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Tickt Basel anders?
Neue Zürcher Zeitung

Phänomen der Zwischennutzung von Industriearealen

3. August 2001 - Sascha Roesler
Die Zwischennutzung ehemaliger Industrieareale ist heute in der Schweiz ein verbreitetes Phänomen. Normalerweise wird es als ein befristetes Bewirtschaften brachliegender Räume aufgefasst. Inwiefern könnte es aber ein Mittel zur Stadtentwicklung werden? Ein Zwischennutzungsprojekt in Basel stellt diese Frage zur Diskussion.

Wenn heute allenthalben von Partizipation und Mitbestimmung der Öffentlichkeit an politischen Entscheidungsprozessen die Rede ist, so muss das seine tieferliegenden Gründe haben. Auf dem Internet präsentieren Städte und Gemeinden die neusten Konzepte und Ergebnisse solcher Bürgerbeteiligung. E-Democracy und Online-Democracy sind Schlagworte gegenwärtiger Versuche, Stimmen und Meinungen der Bürger direkt in den demokratischen Prozess der Lösungsfindung einzuspeisen. In der Stadt Basel lässt sich momentan beobachten, was es insbesondere für Planungsprozesse heissen könnte, wenn städtebauliche Entwicklungen den Bewohnern nichtnachträglich schmackhaft gemacht werden, sondern gleichsam unter deren Einfluss geraten.


Öffentlichkeit in Planungsprozessen

Seit rund vier Jahren wird dank anhaltenden Diskussionen ein Areal ins Bewusstsein der Basler zurückgeführt, das auf Grund seiner spezifischen Nutzung während Jahrzehnten nicht zu existieren schien. Die Rede ist vom 18 Hektaren grossen ehemaligen Güterumschlagsplatz der Deutschen Bahn, kurz DB-Areal genannt. Obwohl noch im Innenstadtbereich gelegen - das DB-Areal bildet den nordöstlichen Abschluss des unteren Kleinbasel -, ist das Gelände weiten Kreisen unbekannt, da es als Bahnareal und Zollabfertigungszone während Jahrzehnten nicht öffentlich zugänglich war. Als die Deutsche Bahn Mitte der neunziger Jahre die Aufhebung des Güterumschlags in Basel bekanntgab, sahen sich die Basler Behörden mit der Möglichkeit konfrontiert, einen ganzen Stadtteil vollumfänglich neu zu entwickeln. Die Planungsbehörde des Kantons Basel-Stadt spricht denn auch vom DB- Areal als «einem der letzten grösseren Entwicklungsgebiete» der Stadt. Im Jahr 1996 initiierte deshalb der Kanton Basel-Stadt zusammen mit der Grundeigentümerin, der Deutschen Bahn, einen planerisch-städtebaulichen Ideenwettbewerb, der erste Aufschlüsse über das «städtebauliche Potenzial» des Areals bringen sollte. Im Sinne einer «Mischnutzung» wurden von den Wettbewerbsteilnehmern Projekte erwartet, die neben 20 Prozent öffentlichen Grün- und Freiflächen zu gleichen Teilen Wohnen, Arbeiten und Infrastrukturbauten bieten. Ein Lebensraum für rund 2000 Personen sollte skizziert werden.

Sehr früh unterstrichen Basler Politiker aber auch die Bedeutung der «Bedürfnisse und Ideen der Basler Bevölkerung» bei der Gestaltung des neuen Stadtteils. Solche Verlautbarungen sind insofern nicht ganz selbstverständlich, als gerade die schweizerische Planungspraxis durch das Selbstverständnis der Planer als unparteiische Spezialisten bzw. durch die schiere Macht des Grundeigentums geprägt ist. Unter solchen Voraussetzungen stellt sich die Frage, welche Rolleder Öffentlichkeit in Planungsprozessen zukommen kann: Besteht sie aus lauter «Laien», die über eine komplexe Materie unterrichtet werden müssen? Ist sie einfach der «Souverän», der über die erarbeiteten Konzepte der Fachleute abstimmt und diese Konzepte allenfalls zu Fall bringt? Oder stellt sie den Kreis der «Betroffenen» dar, denen man deshalb Mitbestimmung zugestehen muss, weil sie später mit den realisierten Planungsobjekten zu leben haben? Erfahrungsgemäss werden mit «Öffentlichkeit» Minderheiten mit einflussreicher Stellung in Politik und Gesellschaft angesprochen, die einer Planung zumDurchbruch verhelfen bzw. deren Durchsetzbarkeit nachhaltig gefährden könnten.

Mitwirkungsverfahren, in denen die vom Planungsvorhaben betroffene Bevölkerung eingebunden wird, sind für die Planungsbehörden nicht nur viel schwieriger zu koordinieren, sie sind in der Praxis schlicht nicht eingeübt - gerade dann, wenn eine öffentliche Debatte nicht nur der Durchsetzung, sondern auch der Generierung von Planungsideen dienen soll. Auf die Vorteile eines auf Mitwirkung abzielenden Planungsverfahrens hat der Basler Soziologe Lucius Burckhardt bereits vor einigen Jahrzehnten hingewiesen: «Nureine ständige Diskussion mit den Betroffenen verhindert, dass unerwünschte Wirkungen und ungeliebte Ziele erreicht werden.» Gefahren, die gerade bei grösseren Planungsvorhaben wie dem DB-Areal nicht von der Hand zu weisen sind.

