Artikel

Eine Metropole im Aufbruch
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur und Stadtplanung in Helsinki

4. Januar 2002 - Christoph Affentranger
Architektur ist in Finnland seit langem ein zentraler Bestandteil des Kulturlebens. Das geht nicht nur aus einem Ende 1998 erlassenen Regierungsbeschluss hervor, das wird auch bei jedem Besuch Helsinkis und anderer Städte auf Schritt und Tritt deutlich.

Bereits in der Entstehungszeit des erst 1917 gegründeten Nationalstaates spielte die Architektur neben der Musik eines Jean Sibelius und der Malerei eines Akseli Gallen-Kallela eine entscheidende Rolle bei der Suche nach einem nationalen Selbstverständnis. So errichtete das junge Architektentrio Armas Lindgren, Herman Gesellius und Eliel Saarinen für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 einen vielbeachteten Pavillon für das damals noch russische Grossherzogtum Finnland. Fast 100 Jahre später hielt die finnische Regierung in ihrem Beschluss zur Architekturpolitik von Ende 1998 als zentrale Punkte «die Unterstützung architektonisch hochwertigen Bauens» sowie «Richtlinien zum Schutz unseres architektonischen Erbes» fest. Darüber hinaus erklärte sie, sie werde Ausstellungen und Publikationen im Bereich der Architektur fördern, «die Notwendigkeit des Architekturverständnisses bei der Verflechtung der Schulausbildung mit dem kulturellen Leben» beachten und «die Architekturausbildung im Rahmen der Erwachsenenweiterbildung» prüfen.


Grosse Umwandlungen

Wie wichtig das Ringen um gute Architektur im Spannungsfeld zwischen Funktionalität, Ästhetik und Ökonomie in ganz Finnland ist, wird bei einer Fahrt durchs Land deutlich. Viele international bekannte Bauten liegen weitab von grossen Zentren, so die auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes figurierende Holzkirche in Petäjävesi aus dem 17. Jahrhundert, Alvar Aaltos Sanatorium von 1933 in Paimio bei Turku oder das 1998 eröffnete Volkskunstzentrum in Kaustinen, entworfen vom Architekturbüro Mikko Kaira, Ilmari Lahdelma und Rainer Mahlamäki. Gleichwohl zieht die Grossstadt auch in Finnland die Menschen in ihren Bann, so dass heute in der 3000 Quadratkilometer grossen Agglomeration Helsinki, zu der auch Vantaa, Espoo und Kauniainen gehören, rund 1,2 Millionen Menschen oder knapp ein Viertel der Bevölkerung des Landes leben. Der Migrationsdruck auf Helsinki ist enorm. In den vergangenen zehn Jahren ist die Bevölkerung der Kernstadt um gut 50 000 auf 546 300 Personen gewachsen, und rund 56 000 Studenten, die an acht Universitäten und an mehreren Fachhochschulen studieren, bestimmen den Puls der Stadt. Dabei stand die erste Hälfte der neunziger Jahre im Zeichen einer schlimmen Rezession mit einer Arbeitslosenquote von zeitweise mehr als 20 Prozent.

Der Zusammenbruch des Handels mit der ehemaligen Sowjetunion führte zu einer Umschichtung in der Arbeitswelt, die sich auch im Stadtbild bemerkbar macht. Die Bautätigkeit der öffentlichen Hand kam zum Erliegen. Viele der Hafenanlagen, Kohleberge, Fabriken und grossen Werften, die einst Helsinkis Ufer prägten, sind bereits verschwunden oder werden in den nächsten Jahren noch verschwinden. Dafür bestimmen die Büropaläste von Technologiefirmen wie Nokia immer stärker das Stadtbild. In Vuosaari, 14 Kilometer östlich des Stadtzentrums von Helsinki, entsteht der grösste und modernste Cargohafen des Landes mit rund 13 Millionen Tonnen Umschlagskapazität pro Jahr. Dorthin werden die Hafenaktivitäten bis ins Jahr 2005 verlagert. Gut 85 Prozent des Güterhandels mit dem Ausland erfolgen per Schiff. Und die Zahl der Passagiere im Hafen von Helsinki ist mit rund 9 Millionen etwa gleich gross wie diejenige des in den vergangenen Jahren von Pekka Salminen vollständig umgebauten internationalen Flughafens Helsinki-Vantaa.


Ehemalige Hafenareale

Durch die Verlagerung der Hafenanlagen bleiben in der Stadt riesige Brachen an bester Lage zurück. Diese werden sukzessive in Wohnquartiere umgebaut. Der Ausbau der Halbinsel Ruoholahti, rund zwei Kilometer westlich des Hauptbahnhofes gelegen, ist von den neueren, zentrumsnahen Gebieten am weitesten gediehen. In mehr als zehn Jahren entstanden hier rund um die alte Kabelfabrik auf 58 Hektaren Wohnraum und Arbeitsplätze für 8000 Menschen. Einige der besten Architekturbüros des Landes haben hier mehr oder weniger gelungene Bauten realisiert. Nun soll auch das letzte Kohlenlager auf Ruoholahti weichen - und zwar einer vom französischen Architekten Dominique Perrault konzipierten Bebauung. Obwohl Perrault drei Vorschläge einreichte, die alle aus einem scheibenartigen Gebäude, einem langen Riegel und einem an die alten Kohlenberge erinnernden, «Hügel» genannten Gebäude bestehen, fand keiner die Gnade der lokalen Kritiker. Zurzeit wird in Helsinki intensiv über die Stadt und das Stadtbild debattiert.


Mitsprache der Bevölkerung

Vor einem Jahr führte deshalb das finnische Architekturmuseum eine von einem Katalog begleitete Ausstellung mit Diskussionsforen unter dem Titel «Talking about the city» durch. Für einmal hat die Öffentlichkeit tatsächlich alle Trümpfe in den Händen: 66 Prozent des Landes gehören der Stadt, 13 Prozent dem finnischen Staat, und bloss 21 Prozent sind in privater Hand. Dem Stadtplanungsamt kommen so weitreichende Kompetenzen zu, kann es doch sowohl in der Erschliessungs- und in der Planungs- wie auch in der Bauphase steuernd eingreifen und etwa bei der sozialen Durchmischung der Bewohner oder bei der Preispolitik (sowohl bei Alt- wie auch bei Neubauten) entscheidend mitreden. Dem Stadtplanungsamt zur Seite steht das «Helsinki City Real Estate Department», das sich um die Finanzierung, die Vermietung, den Verkauf und den Unterhalt der städtischen Liegenschaften kümmert. Es ist auch dafür verantwortlich, dass in jüngster Zeit zahlreiche Gebäude der Moderne renoviert wurden, darunter der direkt beim Busbahnhof Kamppi gelegene Lasipalatsi (der 1935 von den Studenten Niilo Kokko, Viljo Revell und Heimo Riihimäki geplante «Glaspalast»), Helge Lundströms Tennispalatsi von 1938 und - als Repräsentantin der frühen Nachkriegsarchitektur - die Schule für Ökonomie und Verwaltung Helsinki, erbaut von Hugo Harmia und Woldemar Baeckman.

Die Debatte um das Stadtbild betrifft aber nicht nur das Gebiet von Ruoholahti, es geht auch um den zwischen Ruoholahti und dem Hauptbahnhof gelegenen Busbahnhof Kamppi. Dieser Platz von etwa 300 auf 120 Meter, auf dem sich jeden Freitag- und Samstagabend so etwas wie die Seele der Finnen manifestiert, soll überbaut und der Busbahnhof in den Untergrund verlegt werden. Ein erster städtebaulicher Wettbewerb wurde im Dezember 2000 entschieden. Der siegreiche Vorschlag einer Gruppe um Pekka Helin, Marja-Riitta Norri, Mikko Heikkinen, Markku Komonen und Kirsi Leiman hat in der öffentlichen Diskussion hohe Wellen geschlagen.

