Artikel

Beispielhafte urbane Qualitäten
Neue Zürcher Zeitung

Die Renaissance des niederländischen Reihenhauses

7. September 2001 - Robert Kaltenbrunner
Das Reihenhaus schreibt in Holland Erfolgsgeschichte. Gerade die rigide technische Standardisierung scheint formale Experimente und ästhetische Vielfalt zu ermöglichen. Dabei geht es sowohl um die Typologie des Hauses, die veränderten Rahmenbedingungen des Wohnens als auch um die Beziehung zwischen Gebäude und Stadt.

Der Kulturkritiker Wend Fischer hat einmal mit Blick auf die Wohnarchitektur empfohlen, «dass die Brauchbarkeit das Kriterium der Qualität ist. Diese Wahrheit konzentriert die Dinge und Bauten auf den Menschen, der sie braucht; der Mensch ist der Sinn ihrer Zweckbestimmung, hierin beruht ihre selbstverständliche Humanität.» Ganz in diesem Sinne hat die niederländische Nachkriegsarchitektur eine reichhaltige Tradition an Bauten hervorgebracht, die weniger fertige Lösungen anbieten als vielmehr den Rahmen vorgeben, der von den Nutzern erst noch auszufüllen ist - davon ausgehend, dass eine prägnante Formgebung nicht notwendigerweise einengen muss, sondern im Gegenteil wichtige Impulse für das Geschehen im Raum geben kann.


Mode und Geschmack

Wenn das Reihenhaus für die Architektur ein eher profanes und sprödes Thema darstellt, so ist es schon überraschend, mit welcher Inbrunst es in den Niederlanden kultiviert wird. Hier hat die Individualisierung unter dem Stichwort der Erlebnisgesellschaft längst auch einen so sehr von Standardisierung und Serienfertigung bestimmten Bereich wie die Reihenhausproduktion erfasst. Sie begründet eine Suche nach spielerischen, eleganten und vor allem sinnlichen Lösungen, die gleichzeitig realistisch umsetzbar und unverkrampft «schön» sind. «Ich will, dass die Architektur modisch ist. Einige Architekten sind so naiv, zu behaupten, dass Architektur nichts mit Mode zu tun habe. Das ist Unsinn.» Erick van Egeraats offensives Bekenntnis zur Mode geht einher mit der Akzeptanz des Geschmacks des Konsumenten, so dass für ihn der Vergleich des Bauens mit anderen Dienstleistungen - etwa dem Kochen - nichts Unrühmliches ist. Es scheint, als stünde er damit nicht allein.

In Holland lässt man sich auf die reale Vielfalt, Ungewissheit und Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bereitwilliger ein als andernorts. Als Reaktion auf die tiefe Krise der modernen Wohlfahrtsgesellschaft haben sich die Niederlande seit Ende der achtziger Jahre einer tiefgreifenden Liberalisierung und Modernisierung unterzogen: Zu verzeichnen ist der Umschwung vom staatsnahen Wohnungsbau zum freien Markt; vom moralisierenden Sozialdesign zur Freude am formalen Spiel, von einer sich als gebaute Moral verstehenden Architektur zu einer, die eher «die Corporate Identity einer aufgeklärten sozialen Demokratie» zur Verfügung stellen will. Der Markt, so die Vorstellung, die hinter der neuen Wohnungsbaupolitik steht, orientiert sich zwangsläufig an den Bedürfnissen und am Geschmack der Endverbraucher, in diesem Fall der Wohnungskäufer.

Dieser Geschmack ist gar nicht so schlecht. Offensichtlich wollen die Kunden, anders als es uns Zyniker weismachen, nicht in Walmdachidyllen mit Erkerexzessen wohnen, jedenfalls in den Niederlanden nicht. Das Reihenhaus nimmt in diesem Kontext eine zentrale Rolle ein: Es steht für stadtnahes Wohnen ohne Nachbarschaftszwang und ist alltagstauglich für eine Gesellschaft im Aufbruch. Relativ niedrige Baulandpreise - meist zwischen 80 und 130 Franken pro Quadratmeter - werden durch zentrale Steuerung sichergestellt. Rationelle Planung und Standardisierung, eine Bauorganisation und der Bauteam-Gedanke sind die Hintergründe für die verhältnismässig preiswerten Ergebnisse. Gleichwohl ist es frappant, wie sich Frische und Unverkrampftheit mit völliger Erinnerungslosigkeit mischen, die Widersprüchlichkeit von kommerziellem Produkt und heimatstiftender Aneignung im Konsum.

