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Was wächst denn da?
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Die Strategie, Hochhäuser wie Topfpflanzen über die Stadt zu verteilen, muss ersetzt werden durch eine Strategie, die die Topografie respektiert. Wien nach „Wien-Mitte“: ein Diskussionsbeitrag.

27. September 2003
Keine Frage: Wien wird das städtebauliche Debakel von Wien-Mitte überleben, wie immer die Reparatur- oder Rettungsarbeiten ausfallen werden, die durch den hastig ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerb eingeleitet wurden. Den renommierten Architekten, die dazu eingeladen wurden, ist viel Glück zu dieser schwierigen Aufgabe zu wünschen. Gerade jetzt ist es Zeit, über das Wien nach Wien-Mitte und bei dieser Gelegenheit vielleicht auch über das Wien vor Wien-Mitte nachzudenken.

Unter Druck gesetzt von öffentlichen und privaten Gegnern, kapitulierte schließlich die Stadt Wien und gab das einbetonierte Vier-Türme-Projekt auf. War es wirklich nur eine „hochgeschaukelte Hochhausdebatte“ (so Friedrich Achleitner) - oder steht hinter dieser Aufregung mehr als ein lokaler Streit um hoch, weniger hoch oder gar nicht hoch? Steht dahinter nicht eine allgemeine, schon lang andauernde, Stadt und Land übergreifende Verunsicherung über den Umgang mit hohen Gebäuden durch Architekten und Stadtplaner und ein tiefes Misstrauen, das man diesen in dieser Sache entgegenbringt?

Die historische Stadt - jedenfalls die Mitteleuropas - war durch ein für jeden leicht wahrnehmbares und lesbares System von Größen- und Höhenabstufungen der Gebäude gekennzeichnet, aus dem die hierarchischen Verhältnisse - ökonomisch, machtmäßig, religiös und so weiter - mehr oder weniger direkt abgeleitet werden konnten. Auf dieser Basis wurden auch die entsprechenden Regelwerke aufgestellt.

Das Hochhaus in der historisch gewachsenen Stadt kann diesen Anspruch - soweit ein solcher überhaupt in der demokratisierten Stadt noch existiert - nicht erheben. Die Rolle, die es spielt, ist auf die rein materielle Größe und Höhe reduziert. Die größten und höchsten Gebäude einer Stadt gleichen riesigen Speichern und besitzen für die Stadt eine dementsprechend untergeordnete Bedeutung. Rein visuell besetzen sie, zwar bedeutungsarm, aber von Architekten und Stadtplanern gerne nach alten formalen Spielregeln positioniert, so, als wären sie Kathedralen oder Rathäuser, nach und nach die Stadt.

Da in Wien das Hochhaus aus verschiedensten Gründen, wenn überhaupt toleriert, die längste Zeit höchstens als notwendiges Übel angesehen wurde, es augenzwinkernd „übersehen“ wurde, wenn es aus irgendeinem Grund unbedingt sein musste, konnte der Eindruck entstehen, als sei ohnehin noch alles beim Alten. Nun, da gewissermaßen die Ausnahme (das Hochhaus) langsam zur Regel zu werden beginnt, muss man feststellen, dass man versäumt hat, dem Hochhaus eine neue, ihm adäquate Rolle innerhalb der Stadt zu geben. Groß und hoch bedeutet eben dann nicht unbedingt groß im hierarchischen Sinn. Diese Rolle für das Hochhaus wäre zu finden und sowohl stadträumlich als auch stadtfunktionell neu zu definieren, was auf seinen Standort sicher einen nicht unbeträchtlichen Einfluss hat.

Der im Jahr 1991 unter Beteiligung der gesamten internationalen Architektenprominenz durchgeführte Wettbewerb für den Potsdamer Platz in Berlin übertraf alles in dieser Hinsicht Dagewesene, was seinen städtebaulichen Anspruch anlangte. Was eine neue Ära im Städtebau einleiten sollte, geriet jedoch nach endlosen Streitereien zum Jahrmarkt der Eitelkeiten von Investoren und Architekten. Das siegreiche Projekt wurde sehr bald von den Investoren verworfen.

