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Illusion Sicherheit
Neue Zürcher Zeitung

Die Verletzlichkeit des urbanen Raums

15. September 2001 - Hubertus Adam
Die verheerenden Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon werfen Fragen auf. Es sind nicht nur Fragen nach den Tätern und ihren Hintermännern, sondern auch Fragen nach der Sicherheit in amerikanischen Städten. Diese Fragen müssen sich umso deutlicher in einer Gesellschaft stellen, in welcher der Wunsch nach Sicherheit mitunter obsessive Züge trägt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die verglichen mit der Kriminalitätsstatistik hohe Anzahl von Inhaftierten, aber auch an die Grundform der «gated communities»: insulares Wohnen einer weissen Mittelschicht, gesichert durch Zäune oder Videoüberwachung, inmitten einer als bedrohlich empfundenen Welt. Diese Tendenz zur freiwilligen Ausgrenzung, die eine Parallele auch in der kaum zu bremsenden Suburbanisierung findet, hat zur Verödung der amerikanischen Städte beigetragen und eine Entwicklung hin zur tendenziellen Spaltung der Gesellschaft gefördert.

Überwacht mit Kameras werden allerdings nicht nur die Eingänge in die Wohnbezirke der Bessergestellten, sondern auch städtische Problembezirke, Shopping-Malls sowie öffentliche Gebäude oder Plätze, etwa der Times Square in New York. Die Effizienz von derlei Überwachungssystemen ist zu bezweifeln. Sie verhindern ein Verbrechen kaum, sondern lassen es an anderer Stelle geschehen. Eine flächendeckende Überwachung wäre weder wünschenswert noch möglich; wer sollte in der Lage sein, die Unmasse der anfallenden Daten auszuwerten?

Die Crux besteht überdies darin, dass die Gefahr häufig nicht von dort ausgeht, woher man sie erwartet, folglich die Sicherungssysteme schlicht unterläuft. Das hat der 11. September mit erschreckender Deutlichkeit bewiesen. In einer Zeit, da George W. Bush mit höchstem Aufwand an Hightech einen Schutzschirm zur Abwehr von potenziellen Raketenangriffen über den Vereinigten Staaten aufspannen will, kombinierten die Attentäter auf perfideste Weise mit Flugzeugentführung und Sprengstoffanschlag «konventionelle» terroristische Mittel und bewirkten eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses. Gegen eine zunächst eigentlich unverdächtige, tief fliegende und von ihrem Kurs abgekommene Verkehrsmaschine lässt sich selbst das Pentagon, eines der bestgeschützten Gebäude der Welt, nicht wirkungsvoll sichern.

Vor Anschlägen wie diesem gibt es keinen wirkungsvollen Schutz. Insofern ist auch die Debatte über die Sicherheit von Hochhäusern müssig. Prinzipiell unterliegen Wolkenkratzer strengsten Sicherheitsauflagen: Das Tragwerk ist brandsicher ummantelt, es gibt Fluchttreppenhäuser, Brandschutzabschnitte und Sprinkleranlagen, und überdies zwingt das Überschreiten einer bestimmten Bauhöhe zu einer hauseigenen Feuerwehr. Bis zu einem gewissen Grade sind diese Schutzmechanismen effektiv: Als im Juli 1945 ein zwölf Tonnen schwerer B-25-Bomber mit dem Empire State Building kollidierte, hinterliess er lediglich ein Loch in der Fassade, und auch die Sprengkraft des Attentats von 1993 vermochte das World Trade Center nicht in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wenn jedoch eine Brandlast von 20 oder 30 Tonnen Kerosin in ein Hochhaus eingebracht wird, nützen Brandschutzabschnitte und Fluchttreppenhäuser kaum noch.

So unangenehm, ja bestürzend das Eingeständnis auch sein mag: Wer die Werte der Freiheit und Freizügigkeit, also der Demokratie, nicht aufgeben möchte, kann sich vor potenziellen Terroranschlägen und Katastrophenszenarien nicht wirkungsvoll schützen. Man baut in Los Angeles und in Japan erdbebensicher, doch wenn - was Spezialisten vermuten - irgendwann ein Erdbeben bislang unbekannten Ausmasses sich ereignet, nützen auch diese Massnahmen nichts mehr. Dieser «worst case» kann morgen geschehen, aber auch erst in hundert oder tausend Jahren. Dennoch bleiben die Menschen in Los Angeles oder in Japan, so, wie man beispielsweise in Israel gelernt hat, trotz ständigen Anschlägen und Attentaten sein Leben zu führen.

Die surreale Alternative lautete angesichts des internationalen Terrorismus, Städte in Bunkerlandschaften oder Hochsicherheitstrakte zu verwandeln. Doch auch dies wäre ein Trugschluss, weil es absolute Sicherheit nicht geben kann. Offensichtlich war es nicht das oberste Ziel der Attentäter, möglichst viele Menschen zu töten, sondern symbolische Ziele zu eliminieren, bauliche Icons, die wie keine anderen für das amerikanische Selbstverständnis und die Ordnung der westlichen Welt stehen. Ex negativo beweisen die furchtbaren Bilder vom 11. September, welche identitätsstiftende Kraft Architektur erzeugen kann.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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