Lange durchlaufende Linien, weit auskragende horizontale Platten und Dachgesimse, kubisch betonte, regelmässig wiederholte Vor- und Rücksprünge, der Einsatz unterschiedlicher Fassadenebenen, die zusammen eine streng orthogonale, kubische Komposition formen - so etwa könnte eine formale Charakterisierung der Reihenhaussiedlungen der letzten Jahre lauten. Dabei werden die gewohnten Additionsregeln häufig in Frage gestellt - bis hin zu Überlegungen, wie man aus dem engem Korsett der trennenden Schotten ausbrechen könnte, ohne die Abgeschlossenheit der einzelnen Einheiten aufzugeben. - So einfach wie wirkungsvoll scheinen diesbezüglich etwa die Vorschläge von Neutelings & Riedijk für IJsselstein: Durch die Drehung der Häuser um 90 Grad - mithin bei extrem breiten, aber nicht sehr tiefen Grundrissen - werden die Innenräume ungleich heller und offener. Die grosse Breite wird durch die Back-to-Back-Anordnung kompensiert, wobei für die fehlende Rückfassade eine mehr als zehn Meter breite Vorderfront entschädigt. Ein weiteres Beispiel ist das Kasbah-artige Labyrinth von MVRDV in ihrem Siedlungsentwurf für den Hoornse Kwadrant: Die einzelnen Einheiten verschränken sich räumlich komplex in- und übereinander, ohne dass der Bezug zur Strasse oder die Abgeschlossenheit des einzelnen Hauses aufgehoben würde. Die innere Organisation aufs Äusserste flexibilisiert hat Teun Koolhaas bei seinen Reihenhäusern in Almere: Durch die Verlagerung der Treppe an die Fassade sowie eine kompakte innere Servicezone in jedem Geschoss können die gewohnten Nutzungen fast überall im Haus untergebracht werden; selbst eine Teilung in zwei Einheiten ist möglich.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das Klein-in-Klein der achtziger Jahre als gebaute Intimität einer Ästhetik weicht, die durch äusserste Neutralität geprägt ist. Unklare Übergänge, halbprivate Bereiche werden häufig zugunsten neutraler, wenn nicht gar unpersönlicher Räume vermieden. Und mitunter wird der Bruch von abgeschirmter intimer Privatheit und kompromissloser Öffentlichkeit direkt in gebaute Form umgesetzt, etwa von de Architecten Cie. in Almere.


Architektur als Ereignis

Das Reihenhaus als Schnittpunkt von serieller Produktion und individueller Erscheinungsform ist gleichermassen professionell entwickeltes Produkt wie Heimat für einen Lebensabschnitt; seine Bewohner sind im heutigen Holland nicht mehr «Häuslebauer», die ein Leben lang an ihrem Traum arbeiten, sondern erlebnishungrige Konsumenten, die bei biographischen Veränderungen den Wechsel in eine neue Umgebung nicht scheuen. Dass durch eine missverstandene Individualität die geistlosesten Gebäudehaufen entstehen, ist in nahezu jedem Wohngebiet zu studieren. Identität wird dadurch kaum gestiftet. Anders bei den angeblich monoton wirkenden Wohnkomplexen in den Niederlanden. Jenseits moderner Utopien vom beglückenden Effekt einer «einzig richtigen» Architektur entstanden dort in den letzten zehn Jahren erfrischende Ensembles, in denen «Architektur als Ereignis» erlebbar ist.

Doch auch in der städtebaulichen Perspektive wird die innere Logik der niederländischen Entwicklung deutlich: das Denken in einfachen und prägnanten Bildern, ein In-Szene-Setzen von eindeutigen Stimmungen - allerdings ohne Berücksichtigung der ganzen Komplexität und Tiefe der Wirklichkeit. Das funktional Aufgegebene eines grösseren Ganzen, vordem in Begriffe wie Nachbarschaft, Siedlung oder Gemeinschaft gefasst, wird lediglich noch ästhetisch vermittelt. Die Architekten schöpfen Formen und Motive aus dem Reservoir der Moderne, ohne deren sozial-revolutionäre Hintergründe mit aufzuwirbeln. Gleichwohl, und seinen inhärenten städtebaulichen und siedlungsräumlichen Defiziten zum Trotz, hat der jüngste holländische Reihenhausbau beispielhafte urbane Qualitäten geschaffen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: