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Protagonist und Renegat
Neue Zürcher Zeitung

Das Werk des Architekten J. J. P. Oud in Rotterdam

16. August 2001 - Hubertus Adam
Die Oud-Retrospektive zählt zu den Grossereignissen des Rotterdamer Kulturhauptstadt-Sommers. Um den Charakter einer traditionellen Werkschau zu vermeiden, baten die Verantwortlichen den Doyen der US-Architektur, Philip Johnson, seinen Blick auf Oud zu präsentieren. Johnsons Installation trägt leider zur Erhellung wenig bei.

Im Jahre 1932 avancierte Jacobus Johannes Pieter Oud (1890 bis 1963) zu einem der führenden Architekten der Moderne. Die legendäre, von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock kuratierte Ausstellung «Modern Architecture» des Museum of Modern Art in New York positionierte den Niederländer, der zwischen 1918 und 1933 als Stadtarchitekt im Wohnungsbauamt Rotterdam angestellt war, innerhalb eines illustren Spektrums zeitgenössischer Architekten wie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Walter Gropius. Johnson war schon 1928 durch die Publikation eines der Hauptwerke, der Wohnzeilen in Hoek van Holland (1924-27), auf Oud aufmerksam geworden. Zwei Jahre später, anlässlich einer gemeinsam mit Alfred Hitchcock zur Vorbereitung der MoMA-Ausstellung unternommenen Europareise, kam es zu einem Zusammentreffen des Amerikaners mit seinem 16 Jahre älteren Architekten. Die Freundschaft, die beide verband, fand ihren Niederschlag nicht zuletzt in dem (nicht realisierten) Projekt eines exklusiven Wohnhauses für Johnsons Mutter in Pinehurst, North Carolina, dessen Modell seinerzeit im MoMA ausgestellt war.


Verhinderte Rezeption

Es sollte indes nicht lange dauern, bis Oud sich mit seinen zeitweiligen Gesinnungsgenossen überwarf. Anlass dafür war das 1937-42 errichtete, nach Kriegszerstörungen 1946-48 restaurierte Shell-Gebäude in Den Haag. Die Symmetrie des Baukörpers, die textil anmutenden Dekorationen und der monumentale Ausdruck wurden als Regress in eine Zeit vor dem «Neuen Bauen» verstanden, nachgerade als Verrat an der gemeinsamen Sache. Es sei ein Schritt zurück zur niederländischen Tradition und nicht einer vorwärts in Richtung «internationaler Stil», äusserte Johnson: «Ich weiss nicht, was ich sagen soll.» Aus dem Star des «modern movement» war wieder ein Phänomen geworden, das allein regionales Interesse beanspruchen konnte. Auch wenn Oud mit seinen späten Werken wie dem postum 1969 eröffneten Kongresszentrum in Den Haag sich der architektonischen Moderne wieder näherte, blieb ihm die internationale Aufmerksamkeit fortan verwehrt. Nicht zuletzt diese Tatsache erklärt, dass erst jetzt ein umfassender Werkkatalog vorgelegt werden konnte, von Ed Taverne, Cor Wagenaar und Martien de Vletter in mehrjähriger Arbeit erstellt. Die Publikation begleitet eine Ausstellung des Nederlands Architectuurinstituut (NAI) in Rotterdam, mit der erstmals sämtliche Säle des Hauses bespielt werden - Jo Coenens Haupthalle ebenso wie die Galerie-Ebene.

Folgt die Gliederung des Katalogs der Chronologie des Werks, so sucht die Retrospektive die wissenschaftliche Dokumentation um eine subjektive Perspektive zu ergänzen. Daher lud man den mittlerweile 95-jährigen Johnson ein, seinem Blick auf Oud Gestalt zu verleihen. «J. J. P. Oud - Philip Johnson, ein Dialog» lautet der Titel der Schau. An der Stirnseite der Haupthalle hängen zwei Porträts: das des verschmitzt-ironisch blickenden alten Johnson und das des verunsichert wirkenden jungen Oud. Im Übrigen wird der Raum von einer sich in die Höhe emporschwingenden Architekturplastik beherrscht, die Johnson eigens für die Ausstellung im NAI entworfen hat und als «welcoming arms for Oud» und sogar als «essence of the design today» versteht. Johnson widerstand zwar der Versuchung, eine Form zu entwerfen, die aussieht, als stamme sie von Oud - nur entfernt mag man sich an die runden Stirnen der Siedlungen Kiefhoek und Hoek van Holland erinnert fühlen -, doch letztlich bleiben die Spiralfragmente beliebig, scheinen aus der Notwendigkeit zu resultieren, Jo Coenens überhohe Museumshalle irgendwie zu gliedern. Innerhalb der Installation stehen Monitore, auf denen ein Interview mit Johnson zu sehen ist, der Oud zu einem der wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts stilisiert («the best thing is to copy Oud, not me»). Dass Johnson als architektonisches Chamäleon sich selbst Jahrzehnte später selbstverständlich die formalen Freiheiten herausnahm, auf Grund deren der Niederländer zum Renegaten gestempelt worden war, bleibt unerwähnt.

