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Mass, Ordnung, Fügung
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Paul Schmitthenner im DAM in Frankfurt

Einst respektiert als Mitbegründer der „Stuttgarter Schule“, diskreditierte sich Paul Schmitthenner (1884-1972) in der Optik der Architekturgeschichte durch seine Parteinahme für das Naziregime. Eine Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main zeigt nun den umstrittenen Architekten in allen seinen Facetten.

8. Oktober 2003 - Hubertus Adam
Um die Jahreswende 1918/19 wurde die Architekturabteilung der Technischen Hochschule Stuttgart grundlegend reformiert. An die Stelle einer akademischen, vom Eklektizismus des 19. Jahrhunderts geprägten Lehre trat ein praktisch orientierter Unterricht, welcher das Stuttgarter Institut - neben der TH Berlin-Charlottenburg - zur meistfrequentierten deutschen Ausbildungsstätte für Architekten in der Zeit der Weimarer Republik werden liess. Der neuartige Lehrplan war massgeblich das Werk des Professors für Baukonstruktion und Entwurf, Paul Schmitthenner. Mit Begriffen wie Stoff, Naht, Form, Mass, Ordnung und Fügung umriss der charismatische Lehrer das Konzept einer evolutionären, sich aus handwerklicher Tradition entwickelnden Baukunst. Aus der Sicht der späteren Avantgarde des Neuen Bauens wurde die «Stuttgarter Schule» allerdings zu deren konservativer Antithese.


Zwischen Opportunismus und Distanz

Paul Schmitthenner, 1884 im elsässischen Lauterburg geboren, war nach seinem Studium in Karlsruhe und München als Leiter des Hochbauamts von Colmar tätig, liess sich dann aber 1909 im Büro von Richard Riemerschmid anstellen. In den zwei folgenden Münchner Jahren erfolgte eine entscheidende Weichenstellung: Schmitthenner fand das Thema, das ihn während des nächsten Dezenniums beschäftigen sollte, die Gartenstadt. Im Büro von Riemerschmid an der Realisierung der ersten deutschen Gartenstadt in Hellerau bei Dresden beteiligt, suchte er seine gewonnenen Erfahrungen anschliessend in Carlowitz bei Breslau umzusetzen. Das Projekt scheiterte an der Differenz zwischen Planer und Investor, brachte dem jungen Architekten aber den Kontakt mit Hans Poelzig ein, seinerzeit Leiter der Kunstgewerbeschule in Breslau. Poelzig vermittelte Schmitthenner an das Reichsamt des Inneren nach Berlin, wo ihm die Realisierung von drei dem Gartenstadtkonzept folgenden, genossenschaftlich organisierten, aber reichsfinanzierten Siedlungen übertragen wurde. Da es sich um Wohnungen für Arbeiter von Munitionsfabriken handelte, konnten die Bauarbeiten während des Ersten Weltkriegs andauern. Staaken bei Berlin ist die eindrucksvollste dieser Gartenstädte: Man mag sich an Camillo Sittes Vision eines malerischen Städtebaus ebenso erinnert fühlen wie an Raymond Unwins Konzept einer erneuerten mittelalterlichen Stadt: Die Blendgiebel der Strasse «Zwischen den Giebeln» zitieren das barocke Holländische Viertel in Potsdam. Und dennoch finden sich in der gesamten Siedlung lediglich fünf unterschiedliche Haustypen.

Allerdings sind es weniger die Gartenstädte als die seit Anfang der zwanziger Jahre auf den Höhen über dem Stuttgarter Talkessel realisierten Wohnhäuser, die mit dem Œuvre Schmitthenners gemeinhin assoziiert werden. Die weiss geschlämmten Bauten mit ihren Walmdächern orientieren sich an der Zeit «um 1800», an Goethes Weimarer Gartenhaus, und wirken mit ihren subtilen Asymmetrien doch irritierend. Wenn Schmitthenners Entwürfe intuitiv und organisch erscheinen, so suchte er gleichwohl nach der Rationalisierung im Wohnungsbau und entwickelte ein System des «fabrizierten Fachwerks». Anders als Ernst May oder Walter Gropius verzichtete Schmitthenner auf die schwere Vorfertigung und nutzte ein Low-Tech-System, welches auch kleinere Handwerksbetriebe nicht überfordert hätte. Das Experiment im grossen Massstab, das - wie auch die Projekte in Frankfurt und Dessau - von der «Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen» gefördert werden sollte, unterblieb.

Schmitthenner sah sich als Verlierer gegenüber den Lobbyisten der Moderne. Wüste Attacken auf die Architekturavantgarde erfolgten in der 1932 erschienenen Publikation «Das deutsche Wohnhaus». Schon 1928 hatte Schmitthenner zu den Gründungsmitgliedern der konservativen Architektenvereinigung «Der Block» gehört, die sich - letztlich wenig öffentlichkeitswirksam - gegen den «Ring», in welchem die Protagonisten des Neuen Bauens zusammengeschlossen waren, zu positionieren suchte. 1932 trat Schmitthenner dem «Kampfbund für Deutsche Kultur» bei, 1933 der NSDAP. Doch der erhoffte Erfolg bei den neuen Machthabern stellte sich nicht ein, da diese sich für monumentale Bauaufgaben auf einen Neoklassizismus festlegten, wie ihn Albert Speer vertrat: Schmitthenners Entwurf für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung Brüssel 1935 stiess seiner wenig repräsentativen Gestalt wegen auf explizite Kritik Hitlers, gegen den Umbau des Stuttgarter Schlosses brachten lokale Parteifunktionäre den konservativen Schweizer Architekten Alexander von Senger in Stellung, der das Projekt in einem Zeitungsartikel abkanzelte.

Seit Ende der dreissiger Jahre wurde Schmitthenner wieder zu diversen Wettbewerben eingeladen, doch wirklich grosse Bauaufgaben blieben ihm versagt. Gilt auch die Schrift «Das sanfte Gesetz in der Baukunst» als eine Absage an den herrschenden Monumentalklassizismus, so blieb Schmitthenners Haltung in der Nazizeit dennoch unentschieden, indem sie zwischen Opportunismus und latenter Distanzierung oszillierte. Zivilcourage zeigte er im Falle von 17 Widerstandskämpfern aus seiner elsässischen Heimat, die er durch beharrliches Insistieren bei den offiziellen Behörden und nicht zuletzt durch einen Brief an Roland Freisler vor dem Tode bewahren konnte. Im Spruchkammerverfahren nach 1945 entlastet, verlor Schmitthenner gleichwohl seine Professur. Die traditionalistischen Bauten, die er in der Folgezeit errichtete, standen konträr zum Mainstream der Zeit, und offizielle Anerkennung fand der Architekt eher in der auf die Reaktivierung einer «nationalen Bautradition» ausgerichteten DDR als in der Bundesrepublik. 1972 verstarb er im württembergischen Kilchberg.


Unvoreingenommene Werkbetrachtung

Eine von Wolfgang Voigt als Resultat langjähriger Forschungen erarbeitete Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum (DAM) in Frankfurt am Main nähert sich unvoreingenommen, aber nicht kritiklos diesem Architekten, der zu den einflussreichen des 20. Jahrhunderts in Deutschland zählte. Chronologische und thematische Gliederung verzahnen sich: Von den Gartenstädten des Beginns sowie den Wohnhäusern und öffentlichen Bauten der Weimarer Republik spannt sich der Bogen über die Entwürfe der Nazizeit bis hin zum Spätwerk. Zu historischen Fotos treten die fein detaillierten, sich noch immer in Privatbesitz befindenden Entwürfe des Architekten, die Schmitthenner als unglaublich präzisen Zeichner zeigen. Ergänzt wird die eindrucksvolle Schau durch eine Reihe eigens angefertigter Modelle - und durch einen hervorragenden Katalog, der die widerspruchsvolle Person in all ihren Facetten zeigt.


Bis 9. November im DAM in Frankfurt. Katalog: Paul Schmitthenner 1884-1972. Hrsg. Wolfgang Voigt und Hartmut Frank. Ernst-Wasmuth-Verlag, Tübingen 2003. 236 S., Euro 35.-.

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