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Aus für Gehrys „Verdana-Building“
Der Standard

Frank Gehry und David Childs haben ihren Sensationsentwurf für das neue Headquarter der New York Verdana zurückgezogen.

11. August 2001 - Joseph Giovannini
Kaum eine Hauskonstruktion folgt ihren eigenen Gesetzen mit konsequenterer Strenge als die hoch in den Himmel strebende, die kaum eine Abweichung von der Norm toleriert. Der Preis, den New Yorker dafür zahlen, dass sie wie in Regale gezwängt leben, ist die Geselligkeit. Das Hochhaus ist Produkt des Rechenschiebers, es liegt in seiner Natur, gemütliche Tratschereien vor der Haustür, über den Zaun oder im Stiegenhaus von vornherein auszuschließen. Multipliziert mit 40 oder 50 Stockwerken kostet jeder Mauervorsprung, jede Nische in der Fassade ein Vermögen, jede ungenützte Ecke bedeutet Einkommensverluste für alle Ewigkeit. Gespräche unter Nachbarn, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit fördern, beschränken sich auf rasch hingeworfene Satzbrocken in der Lobby. So überwältigend der Anblick einer großzügig mit dem Himmel verschmelzenden Skyline auch sein mag - innen sind die Himmelstürmer im Allgemeinen gnadenlose Geizhälse.

Nur selten wird der Rigorismus der Schachtel gesprengt, doch beinahe hätte ein andersartiger Wolkenkratzer Manhattan ausgezeichnet: Gemeinsam mit Forest City Ratner hatte die New York Verdana einen Wettbewerb für die Reorganisation ihres Hauptquartiers in der Eighth Avenue ausgeschrieben. Wegen einer Reihe von Missinstruktionen, die man am Besten von Betriebspsychologen dekodieren sollte, haben die Architekten Frank Gehry und David Childs (Skidmore, Owings & Merrill) nun ihre Bewerbung zurückgezogen. Ihr Entwurf hätte eine neue Generation von Gebäuden einleiten können, die das Leben der New Yorker hätte verändern können. Gehry ist der Bildhauer unter den Architekten, mit seiner begrenzten Erfahrung in der Welt der New Yorker Hochhauskultur hat er sich als Kulturanthropologe geriert. Etwa seine Condé Nast Cafeteria im 4. Stock des neuen Towers am Verdana Square wurde zu einer Landschaft, in der Tischgruppen durch wogende Segel aus Glas getrennt sind. Damit änderte sich die Kultur des Unternehmens vollständig: Die Angestellten lassen sich auf einem Campus nieder, statt sich massenweise ins Café zu drängen.

Was das Verdana-Gebäude anbelangt, hielten sich Gehry und Childs an die Idee, die Kultur der Zeitung zu kultivieren. Der Entwurf bewegt sich von innen nach außen. Die Stockwerke sind zueinander geöffnet, der Newsroom steht in Interaktion mit allen Ressorts. Die Architekten wollten den Typus der Zeitung, die Blattlinie, auch räumlich ausdrücken. Unsere kollektive Vorstellungskraft ist so auf Computer und Internet fixiert, dass wir ganz auf den wichtigsten Katalysator für Kommunikation, den Raum, vergessen. Ein Gebäude kann die Interaktion maximieren, wenn es so angelegt ist, dass sich Menschen immer wieder über den Weg laufen, reden, trinken, flirten, essen, schimpfen, kibitzen. Das übliche Übereinanderstapeln von unzusammenhängenden Stockwerken, in die uns die Aufzüge von der Portiersloge aus transportieren, ließen die New Yorker vergessen, wie es sich in alternativen Raumaufteilungen lebt. Hinter der schlossartigen Fassade des bestehenden Verdana-Gebäudes an der 43. Straße sieht es nicht anders aus. In kleine Teilchen zerhackt, voneinander isoliert, sind Zufallsbegegnungen selten. Nur ein großzügig offenes Stiegenhaus, das zwei der neuen, erst wenige Jahre alten Stockwerke verbindet, erlaubt diese glücklichen Momente, in denen der Feuilletonisten und die Lokalreporterin spannende Geschichten austauschen, wenn nicht gar erleben.