Der Potsdamer Platz war der erste große Sieg der Investoren in Europa. In Zukunft würden nur sie das Sagen haben. Bürgermeister und Baustadträte würden den Investoren nur in gebückter Haltung begegnen und den Architekten sagen, wie sie zu planen hätten. Gleichzeitig war der Potsdamer Platz eine Niederlage für die gesamte Architektenschaft, die man in Zukunft erst als Zweites fragen würde, wenn es darum geht, wer was wo und wie bauen soll. Dieter Hoffmann-Axthelm sprach von einer „Enteignung der Stadt“.

Wien-Mitte wurde vom Weltkulturerbe der letzte Schlag versetzt, nachdem eine kleine Gruppe „pensionierter Architekturprofessoren, die immer noch glauben, dass Stadtplanung heute von Architekten mit dem dicken Bleistift und nicht von den Investoren gemacht wird“ (so Dietmar Steiner im „profil“ vom 23. März 2003) sich offen gegen das Projekt gestellt, den Einbau der vier Türme in das Stadtmodell und eine Ausstellung des Projektes erzwungen hatte. Eine Stadtverwaltung, die sich zuerst heftig um die Zuerkennung des Prädikats Weltkulturerbe bemüht hat, aus welchen Gründen immer, sollte eigentlich nicht später dazu gezwungen werden müssen, zu tun, was ihre Aufgabe ist und wozu sie sich freiwillig bereit erklärt hat. Man hätte allerdings durchaus zu Recht seinerzeit die Frage stellen können, welchen Sinn es hat, eine ganze Stadt gewissermaßen unter Schutz zu stellen, die selbst über die institutionellen und ökonomischen Mittel verfügt, das und nur das zu erhalten und zu schützen, was ihr erhaltenswert erscheint. Schutzinstitutionen wie das Weltkulturerbe sind im Grunde nur dort notwendige Krücken, wo die einzelnen Gemeinden oder Personen nicht in der Lage oder willens sind, die Verantwortung über das geschützte Gut zu übernehmen.

Die Beziehung zum öffentlichen Raum ist nicht gerade die Stärke des konventionellen Hochhauses und schon gar nicht in Wien. Sie ist sogar eines seiner größten Probleme. Das liegt unter anderem daran, dass ein riesiger Wasserkopf, der fast ausschließlich aus gleichartigen Mietflächen (Büros oder Wohnungen) besteht, auf einer vergleichsweise winzigen Erdgeschoßfläche aufsitzt, die außer den notwendigen Treppen und Aufzugsgruppen nicht mehr viel übrig lässt. Das ist gewissermaßen eine physische Naturgegebenheit, jedenfalls für den von der Architekturmode vorgeschriebenen schlanken Turm.

Die seit vielen Jahren bei Hochhausdebatten vorgebrachten Forderungen von Architekten nach mehr öffentlichem Raum und Nutzungsdurchmischung verhallen angesichts der Machtlosigkeit von Politik, Verwaltung und Stadtbewohnern ungehört. Sie führen im „günstigsten“ Fall zu den ebenfalls viel diskutierten, „indoor cities“ genannten Einkaufszentren, die wie ein hässlicher fladenartiger Gebäudeannex dem armen Turm anhängen, die vermietbaren Flächen im Erdgeschoß und Untergeschoß auf wunderbare Weise vermehren und in denen man an Billas, Bipas und leeren Kinocenters vorbei durch eine zeitlich, räumlich und funktionell beschränkte Halböffentlichkeit geführt wird - und in denen man sich vielleicht nach einiger Zeit des Herumirrens überrascht vor der Aufzugsgruppe des gesuchten Hochhauses findet (siehe Millenniumstower, Twin Towers, Gasometer City).

