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Spectrum

Ist die Architekturkultur einmal zerstört, kann es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis sich ein entsprechender soziokultureller Organismus regeneriert hat. In der Tschechischen Republik regen sich nach der Stagnation der Plattenbauzeit aus uralten Wurzeln neue Triebe

4. August 2001 - Walter Zschokke
Europa ist von Staatsgrenzen durchzogen, das lernt jedes Kind anhand jener Karten, auf denen die Länder mittels vier Farben unterschieden sind. Diese Grenzen halten sich oft an Flüsse, Gebirgszüge und so weiter - im naiven Glauben, daß natürliche Hindernisse die benachbarten Siedlungsräume von jeher teilen würden. Daß das willkürliche Annahmen sind, beweist die Kulturgeschichte: Waren doch Flußräume - weil die Gewässer als Verkehrsadern dienten - viel verbindender, als man heute gemeinhin glaubt, vor allem, wenn allein nationalistische Ideologien aus dem 19. und 20. Jahrhundert die Köpfe anfüllen. So ist beispielsweise der Donauraum ein uralter Kulturraum. Über viele Stationen verband er Wien mit Byzanz - eine nicht zu unterschätzende Beziehung.

Es gibt allerdings Grenzen, die oft keine vermeintlich natürlichen Markierungen in der Landschaft aufweisen, es sind dies die Sprachgrenzen, die Europa durchziehen. Wir finden eine westeuropäische Sprachgrenze zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die südeuropäische zum italienischsprachigen, eine südwesteuropäische, eine nordwesteuropäische, eine nordeuropäische Sprachgrenze und selbstverständlich eine osteuropäische Sprachgrenze zum Slawisch sprechenden Kulturraum, wobei die finnougrische Sprachgruppe die Komplexität noch etwas erhöht, denn wenn's einfach wäre, wär' es ja leicht.

Europäer sein war noch nie leicht, denn es hieß eigentlich schon immer, mehrere Sprachen zu verstehen und zu sprechen. Nach dem Latein galt zwar das Französische lange als Lingua franca, heute ist es ein angloamerikanisches Basic. Dennoch galt und gilt es, drei, vier Sprachen zu beherrschen, will man sich in den verschiedenen Kulturräumen ausreichend geländegängig bewegen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt nun eine fünfte, slawische, dazu. Bei einigen dauert es einfach länger, bis sie begriffen haben.

So, und jetzt kommen wir zur Architektur. Da Architektur ohne Sprachkenntnisse verstehbar ist, hält sie sich nicht an Sprachgrenzen und schon gar nicht an Staatsgrenzen. Der jüngste Träger des Pritzker-Preises, den er zusammen mit seinem Partner Pierre de Meuron verliehen erhielt, der Basler Jacques Herzog, hat diese Ehre und die damit verbundene Publizität nicht für sich genützt, sondern um mit europäischem Denken die Chancen zu betonen, die in einer nach beiden Richtungen offenen europäischen Sprachgrenze liegen.

Er, der aus dem Kleinbasel stammt und darauf stolz ist, in dessen Namen aber bereits die beiden dort benachbarten Sprachen aufscheinen, hat sich im Zuge eines längeren Gesprächs mit dem renommierten Journalisten Frank A. Meyer im Fernsehen zur besten Sendezeit vehement dafür eingesetzt, aktiv und positiv mit der Lage Basels am Dreiländereck umzugehen und einer kulturpolitischen Vision Tore zu öffnen. Nebenbei gesagt, im westlichen Deutschland sprechen erstaunlich viele Angehörige der gebildeten Schichten ziemlich gut Französisch. An der westeuropäischen Sprachgrenze ist also einiges los, man will geländegängig werden, selbst wenn es nur ums gute Essen und um den guten Wein geht.