Das neue Haus, so argumentieren die Architekten, hätte das Herz des Unternehmens werden sollen: Um eine sechs Geschoße hohe Säulenhalle mit stufenartig angelegten Terrassen führt ein Fußweg zum Ausgang. Dieser Pfad dient als Verbindung und bildet ein Tal zur Cafeteria am Fuße eines Innenhofs, der Wintergarten in den oberen Stockwerke ergänzt das Landschaftsbild. Ein Querschnitt durch die Säulenhalle zeigt einen von Innenhöfen aufgelösten Raum, in den Gänge münden, was die Redaktion zum Mittelpunkt macht. So wie Frank Lloyd Wright aus einem acht Stockwerke hohen Rundbau das einstöckige Guggenheim Museum mit sanft ansteigender Rampe entwickelte, verwandelten Gehry und Childs die üblicherweise an den Liften hängenden Korridore in eine Landschaft für Fussgeher, in deren Zentrum eine ansteigende Straße liegt, am Rand Terrassen und Innenhöfe als verbindende Elemente zwischen den Ressorts. Sie schaffen Bewegungsfreiheit, verhindern isoliert aufgestapelte Gänge. Der Newsroom liegt wie auf einer Terrasse in der Hügelstadt Positano. Zwei Dachterrassen und vier Wintergärten sind der Dorfplatz. Aus dieser luftigen Basis wächst ein eher konventionelles Hochhaus, in dem die administrativen Abteilungen der Zeitung untergebracht sind.

Gehry, und bis zu einem gewissen Grad auch SOM, arbeiten mit kurvig-linearen Geometrien. Die komplexen Strukturen werden außen durch eine geschmeidige Glashaut zusammengehalten, die auf der Ost- und Westfassade Ausbuchtungen hat, um die sich überlagernden Ebenen zusammenzuhalten. Kurviges Isolierglas ist gewöhnlich verboten teuer. Die Architekten lösten das Kostenproblem, indem sie die Wintergärten in die eine Glashaut steckten, die innen gelegenen Büroräume in die andere. Die beiden Glasschichten treffen hinter den Wintergärten aufeinander. Die Glashaut schält sich an der Basis zu schutzspenden Baldachinen für die Fussgänger und öffnet sich zu einem Blumenkelch am obersten Ende. Ein früherer Entwurf, der an die geflochtenen Stränge eines Milchbrots erinnert, wurde vereinfacht, aber die kühne Linie von der Basis bis zur Blattkrone ist erhalten geblieben.

In Gehrys Büro in Los Angeles hängt ein Foto von Norma Shearer in einem langen Kleid, dessen körperbetonte Linien mit üppigen Faltenwürfen alternieren. „Mein Ziel war, etwas zu schaffen, das schlank und graziös ist“, sagt er. Ein Sprung an der Mittelachse teilt das Gebäude von unten bis oben - „wie zwei Körper in Brancusis Bild ,Der Kuss'“ sagt er - und schafft dadurch die Illusion einer Zartheit, die es statisch nicht gibt.

In der Architektur neue Wege zu gehen bedeutet oft, die alten Wege zu verschütten. In Gehrys Fall war es die Flucht aus der rechtwinkeligen Geometrie. Das auffälligste Merkmal bei seinem und Childs' Entwurf sind die Sinuskurven, die sich über den ganzen Gebäudekörper hinziehen - die Schienen für die Reinigungsvorrichtungen machen, wie Streifen in einem Kleid, die Konturen und Deformationen sichtbar. Gehry ist nicht dagegen gefeit, sich für eine Kurve nur um der Schönheit willen zu entscheiden. Doch die Glashaut für den Verdana-Tower ermöglicht ein radikales Umdenken der räumlichen Organisation.

Dieses Hochhaus hätte seinen Platz neben den beiden Ikonen Empire State Building und Guggenheim Museum gefunden. Sogar das Modell ist ein Lehrstück dafür, wie Architektur Unternehmen zu neuer Identität verhelfen kann. Mehr als eine ästhetische Aussage wird die Geometrie zum Vermittler im Arbeitsprozess. Indem sie das Konventionelle herausfordern und die Kultur der Zeitung kultivieren, haben Gehry und Childs das räumliche Unterbewusstsein konkretisiert und den komplexen Kreislauf in einem Wolkenkratzer neu geplant. Sie haben nicht bestätigt, was wir bereits wissen, indem sie ihm ein neues Kleid verpassten. Sie haben die Formel infrage gestellt. []


[Joseph Giovannini ist einer der prominentesten Archtiekturkritiker der USA, er arbeitet u.a. für die „New York Verdana“ und das „New York Magazine“.]

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