Es ist zwar wahr, dass diese „indoor cities“ den eleganten Türmen aufregende Entrees verschaffen könnten, wenn man sie sich nach der Art piranesischer Carcere vorstellt. Die Realität sieht allerdings anders aus, wie die Wiener Beispiele belegen. Von dem Alptraum der Stadt in der Stadt (inner cities), die von Mauern, Stacheldraht, Privatpolizei und elektronischen Überwachungseinheiten „geschützt“ ist, den Mike Davis (Quartz city) an Hand von Beispielen im Raum Los Angeles beschreibt, ist Wien freilich (noch) weit entfernt. Hier kann man noch darüber schmunzeln, dass der laut Dietmar Steiner „größte Architekt Österreichs“, Hans Hollein, dem nächtlichen Wanderer am Fuß seines Media Tower am Donaukanal einige schattige Winkeln anbietet, an denen er sein Wasser abschlagen kann.

Es mag die Gemüter beruhigen, wenn man behauptet, das Hochhaus sei ein Gebäudetypus wie jeder andere, wie ein Theater oder wie eine Volksschule, aber es entspricht schon lange nicht der Realität. Ohne Zweifel bestehen beim Hochhaus doch gravierende Unterschiede je nach Funktion, Höhe und klimatischen Verhältnissen, sodass man nicht von einem einheitlichen Gebäudetypus sprechen kann.

Diese Unterschiede werden unterschlagen, weil man ständig nur von dem funktionell purifizierten Turm mit bestimmten Breiten- und Höhenverhältnissen (Stichwort: schlank) spricht, gegenüber dem jedes gründerzeitliche Miethaus in seiner Multifunktionalität progressiv erscheinen muss. Dabei ist es zum Beispiel in vielerlei Hinsicht ein Unterschied, ob ein 45 Meter hohes Haus mit Fenstern zum Öffnen natürlich belüftet werden kann oder, wenn höher, zur Gänze klimatisiert oder mit Klimafassade versehen werden muss. Auch in der Argumentation für die Türme von Wien-Mitte wurde immer wieder betont, dass hohe schlanke Türme eben fortschrittlich seien und man sich die Modernität von Wien nicht durch das Weltkulturerbe verbieten lasse, ein Scheinargument, das mit einem höchst fragwürdigen Fortschrittsbegriff arbeitet.

In der Verteidigung der in Wien bereits bestehenden und der geplanten Hochhäuser wird hervorgehoben, dass eine moderne Stadt kein Gesamtkunstwerk sein kann, und damit einer Entwicklung das Wort geredet, die im Prinzip nach ähnlichen „Grundsätzen“ vorgeht wie bisher, nämlich nach fragwürdigen Von-Fall-zu-Fall-Entscheidungen. Hochhäuser werden wie Topfpflanzen verteilt. Zur Zeit Richard Wagners hätte der Begriff des Gesamtkunstwerks kaum auf irgendeine Stadt gepasst, im heute gebräuchlichen schwammigen Sinn auf die Stadtentwicklung angewendet, wird damit versucht, jedwede stadträumliche und stadtfunktionelle Überlegung, die sich auf die gesamte Stadt bezieht, als reaktionär zu denunzieren.

In der Entwicklung moderner Großstädte spielen Berge und Wasserläufe, anders als im Mittelalter, eine eher retardierende Rolle. Der entscheidende Grund dafür scheint der Entfall der Behinderung des Verkehrs durch Berg und Wasser zu sein. Die typische moderne Großstadt entwickelte sich in der Ebene und abseits vom Wasser. Dagegen haben sich alte Städte Europas häufig an außergewöhnlichen topografischen Situationen (Berg, Wasser) entwickelt, die sich meistens durch ihre strategisch günstigen Verteidigungs- und (oder) Kontrollpositionen auszeichneten.

Aus welchen Gründen immer, der moderne Städtebau ignoriert die Topografie. Visuell betrachtet scheint es eher das Anliegen der Städtebauer zu sein, die Topografie zu konterkarieren, als sie zu überhöhen. Übersehen wird, dass Stadt außer in der visuellen, gleichsam touristischen Art auch anders erlebt wird: „Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und deren Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption.“ (Walter Benjamin). Vereinfacht gesagt: Architektur und Stadt werden in einer Art ständiger filmischer Wiederholung auch mit den Füßen und in Bewegung erlebt. Eine Frage der Topografie. Wien besitzt unbestritten - verglichen mit anderen Großstädten - eine eindrucksvolle und vor allem großräumige Stadtlandschaft.