Als aussergewöhnlich für Basel beurteilt denn auch die kantonale Planungsbehörde ihr Vorgehen im Anschluss an die erste Wettbewerbsstufe. Mittels einer Veranstaltungsreihe wurde versucht, den Istzustand des DB-Areals und die dazu erarbeiteten Planungskonzepte der Bevölkerung vorzustellen: Führungen boten Gelegenheit,das DB-Areal kennenzulernen. Es wurden Workshops abgehalten, in denen für Anwohner und Gewerbetreibende die Möglichkeit bestand, mit Planern und Vertretern der Deutschen Bahn ins Gespräch zu kommen. Dabei wurde auch erstmals über mögliche Formen der Um- und Zwischennutzung des bestehenden Areals diskutiert.Der Gedanke, auf dem DB-Areal Zwischennutzungen anzustreben, war insofern sehr naheliegend, als bei einem so komplexen Planungsvorhaben mit Realisierungszeiten von bis zu 20 Jahren gerechnet werden muss. Es entsprach denn auch den Interessen der Basler Planungsbehörde, dass im Sommer 1999 erstmals präzisere Vorstellungen zu einer Zwischennutzung von privater Seite geäussert wurden. Anhaltende rechtliche und planerische Unstimmigkeiten zwischen dem Kanton Basel-Stadt und der Deutschen Bahn hatten den Fortgang des Wettbewerbsverfahrens blockiert und drohten auch das öffentliche Interesse am DB-Areal schwinden zu lassen.


Zwischennutzung und Stadtentwicklung

Ein Stadtplaner und ein Geograph, Philippe Cabane und Matthias Bürgin, publizierten auf dem Internet eine Studie, die bereits im Titel programmatisch vertritt, was sie im Kontext des DB- Areals sein könnte: «Akupunktur für Basel». Die Vorschläge sind insofern ungewöhnlich, als sie Zwischennutzung als «ein Mittel zur Regulierung von Stadtentwicklung» begriffen haben wollen. Die an sich weit verbreitete Praxis der Um- und Zwischennutzung von ehemaligen Industriearealen erhält eine markante Umdeutung: Wird unter Zwischennutzung gemeinhin ein «befristetes und weitgehend zweckfreies Bewirtschaften brachliegender Räume» verstanden, so soll sie auf dem DB-Areal «gleichzeitig und zusätzlich auch als Strategie zur Stadt(teil)entwicklung zum Einsatz kommen». Zwischennutzung so verstanden wäre also nicht mehr nur eine temporäre Angelegenheit, sondern gleichsam die Initialzündung für das neue Quartier auf dem DB-Areal. Die beiden Autoren nennen einige plausible Gründe, die dafür sprechen, dem Phänomen der Zwischennutzung auch aus städteplanerischer Sicht Beachtungzu schenken - vor allem dann, wenn die Bedürfnisse und Ideen der betroffenen Bevölkerung ernst genommen werden sollen.

Neue Stadtteile - und somit auch das zukünftige Quartier auf dem DB-Areal - leiden durchwegs unter dem «Problem des Anfangs». Sie ringen umso mehr um eine Geschichte, je mehr ihnen gewachsene Quartierstrukturen fehlen. Um solche aber möglichst früh entstehen zu lassen, reicht es nicht aus, die Stadt mit typologischen, regionalistischen oder historischen Anleihen weiterzubauen. Die beiden Autoren der Studie meinen daher, es brauche «verortete Geschichtlichkeit. Zwischennutzung kann dies herstellen, sie kann Spuren hinterlassen - oder vorausschicken. Sie kann ein Terrain vorbereiten, sie ist Garant für eine lebendige Kontinuität. Eine neue Überbauung braucht so nicht bei null anzufangen. Dieurbane Geschichte eines Ortes muss frühzeitig beginnen, nicht mit dem ersten Spatenstich.»


