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Zeitschrift für Stadtforschung
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Der Leitsatz von „Dérive“: Man kann die Idee von Stadt, die Stadt selbst, nicht von den sozialen Prozessen, die in ihr vorgehen, entkoppeln.

1. Februar 2002 - Peter Waldenberger
Das traditionelle Bild der Stadt als Umschlagplatz für Geld und Waren wurde in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert: In den Blickpunkt des - nicht nur wissenschaftlichen - Interesses gelangten vermehrt gesellschaftliche Entwicklungen, die sich im urbanen Raum fokussieren.

Und in diesen Raum stieß vor etwa einem Jahr eine Gruppe junger Wiener, die bis dahin mit einer kleinen Architekturzeitschrift - dem „peiler“ - mit Konzerten im öffentlichen Raum und mit Kunst-Fernsehprojekten Aufmerksamkeit erregten. Nun also machen sie ein weiteres Mal von sich reden und schreiben - in einer neuen Stadt-Zeitschrift.


Das Sprachliche

Wer liest schon gerne ein Druckwerk, dessen Titel er/sie nicht einmal aus zu sprechen vermag? Auch wir haben wir bis vor kurzem gerätselt. Die neue Wiener Zeitschrift für Stadtforschung: deren Name setzt sich aus den Buchstaben D-é-r-i-v-e zusammen.

Christoph Laimer ist bei Dérive so etwas wie das Master Mind der sehr jungen Stadtforschungs-Truppe. Er ist Politiwissenschaftler und Philosoph - und somit einer derer, die nicht unbedingt aus der Architektur oder Landschaftsplanung, also aus der Urbanismus-Durchleuchter-Truppe, kommen.


Dérive - das bedeutet Umherschweifen. Diese Streifzüge durch die Stadt sind weniger von akademischen Diskursen geprägt als mehr von einem gesunden Widerstandsgeist einer jungen Großstädtergeneration gegen eingefahrene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen in der Stadt.


Versteckte Redaktion

Man muss schon ein wenig zu Fuß umherschweifen - wie die der Zeitschrift namengebende, französische Avantgardetruppe der 60er Jahre - um an den Ort zu gelangen, wo sie ihr zu Hause hat. Im 3. Wiener Gemeindebezirk hat die Gemeinschaft in einem erdgeschossigen, ölbeheizten Atelier ihre Redaktion, ihren Treffpunkt, der auch noch Arbeitsraum für Landschaftsplaner und ein Architekturbüro ist. An einem Ort, der eigentlich ein Unort ist.

Kaum jemand verirrt sich in diese Gasse, es sein denn, er will das gegenüberliegende, kolossal protzige Bundesamtsgebäude (für Landesverteidigung) von hinten mit dem Auto befahren. Oder eben zu Dérive reinschneien.


Gesellschaftliche Entwicklungen

Zeitschrift für Stadtforschung. Ein Untertitel der die Sache vermutlich nicht ganz trifft, weil er zu eng gefasst scheint, da es uns in erster Linie um gesellschaftliche Entwicklungen geht, die in der Stadt besser erkennbar sind, weil sie früher und konzentrierter auftreten.

Themen wie die intensive Überwachung des öffentlichen Raumes, verstärkte Zero-Tolerance-Politik, Rassismus, Erlebniswelten und Multiplexe, Migration und Integration, Stadtplanung, Wohnbaupolitik und Obdachlosigkeit, die Privatisierung des öffentlichen Raumes, Gated Communities, die langsame Abschaffung des Sozialstaates und Standortpolitik. Auch für etablierte Gastkommentatoren aus dem Wissenschaftsbetrieb, den Architektur- und Soziologie-Instituten, unumgängliche Themen.


Institutioneller Rassismus

Als „Operation Spring“ werden die von Polizei und Drogenfahndung durchgeführten und von den Medien gefeierten Großeinsätze zur „Zerschlagung der nigerianischen Drogenmafia“ bezeichnet, d. h. umfassende Lauschangriffe, Razzien, und Kriminalisierungen von afrikanischen MigrantInnen.

In einem Artikel zeichnet Christoph Laimer nach, wie der Protest von MigrantInnen gegen gewaltsame Übergriffe und Tötungen bei Straßenkontrollen von den Beamten selbst zur Zementierung des Bildes der organisierten Drogenkriminalität benutzt wurde.


Mike Davies als Vorbild

Mike Davies stadtsoziologischer Klassiker „City of Quartz - Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“ als Anleihe für eine Zeitschrift für Stadtforschung. In einer Buchbesprechung - auch die sind in den Heften zu finden - hieß es gar, Mike Davies sei nicht ganz unverantwortlich für die Existenz von Dérive.

Die Stadt als soziales Gebilde verständlich machen, sagt Christoph Laimer, sei eine Aufgabe. Denn man könne die Idee von Stadt, die Stadt selbst, nicht von den sozialen Prozessen die in ihr vorgingen entkoppeln. Das scheint ein Leitsatz der Stadtforscher von Dérive zu sein. Und damit wollen sie sich vom allzu theoretischen Umgang mit Stadt und Architektur in den diversen Debatten abheben.

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