Die Strategie der Wiener Stadtplanung, die Stadtentwicklung entlang von Verkehrsachsen vorzusehen und damit auch die Kreuzung möglichst vieler Verkehrsströme zu einem Hauptkriterium für Hochhausstandorte zu machen, muss zwangsläufig das Kriterium Topografie vernachlässigen. Damit liegt (das neue) Wien nun leider wieder nicht an der Donau, sondern irgendwo hinter der Donau, die Stadtentwicklungsachse quert die Donau, nimmt aber von dieser kaum Notiz, um irgendwo im Marchfeld zu versickern.

Natürlich liegt Wien auch nicht wirklich am Donaukanal, der einmal Teil der Donau war. Hingegen kann man an Hand der emporsprießenden Hochhäuser von einem hochgelegenen Punkt aus sehen, wo die U-Bahn eine Kreuzung oder zumindest eine Haltestelle hat. Entlang des linken Donauufers, wo freie Aussicht vom Leopoldsberg über die Innenstadt bis zum Schneeberg schon aus geringer Höhe geboten wird, entwickelt sich einfach nichts, wenn man von dem Hochhausgedränge nächst der Wagramer Straße und auf der „Donauplatte“ absieht.

Zwei Themen: (Neue) Donau und Donaukanal. Das eine Thema ist banal, uralt und fast operettenhaft: Wien an die Donau. Es löst zunächst keine Probleme, aber vielleicht löst es eine Diskussion aus. Eine Diskussion, in die sich auch die Architekturkritik einbringen könnte, die sich gerne an städtebaulichen Themen vorbeimogelt. Eine Diskussion als Beginn eines Prozesses, der Zeit brauchen wird und an dessen Ende vielleicht nur eine sehr grobe Übereinkunft stehen wird, mit ganz wenigen Festlegungen, wie sie zum Beispiel der erste Plan für die Wiener Ringstraße enthielt. Ein solches Konzept könnte auf eine großzügige Art eine Symbiose von stadträumlicher Fassung, erwünschter Weite des Ausblicks und Übergreifen des öffentlichen Raums auf die Gebäude bedeuten.

Das zweite Thema heißt Donaukanal, ist auch nicht neu und braucht ein städtebauliches Konzept. Seit Lois Welzenbachers Wettbewerbsbeitrag (1946) liegt das Thema brach. Der Vorschlag sah eine stadträumliche Fassung am linken Donaukanalufer mit kurzen, zirka 50 Meter hohen, quer zum Fluss stehenden Scheiben vor, die, gleichsam den Schwung des Flusses mitnehmend, eine Art Gebäudekollektor bildeten. Die geplanten kosmetischen Korrekturen werden es nicht bringen. Wenn man sich nicht zu einem Gesamtkonzept durchringt, werden auch die dort entstehenden und bestehenden Hochhäuser Stückwerk bleiben.

In zweierlei Richtungen wäre eine Änderung im Denken als Folge von Wien-Mitte wünschenswert: Die Strategie, Hochhäuser wie Topfpflanzen über die Stadt zu verteilen, muss verabschiedet werden zu Gunsten einer Strategie, die Topografie respektiert und stärkt, jedenfalls nicht schwächt. Die Frage darf nicht lauten: Warum eigentlich nicht in Wien-Mitte?, sondern sie muss lauten: Warum eigentlich ausgerechnet in Wien-Mitte?

Verabschiedet werden muss aber auch der öffentlichkeitsfeindliche Charakter von Hochhäusern. Eine Stadt darf sich nicht erpressen lassen. Eine Stadt, die Standort, Höhe, Masse und Funktionen der Objekte den Investoren überlässt, überlässt in Wahrheit die Stadt den Investoren. [*]


[1930 in Salzburg geboren. Seit 1960
Architekt in Wien und München. Lehrte von 1985 bis 1999 Entwerfen und
Städtebau an der FH München. Derzeit Vorsitzender des Gestaltungsbeirats der Stadt Krems.]

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