feinster Klarheit ebenso wie von wuchtiger Stärke sprechende weisse Bau auf seinem bis ins Letzte funktionalen Grundriss fast zu federn scheint.


Angestrengte Denkmalpflege

Schon lange allerdings kommen kaum noch zahlungskräftige Touristen ins südenglische Bexhill. Stattdessen verschlingt der Pavilion heute jährlich Hunderttausende von Pfund an Betriebs- und Unterhaltskosten, die das ohnehin knappe Budget der Bezirksverwaltung als seiner Eigentümerin schwer belasten. Die 1991 begonnene, von verschiedensten Stellen mitfinanzierte und vom Londoner Architekturbüro John McAslan & Partners durchgeführte Gesamtrenovation geht denn auch nur zäh voran. Nachdem im vergangenen Jahr eine Übergabe des streng geschützten Baudenkmals an die Pub-Kette «Wetherspoon» in letzter Minute abgewendet worden ist, soll seine Rolle als regionales Kultur- und Veranstaltungszentrum nun endgültig gesichert und weiterentwickelt werden. Zurzeit sieht ein noch hängiger Antrag auf rund fünf Millionen Pfund Lotteriegelder zwei räumlich abgetrennte Erweiterungsbauten westlich des Pavilions sowie Änderungen in seinem Innern vor, über die weder vom Bauherrn noch von den Architekten Näheres zu erfahren war.

Kaum wird der Besucher auf den ersten Blick erkennen, was bei der bisherigen Restaurierung schon alles geleistet worden ist. Alte Schäden und Verunstaltungen entlang der stadtseitigen Fassade und im Volumen des dortigen Treppenhauses, notdürftige sekundäre Einbauten anstelle des ursprünglich zum Meer hin offenen Sonnenraums im ersten Stock sowie das hinter Fenstern gestaute Gerümpel zeugen deutlich von der Überforderung der Betreiber. Doch ist inzwischen das Stahlskelett des Baus von Korrosion befreit und das halbzylindrische südliche Treppenhaus mit seiner majestätisch geschwungenen Treppe einschliesslich des zentralen Beleuchtungskörpers wiederhergestellt, die langgestreckten seeseitigen Balkone sind statisch gesichert, Gesellschaftsraum und Lesesaal im ersten Stock konnten nach der Entfernung grober Entstellungen zu einem der ursprünglichen Gestalt angenäherten Café gemacht werden, und das Theater ist trotz sichtbaren Abstrichen fertig renoviert.


Ausstellung als Hoffnungszeichen

Die Chermayeff-Ausstellung, die in der von McAslan zur Kunstgalerie verwandelten ehemaligen Konferenzhalle gezeigt wird und die zuvor schon in Kettle's Yard - dem Museum für moderne Kunst der Universität Cambridge - zu sehen war, setzt ein weiteres Hoffnungszeichen. Der Architekturhistoriker Alan Powers, der sie kuratiert und die begleitende Monographie verfasst hat, konnte auf reichliche Materialien insbesondere aus dem Besitz von Chermayeffs Familie zurückgreifen. Kombiniert sind diese mit zwei neuen Modellen, vor allem aber mit zeitgenössischen Publikationen sowie mit Text- und Bildtafeln, die Leben und Werk des weltmännischen, sozialkritisch und früh auch schon ökologisch denkenden Architekten in sorgsam detaillierter Weise dokumentieren. Beim Besucher setzt das einiges Wissen über die grösseren Zusammenhänge voraus - und zwar nicht nur im Hinblick auf die europäische Moderne, sondern auch auf die akademische Szene in den USA, wohin Chermayeff 1940 emigrierte und wo er unter anderem am Chicago Institute of Design, in Harvard und in Yale Architektur und Stadtplanung lehrte.

In seinem Buch «Community and Privacy» (1963, Co-Autor: Christopher Alexander) zitiert Chermayeff Le Corbusier: «Architektur ist Organisation. Als Architekt ist man Organisator, nicht Künstler am Zeichenbrett.» Obwohl er durchaus in der Lage war, schön zu bauen - mit seinem aus Holz errichteten Landhaus Bentley Wood in Sussex (1936-38) hat er das auf sachliche Art bewiesen -, liegt Chermayeffs eigentliche Bedeutung in seiner Rolle als scharfer Analytiker unterschiedlichster Probleme. Seine Pläne für einstöckige Wohnhäuser etwa, in denen schleusenartige Räume und Patios die Aktivitätssphären der Familienangehörigen gegeneinander abpuffern, dürften gestressten Eltern noch heute wie das Licht am Ende des Tunnels vorkommen. Und seine urbanistischen Vorschläge zu hierarchischer Gliederung von Baugruppen nach Funktionen sowie zur Balance zwischen öffentlichen und privaten Bereichen bei hoher Besiedlungsdichte müssen schon deshalb interessieren, weil zu seinen Studenten in Yale Richard Rogers und Norman Foster zählten: Architekten, die heute dabei sind, eine Stadt wie London zu organisieren.


[Bis 15. Juli. Begleitpublikation: Alan Powers: Serge Chermayeff. Designer, Architect, Teacher. RIBA Publications, London 2001. 298 S., £ 24.95 (ISBN: 1 85946 075 5). ]

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