Von Archigram lernen

Die öffentliche Debatte rund um das DB-Areal hat schon früh den Wunsch nach ausgedehnten Grünanlagen im zukünftigen Quartier aufgezeigt. Das Planungsamt hat ihm Rechnung getragen, indem sie nunmehr einen Grün- und Freiflächenanteil von rund 45 anstelle der ursprünglich veranschlagten 20 Prozent für den weiteren Planungsverlauf festgeschrieben hat. Die Zwischennutzung bietet Gelegenheit, diese Form der Bedürfniseruierung im Hinblick auf den weiteren Planungsprozess kontinuierlich voranzutreiben. Im Anschluss an die heutzutage viel diskutierten Ideen der britischen Architektengruppe Archigram empfehlen die beiden Autoren, «städtischeEntwicklung» vermehrt über Aktivitäten der Bevölkerung einzuleiten bzw. an den bereits vorhandenen Aktivitäten zu messen. Darum wird auch nahegelegt, für das DB-Areal nicht nur bauliche Massnahmen, sondern auch «Aktivitäten zu planen», die im Sinne einer Zwischennutzung sofort entfaltet werden können: «Stadtplanung ist in der Schweiz weitgehend formelle Planung. Damit ist sie eigentümerorientiert und hat wenig Einfluss auf Alltagsqualitäten und Gebrauchswert. Nimmt man die Bedürfnisse der Bevölkerung ernst, bedarf es informeller Verfahren, was nichts anderes heisst als: Man plane Aktivitäten, dann kommen die erforderlichen Nutzungen von selbst.» - Viele Bedürfnisse der umliegenden Quartiere lassen sich dank Zwischennutzung mit einfachen organisatorischen Mitteln sofort erfüllen und bedürfen nicht der mehrjährigen Vorbereitungszeit, die ein herkömmlicher Planungsprozess oftmals mit sich bringt. Voraussetzung für die tatsächliche Wirksamkeit all dieser Vorschläge ist neben dem Goodwill der Eigentümer die Bereitschaft der kantonalen Behörden, entsprechend grosszügig die nötigen Bewilligungen auszusprechen.


Öffentlichkeit schaffen

Nach zähem Ringen mit dem kantonalen Polizeidepartement wurden im vergangenen Sommerdie ersten Bewilligungen für eine temporäre Bewirtschaftung des DB-Areals erteilt. Ganz unterschiedliche Leute beteiligen sich am «nt/areal»genannten Zwischennutzungsprojekt. In der ehemaligen Kantine des Bahngeländes sorgt inzwischen das Restaurant Erlkönig dafür, dass dasbrachliegende DB-Areal kontinuierlich ein Publikum findet. Das gediegen ausstaffierte Restaurant zieht vor allem Leute über dreissig an. Im selben Gebäude untergebracht ist die Lounge, in deren Veranstaltungskalender neben Partys und Konzerten auch Filmveranstaltungen und Diskussionsforen zu finden sind - etwa zu den Themenkreisen Stadt und öffentlicher Raum. Vor dereinstigen Kantine erstreckt sich das weite Geleisefeld. Ein Weg soll fortan die beiden QuartiereMatthäus und Rosenthal mit dem Naherholungsgebiet der Langen Erlen verbinden, das bisher nur auf Umwegen erreichbar war. Gleich neben der Kantine befindet sich das ehemalige Wagenmeistergebäude. In diesem «Labor» sollen in Zukunft die verschiedenartigen Aktivitäten auf dem Areal koordiniert und neue angezettelt werden.

Was unterscheidet nun die Aktivitäten auf dem DB-Areal von anderen Zwischennutzungen ehemaliger Industrieareale? Und was hat das momentane Angebot auf dem DB-Areal mit den theoretischen Positionen der Studie zu tun? Ein wenig Musik, Kunst und Kommerz, das Übliche halt - könnte aus kulturgesättigter Sicht kritisiert werden. Doch zunächst sollte man zuwarten, wie sich das durchaus städtische Selbstbewusstsein der «nt»-Leute auf die weitere Planungsdiskussion in Basel auswirkt. Tatsache ist, dass sich aufdem DB-Areal eine Art von Öffentlichkeit formiert, die aus dem weiteren arealbezogenen Planungsprozess nunmehr schwer wegzudenken ist.Und das ist schon ein gar nicht so kleiner Unterschied.


[Die oben angesprochene Studie, das laufende Programm sowie die Hintergründe des Zwischennutzungsprojektes auf dem DB-Areal sind im Internet unter www.areal.org auffindbar.]


[Wettbewerb DB-Areal

lwi. Als 1913 der Badische Bahnhof in Basel eingeweiht wurde, gab es das Grossherzogtum Baden noch, und der Bahnhof hatte einen Fürstenbau. Er liegt heute am westlichen Ende der schönen Jugendstilanlage und öffnet sich mit einem Cour d'honneur zur Stadt. Davor verläuft die Schwarzwald-Allee und darunter der Autobahntunnel, der Deutschland mit der Schweiz und Italien verbindet. Das zum Bahnhof gehörende, 18 Hektaren grosse Areal wurde während 150 Jahren von der Eisenbahn aus Deutschland genutzt. Es hat eine kuriose Rechtslage, da das Grundstück in der Schweiz liegt, aber auf Grund eines Staatsvertrages zwischen dem Grossherzogtum Baden und dem Kanton Basel-Stadt vondeutscher Seite gebraucht wird. Für dieses grösste innerstädtische Grundstück der Schweiz wurde 1996 ein Wettbewerb ausgeschrieben, den der aus der Ostschweiz stammende Wahlberliner Max Dudler für sich entscheiden konnte. Der Wettbewerb geht nun in die zweite Runde. Eingeladen sind alle neunzehn Preisträger von 1997. Die Jury ist noch nicht fest bestallt, aber es werden ihr der Kantonsbaumeister Fritz Schumacher und sein Vorgänger Carl Fingerhuth sowie - beratend - der Stadtgeograph Matthias Bürgin angehören. Ende Oktober sollen die Wettbewerbsvorbereitungen abgeschlossen sein, und Anfang 2002 soll die Entscheidung folgen.]

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