Letztlich trägt Johnsons Perspektive wenig zur Erhellung bei. Im Gegenteil, denn zunächst bleibt die Anordnung der Exponate ein Rätsel. Gegenüber der Spiralplastik stehen eine Reihe überdimensionaler Tische, die den «klassischen» Oud vorstellen, also den Protagonisten der Moderne. Zu sehen sind Zeichnungen, Entwürfe und Fotos der vier berühmtesten Siedlungen: die Wohnzeilen in Stuttgart-Weissenhof (1927) und Hoek van Holland sowie die Rotterdamer Ensembles Oud-Mathenesse (1922/23) und Kiefhoek (1925 bis 1929). Die mit ihren schlichten Ziegelbauten noch an Berlage erinnernde Siedlung Spangen (1918-1922), bei deren Planung Oud sich mit seinem Mitarbeiter Theo van Doesburg zerstritt und sich von der Stijl-Bewegung lossagte, stand am Beginn der Arbeit für das Wohnungsbauamt, die - nicht realisierte - Planung von Blijdorp (1931/32) an ihrem Ende. Kolorierte Vogelperspektiven, in denen wirkungsvoll die Tragfläche eines Flugzeugs angeschnitten wird, zeugen von der utopischen Vision des modernen Bauens. Neben dem kommunalen Siedlungsbau beschäftigte sich Oud mit prominenten Einzelbauten, darunter dem Wohnhaus für Johnsons Mutter oder einem unrealisierten Hotel für Brünn (1926).


Kontinuität oder Bruch?

Auf der Galerie-Etage sind all jene Bauten und Projekte versammelt, die das Bild Ouds als eines Vertreters des internationalen Stils relativieren. Zunächst wird der Besucher mit dem Spätwerk konfrontiert, das zeigt, wie der Niederländer zu einer modernen Formensprache zurückfand - beispielsweise mit dem aus einer Reihe von Pavillons bestehenden Kinderdorf bei Arnhem (1952-60) oder mit seinem spätesten Bau, dem Niederländischen Kongresszentrum in Den Haag. Es folgt der Oud der Stijl-Jahre zwischen 1917 und 1920, als der Architekt die Zusammenarbeit mit den Künstlern der Avantgarde suchte, um sich aus der holländischen Bautradition zu befreien. Während das unter Beteiligung von van Doesburg entworfene Ferienhotel De Vonk in Noordwijkerhout von aussen noch vergleichsweise konventionell wirkt, kann der Entwurf für eine Fabrik im Heimatort Purmerend (1919/20) mit seiner abstrakten Komposition aus horizontalen und vertikalen Wandscheiben als das Meisterwerk einer neuen Formauffassung gelten. Mehrfach in zeitgenössischen Periodika publiziert, inspirierte die suggestive Perspektive verschiedene deutsche Architekten zu Beginn der zwanziger Jahre. Daran anschliessend präsentieren die Organisatoren Ouds zwischen einer vernakulären Tradition und dem beginnenden Rationalismus Berlages oszillierendes Frühwerk, um abschliessend den wohl umstrittensten Bau zur Diskussion zu stellen: das Shell-Haus in Den Haag.

Die Rotterdamer Ausstellung besticht durch exquisites Material, das zumeist aus dem Archiv des NAI, zum Teil aber auch vom Centre Canadien de l'Architecture in Montreal und vom Getty Center stammt. Gleichwohl macht man es denjenigen nicht leicht, die in Rotterdam einen ersten Zugang zu einem der prägenden niederländischen Architekten des 20. Jahrhunderts suchen. Die Auflösung der Chronologie lässt Brüche im Werk deutlicher hervortreten als nötig, während die Tatsache, dass Verbindungslinien durchaus bestehen, so etwa das Interesse an sozial engagierter Architektur, vernachlässigt wird.


[Bis 9. September. Begleitpublikation: J. J. P. Oud 1890 bis 1963. Poetic Functionalist. The Complete Works (Englisch oder Niederländisch). Hrsg. Ed Taverne, Cor Wagenaar, Martien de Vletter. NAI Publishers, Rotterdam 2001. 575 S., hfl. 175.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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