Von der südeuropäischen Sprachgrenze hört man, daß im Kanton Uri, aus dem bis vor knapp über 200 Jahren bloß die Vögte ins Italienisch sprechende „Untertanenland“ Tessin entsandt wurden, seit bald zehn Jahren in der Volksschule alle Kinder Italienisch lernen - als erste Fremdsprache. Und haben Sie kürzlich mit jemandem in Mailand telephoniert und Ihr Touristenitalienisch gestottert, wurden aber in perfektem Englisch auf eine allgemeine Sprachebene gebeten?
Keine hundert Kilometer nördlich und östlich von Wien verläuft die osteuropäische Sprachgrenze, man könnte fast sagen, sie macht einen Bogen um Wien. Zwar wird auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen immer von Wien als Drehscheibe zum Osten geschrieben, aber wie hält man's mit der Architekturkultur? Ja, das „Architektur Zentrum“ machte eine Reise nach Brno/Brünn zur Moderne der dreißiger Jahre. Und „ORTE - architekturnetzwerk niederösterreich“ organisiert mit dem unermüdlichen Ján Tábor mehrtägige Touren unter dem Titel „Bauen an der Grenze“ - für zwei Dutzend Teilnehmer. Äußerst spannend und wichtig.

Aber kennen wir die aktuelle Architekturszene in Prag, Liberec oder Usti nad Labem? Man kennt vielleicht alte Namen aus den dreißiger Jahren, aber wie heißen die jungen, zeitgenössischen Architekten? Und überhaupt, haben die dort schon so etwas wie Architektur, da war doch bis vor kurzem noch Kommunismus, woher sollen die das können? Und das alte Prag ist doch so schön, was soll dort zeitgenössische Architektur?

Eine kürzlich erschienene Publikation mit dem Titel „Ceská architektura 1999/2000“ beantwortet diese Fragen und macht neugierig, mehr und anders zu fragen, wenn die Sprache nicht ein Hindernis bildet. 32 kürzlich vollendete Bauwerke werden vorgestellt, die, mit großem Engagement entworfen und errichtet, an die Tradition der tschechischen Architektur „vor München“ anknüpfen. Das Ministerium für Industrie und Handel sowie die Tschechische Architektenkammer und freundlicherweise einige Sponsoren aus der Bauwirtschaft haben gefördert. Als Herausgeberin zeichnet eine Nonprofit-Organisation namens „Prostor“ in Prag. Präsident Václav Havel schrieb ein kurzes Vorwort, einen längeren einführenden Text verfaßte der Architekt und Architekturhistoriker Petr Pelcák aus Brno/Brünn. Das Buch ist in Tschechisch und Englisch gehalten, die Graphik angenehm unaufgeregt und verständlich: vorab ein Steckbrief mit Adresse, Architekten, Mitarbeitern, Bauherrschaft, Baufirma, Baudaten. Dann ein erläuternder Text, Lageplan, Grundrisse, Schnitte und sorgfältige Aufnahmen verschiedener Photographen, den Plänen sinnvoll zugeordnet, sodaß Leserinnen und Leser sich die Bauten vergegenwärtigen können, ohne sie schon gesehen zu haben.

Pelcák verschweigt nicht, daß es die Architektur und ihre Entwerfer nicht leicht haben. Er erläutert vor allem die innertschechischen Faktoren, die lange Stagnation unter dem Kommunismus, die wirtschaftliche Lage, die eigenartige Rolle einer verspäteten Postmoderne, die fälschlicherweise als Befreiung von der trostlosen Kasernenmentalität und der Plattenbautenzeit gesehen wurde.

H eute orientiert sich das Bemühen der Architekten an einer internationalen Moderne, die ihre Wurzeln nicht zuletzt in den Bauten der dreißiger Jahre der damaligen Tschechoslowakei findet, denn während im übrigen Europa dieser Zeit die Baukrise oder politischer Totalitarismus eine Weiterentwicklung verhinderten, konnte sich die Moderne in der Tschechoslowakei breit entfalten.

