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Über den Raum stolpern
Spectrum

Nicht nur Texte über Bauwerke, auch Bauwerke selbst lassen eines zusehends vermissen: „das Architektonische“. Die Gründe? Populistische Anbiederung und die Trennung von Entwurf und Ausführung. Eine Protestnote.

15. November 2003 - Walter Zschokke
Eigenartig: Je mehr über Architektur geredet und publiziert wird, desto weniger findet sich vom Wesen dieses Gegenstandes - nennen wir es vorläufig das Architektonische - darin wieder. Dieses Komplexon aus Konzept, Raum, Konstruktion, Material, Form, Gebrauch und Ökonomie wird einem Bauwerk im Verlauf der entwerferischen
Arbeit des Architekten sowie deren Umsetzung eingeschrieben. Bei einer Betrachtung oder sorgfältigen Analyse kann dies auch wieder erkannt und benannt werden, und das ist dann auch die bewusste Form des Genießens eines Gebäudes.

Im Bestreben, Aufmerksamkeit und publizistischen Effekt zu ergrapschen, werden viele Bauten auf eine einzige formale
Dimension hin getrimmt. Das ist kurze Zeit lustig, für die folgende, lange Stehzeit reicht es jedoch nur mehr zu einem müden Lächeln, weil die vordergründige Absicht in der Summe dieser Bauten so offensichtlich wird.

Nun ist Architektur eine dreidimensionale Angelegenheit und überdies voller Mehrdeutigkeiten. Entsprechend vieldeutig fallen denn auch die Resultate von Betrachtungen aus. So sind zahlreiche diesbezügliche Texte belanglos, weil sie äußerst allgemein und ungenau sind und kaum zum Wesen eines Bauwerks vorstoßen. Selbst ernst zu nehmende Architekten wie Steven Holl geben zu ihrem Entwurf oft nur oberflächliche Plattitüden von sich. Wir möchten doch hoffen, dass sein architektonisches Denken komplexer ist als seine Erklärungen zum Loisium.

Aber das ist nicht so tragisch, das Medium der Architekten ist oft nicht die Sprache, sondern das Bauwerk selbst, allenfalls die Skizze oder die Zeichnung. Aber jene, die sich einem Bauwerk interpretatorisch mit den Mitteln der Sprache nähern wollen, dürften sich schon so weit disziplinieren, dass, um ein simples Beispiel zu wählen, „Kubus“ einen Würfel meint und nicht bereits volkstümlich für Quader verwendet wird.

Wenn eine gewichtige Zeitung in ihrer Werbung in Erinnerung zu rufen pflegte: „Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken“, dann gilt das vor allem auch für das Schreiben über Architektur, wo die Gedanken leicht über eine Ecke der dritten Dimension stolpern können. Es ist oft genug betont worden, dass Architektur eben dreidimensional sei und daher mit dem linearen Band der Sprache nicht erfasst werden könne und überdies ein Bild mehr als tausend Worte sage. Eben. Das Bild sagt vielleicht auch zu viel. Ohne verbale Präzisierung weiß schon nach zehn Jahren fast niemand mehr, welche Bildaussage im Zusammenhang gemeint war.

Jedenfalls lässt sich mit der Sprache der Zugang zu einem Sachverhalt durchaus gestuft vornehmen, und wenn man berücksichtigt, dass Begriffe klare Bedeutungsfelder haben, lässt sich damit schon ganz gut arbeiten. Darum ist es so wichtig, im Begrifflichen präzis zu sein. Denn mit einer Boulevardisierung der Sprache bleibt das Architektonische auf der Strecke. Darum ist es so unerträglich, reißerische Titel wie: „Loos macht Zotti zu Kleinholz“ lesen zu müssen. Das verärgert mündige Leser.