Eine Grundsatzdebatte betrifft auch das Areal des ehemaligen Güterbahnhofs, wo sich Widerstand breit macht gegen den Abbruch der letzten Schuppen und gegen die Überbauung mit Geschäftshäusern und einem neuen Haus für Musik. Für diese Schlüsselstelle des Stadtbildes unmittelbar neben dem Hauptbahnhof, am südlichen Ende des Töölönlahti, einer seeartigen Meeresbucht, haben Generationen von Architekten, darunter Eliel Saarinen und Alvar Aalto, Vorschläge geliefert. Bis heute konnten hier aber als Resultat des schwierigen Planungsprozesses erst drei Gebäude errichtet werden: das Kultur- und Kongresszentrum Finlandia von Alvar Aalto (1975), das Museum für zeitgenössische Kunst Kiasma von Steven Holl (1998) sowie - in Sichtweite zum Parlamentsgebäude - der neue Sitz von Finnlands grösstem Medienkonzern, das Sanoma-Haus (Architekten Antti-Matti Siikala und Jan Söderlund). Doch der politische Entscheid scheint gefallen. Auf der Basis des siegreich aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangenen Landschaftsprojektes von Hannu Tikka und Kimmo Lintula entsteht hier entlang der Bahnlinie eine Überbauung mit Geschäftshäusern an bester Lage. Mittelfristig soll also das südliche Ende des Helsinki Central Park, eines grünen Korridors, der vom Töölönlahti rund 11 Kilometer Richtung Norden reicht und dessen Verwirklichung auf den Masterplan von Bertel Jung aus dem Jahre 1911 zurückgeht, ein Gesicht erhalten.

In westlicher Richtung scheint die urbane Entwicklung von Helsinki, von Einzelbauten einmal abgesehen, zum Abschluss gekommen zu sein. Eine Ausnahme bildet die Umwandlung der wie Ruoholahti ebenfalls zum Westhafen zählenden Halbinsel Jätkäsaari und des Munkkisaarenranta zu Wohngebieten für rund 13 000 Bewohner. Allerdings beginnen die Bauarbeiten dazu nicht vor der im Jahre 2005 abgeschlossenen Verlegung des Hafens nach Vuosaari. Für weitere Entwicklungen westwärts bleibt ansonsten kaum Raum, liegt doch die Grenze zu Espoo nur wenige Kilometer entfernt. Ganz anders sieht es in nördlicher und östlicher Richtung aus. Das Gebiet des alten Fischereihafens Kalasatama grenzt unmittelbar nordöstlich an das alte Stadtzentrum Helsinkis, von diesem nur durch eine der vielen Meeresbuchten getrennt. Durch die Verlegung des Hafens wird auch hier Platz frei. Vorgesehen sind stark verdichtete Wohnanlagen für 15 000 Menschen und gegen 10 000 Arbeitsplätze.

Etwa zwei Kilometer nördlich des Kalasatama befindet sich der Arabiaranta (der «Arabische Strand»), welcher von den aus der Jahrhundertwende stammenden Fabrikanlagen des bekannten Tonwarenherstellers Arabia dominiert wird. Die Fabrikanlagen beherbergen nach dem Auszug von Arabia und nach dem Umbau durch Kai Wartiainen das Institut für Kunst und Medien des Polytechnikums, die Schule für Pop und Jazz sowie die Universität für Kunst und Design. Letztere wurde kürzlich um einen interessanten Annexbau der Architekten Mikko Heikkinen und Markku Komonen erweitert, der unter anderem das modernste Aufnahmestudio Finnlands besitzt. Über Jahrzehnte diente der Strand vor dem Fabrikareal als Mülldeponie, nun wird die oberste Schicht abgetragen und durch Humus ersetzt. Mit dem Bau eines langgestreckten Wohnquartiers für etwa 7000 Bewohner, vom Strand durch einen 50 Hektaren grossen Park getrennt, wurde bereits begonnen. Die ersten Bewohner sind im Herbst eingezogen.


Städtische Planungsstrategien

Der innere Bereich der Stadt wird auch heute noch von zahlreichen Wäldern und einigen offenen Ackerflächen umschlossen. Diese Freiräume werden seit 30 Jahren mit zunehmenden Tempo für den Bau von Satellitenstädten genutzt. Hier stellt sich die Frage nach dem Bild und der Struktur eines neuen Stadtteils. Dazu meint Pekka Pakkala vom Stadtplanungsamt Helsinki: «Wir versuchen stets, allzu starre Planungsschemen im grossen Stil zu vermeiden und ein Gleichgewicht zu finden zwischen vereinheitlichenden Vorgaben wie Baulinien und Materialien einerseits und Abwechslung in Form von kreativen Freiräumen für Bauherren und Architekten anderseits. Dabei sind bereits vorhandene Strukturen und die hügelige Topographie von Helsinki ein sehr hilfreiches Mittel. Für die Planung einzelner Gebäude steht dann aber der Architekturwettbewerb im Vordergrund. Selbstredend ist die Planung eines Stadtteiles nie wirklich abgeschlossen. Häufig reagieren wir auch auf Einzelobjekte noch mit leichten Änderungen am Bebauungsplan.» Was damit gemeint ist, lässt sich am Beispiel der beiden neuen Stadtteile Vikki und Vuosaari nachvollziehen.