Man wird daher in dem Buch weniger dekonstruktivistische Bauwerke finden als klare, oft spannungsvoll gegliederte Baukörper, die in fortgeschritten industrialisierter Bauweise errichtet sind. Fast entsteht der Eindruck, daß lange unterdrückte Träume endlich gebaut werden können.

Ein erstes Beispiel ist das Mehrzweck-Bauwerk beim Prager Kongreßzentrum. Die Architekten Václav Alda, Petr Dvorák, Martin Nemec, Ján Stempel aus Prag sind seit einigen Jahren die Shooting-Stars der Szene. Das Kürzel A.D.N.S. wird man schon irgendwo gelesen haben - eines ihrer ersten Bauwerke wurde an dieser Stelle im Mai 1996 besprochen. Heute enthält die Auswahl allein von ihnen drei Bauten. Sie beherrschen die großen Dimensionen und den städtebaulichen Maßstab. Interessante Baukörpergliederungen, Durchblicke und sorgfältige Detaillierung werten die von hart rechnenden Investoren errichteten Bauten auf. Etwas weniger eng wird es für sie beim neuen Studiogebäude für das tschechische Radio abgelaufen sein, großzügige Vertikalräume und Galerien, glatte Oberflächen, edle Materialien, einige freche Farbtupfer. Die kennen sich aus.

Aber auch die Forschungsbibliothek in Liberec von Radim Kousal ist keineswegs klein. Über einem dreigeschoßigen Sockelkörper, der im hinteren Teil fünf niedrigere Geschoße mit Magazinen enthält, erhebt sich der riesige, verglaste Lesesaal mit Freihandbibliothek auf drei Ebenen unter dem nach vorn mit Schwung heruntergezogenen Dach. Im Inneren sprüht die Gestaltung vor Lebensfreude, ohne jedoch zu überborden.

Zwei kleinere Bauwerke, die Tennishalle in Litomysl und das Bürohaus in Brno, kennen „Spectrum“-Leser schon, nicht aber ein Haus mit Geschoßwohnungen in Staré Mesto. Wohnbau ist nach den riesigen Plattenbauten - „Panelák“ genannt - ein sensibles Thema, aber Kapital steht nicht im Überfluß zur Verfügung. Die Architekten Ales Burian und Gustav Krivinka aus Brno/Brünn gaben dem Haus zur Straße eine klare, sorgsam proportionierte und ausgewogene Fassade, die, leicht bombiert, auf deren Verlauf reagiert.

D ie Grundrisse der kleinen Wohnungen an den Laubengängen nützen intelligent die knappen Flächen, außen verleiht die braunrote Farbe den Rückseiten mediterranes Flair. - Einfamilienhäuser und Villen sind ebenfalls vertreten, manch eine edel und gediegen, wie die Botschaftsresidenz in Budapest. Andere, etwa das Haus für ein Ehepaar mit Großmutter in Usti nad Labem von Ján Jehlík, wirken fast manifestartig lapidar gegliedert und immer irgendwie fröhlich.
Insgesamt schaut es eindeutig nach Aufbruch aus im nördlichen Nachbarland, wobei es nicht nur der ideologische Druck war, der ja vor zehn Jahren wegfiel, sondern die ökonomischen Bedingungen, die sich nur langsam bessern, weshalb die privaten Auftraggeber als wichtige Förderer engagierter Architektur noch rar sind.

Man sollte in den östlichen Nachbarländern nicht bloß die ehemaligen Gebiete der Donaumonarchie sehen, sondern sie als Teil des riesigen Slawisch sprechenden Kulturraums verstehen, dessen vielfältige Verschränkungen mit dem deutschsprachigen erst aufscheinen, wenn man Zugang zu einer slawischen Sprache gefunden hat. Ein erster Zugang mag über die Architektur gelingen, die von ihrem Charakter her „vorsprachlich“ ist.

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