Adolf Loos ist jetzt 70 Jahre tot. (Ach ja, in der Comicwelt ist die Umkehr der Zeitachse ein Klacks.) Der Verfasser begibt sich mit solcher Titelsetzung auf die Ebene jener Innenausbauplaner, die glauben machen wollen, sie könnten einen Loos „original-getreu“ herstellen. Wissen sie denn um den kulturellen Hintergrund, mit dem Adolf Loos vor 105 Jahren seinen Entwurf begann? Und von welchen Plänen wollen sie ausgehen, wo bekannt ist, wie viel der Architekt bei Innenausbauten damals - wie selbst heute - direkt mit dem qualifizierten Handwerker besprach. Nach Fotografien arbeiten heißt deshalb der Ausweg. Das können mittelmäßige Planer heute am besten. Ob aus Zeitschriften oder Archiven, die Bilder dienen als Vorlagen für ein unselbstständiges und uninspiriertes Inszenieren von Staffagen und plakativen Effekten. Das wird nie und nimmer Architektur, auch wenn es, sollte es die ersten 100 Jahre überstehen, die Chance hätte, sich als Fußnote in die Architekturgeschichte zu schwindeln. Und so ergeht es auch jenen, die ihre
Titelformulierungen von den Gehsteig-Blättern abkupfern.

Ganz anders arbeiteten die Meister der Frührenaissance, Alberti, Brunelleschi und Donatello, die durch das Studium der römischen Ruinen zu konstruktiven und raumbildnerischen Erkenntnissen gelangten, die sie dann in eigenständige Bauwerke umsetzten. Das ist auch die einzige zulässige Möglichkeit: dass Architekten, deren fachliche und gestalterische Kraft erwiesen ist, sich in von ihnen zu bestimmender Interpretation mit den Spuren der Erinnerung befassen und darauf aufbauend zu einem entwerferischen Konzept für ein zeitgenössisches Bauwerk mit architektonisch-historischen Bezügen kommen. Dass das so geht, ist dutzendfach bewiesen. Voraussetzung ist allerdings, dass die heutigen Architekten ihren Vorgängern entwerferisch und gestalterisch das Wasser reichen können. Mit einem denkmalpflegerischen Ansatz allein ist es nicht getan.

Das Gleiche gilt für das Schreiben über Architektur. Wer sich nicht eine differenzierte Sprache zum Gegenstand erarbeitet und sich in verschiedenen Methoden übt, komplexe Sachverhalte zu erfassen und zu vermitteln, wird zum architektonischen Wesen eines Bauwerks nicht vordringen, sondern irgendwelche Geschichten erzählen, was den anspruchsvollen Leser nicht zufrieden stellt. Tendenzen zu einer populistischen Schreibe, wie in jüngster Zeit feststellbar, gehören auf den gleichen Misthaufen wie die populistische Politik. Es ist einer anspruchsvollen Sache nicht dienlich, wenn sie verbal platt gewalzt wird. Es kann nicht darum gehen, Meinung zu machen, sondern Grundlagen zu liefern, dass mündige Leserinnen und Leser sich eine Meinung bilden können. Dass es dabei ohne plump anbiedernde Metaphern abgehen sollte, die meist auch maßstäblich nicht stimmen, müsste sich von selbst verstehen.

Doch ist das Wesen des Architektonischen auch in Bauwerken selbst gefährdet. Infolge der oftmals gewünschten Trennung von Entwurf und Ausführung (oder weil Entwerfende keine Ahnung vom Bauen haben) verflüchtigt sich der Kerngedanke eines Entwurfs nicht selten im Verlauf der Ausführungsplanung. Zwei zeitgleich entstandene Bauten, die Bezirkshauptmannschaft Murau von Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer und das Kunsthaus Graz von Peter Cook, Colin Fournier und Architektur Consult, geben dies bei näherem Hinschauen schnell preis. An der BH Murau ist die Hand des Architekten bis ins letzte Detail zu spüren. Es ist kein leichtgängiges Bauwerk, in seiner Komplexität aber überzeugend. Beim Kunsthaus Graz zerbröselten die tragenden architektonischen Ideen im Zuge der Ausführung, und irgendwann wurde der Bau nur noch abgewickelt. Das ist ihm jetzt auch anzusehen. Aber wenn es ein wirtschaftspolitisches Ziel sein sollte, wie im früheren Ostblock nur noch einige wenige große Planungsfirmen zu haben, werden über kurz die meisten größeren Neubauten „abgewickelt“ aussehen und das Wesen des Architektonischen wird sich verflüchtigt haben.

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