Vikki ist ein grünes Naherholungsgebiet, rund acht Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums direkt an der Ausfallstrasse Richtung Lahti gelegen. Erste Planungen wurden hier von Architekten durchgeführt, danach übernahm das Stadtplanungsamt unter der Leitung von Riitta Jalkanen das Projekt. 290 der 1100 Hektaren von Vikki sind für Bauten und Strassen reserviert, die restliche Fläche bleibt Wald, Feld, Park oder Naturschutzzone. Dereinst sollen hier 13 000 Einwohner leben, zudem werden 6000 Arbeitsplätze und 6000 Studienplätze angestrebt. Der Wissenschaftspark wird von den Instituten der Universität Helsinki dominiert, die hier seit 1995 bereits zahlreiche Neubauten für Forschung in den Bereichen Biowissenschaften, Biotechnologie, Nahrungsmittel, Agrikultur und Waldwirtschaft errichtet hat. Dazu gehört auch das 1999 eröffnete Informationszentrum mit Bibliothek und Auditorium direkt am Eingang des Universitätsgeländes.

Dieses zylinderförmige Gebäude, aus dem ein Viertelkreis als Vorplatz zum Eingang ausgespart blieb, wurde von Hannu Huttunen, Markku Erholtz und Pentti Kareoja entworfen. Das Haus ist von einer Glashaut umgeben, die ein orthogonales Raumsystem mit kreuzförmig, zentral angeordneten Erschliessungsachsen zu einem Zylinder schliesst. Der Raum zwischen der äusseren und der inneren Hülle wird als Wintergarten genutzt. Dieses Raumkonzept mit einer eigentlichen Wintergartenhülle versteht sich als ein experimenteller Beitrag zum nachhaltigen Bauen. Kein Zufall, denn Vikki soll laut stadtplanerischer Vorgabe zum führenden Labor für ökologische Architektur in Finnland werden. Auf diesem Gebiet besteht im finnischen Bauwesen ein Aufholbedarf.

In welchem Tempo Helsinki wächst, lässt sich am besten in Vuosaari verdeutlichen. Im Jahr 2005 soll hier der neue «Port of Helsinki» seinen Betrieb aufnehmen, bestens erschlossen mit Bahn und Ringautobahn, so dass von hier Güter ohne Umladen bis nach Wladiwostok transportiert werden können. Während der neunziger Jahre stieg die Zahl der Bewohner Vuosaaris von 13 000 auf 25 000, und im Jahr 2010 dürften es 37 000 Menschen sein. Das Herz dieser Stadt in der Stadt bildet die Metrostation, an die sich ein Einkaufsbezirk anschliesst. Schulen und öffentliche Gebäude gehören ebenso dazu wie verschiedene Quartiere mit mehrgeschossigen Wohnbauten, aber auch eigentliche Einfamilienhauszonen. Seit König Gustav I. Wasa 1550 sein Dekret erliess, welches die Bürger von Porvoo, Tammisaari, Rauma und Uvila zwang, sich an der Mündung des Vantaanjoki niederzulassen, ist viel Zeit vergangen. Geblieben sind eine vielgestaltige Uferlandschaft und eine Agglomeration, die vielleicht noch nie dem Puls der Zeit näher war als heute.


[ Die finnische Architekturpolitik - das Architekturprogramm der finnischen Regierung. ISBN 951-9307-03-6. Auf Deutsch erhältlich bei der Finnischen Zentralkommission für Kunst, Maneesinkatu 7, 00170 Helsinki (tkt-Kirjasto@minedu.fi). - Talking about the city. Hrsg. Architekturmuseum, Helsinki 2000. ISBN 952-5195-13-9. 176 S., FMk. 220.-. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: