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Totalitarismus in Stein
Neue Zürcher Zeitung

Das legendäre Hotel Moskwa soll neu gebaut werden

Um das Hotel Moskwa, ein Prestigeobjekt der Stalinzeit, gab es zwischen Russlands Kulturministerium und der Moskauer Stadtverwaltung einen Streit, der in der russischen Öffentlichkeit die Wogen hochgehen liess. Abreissen oder nicht? Stellt dieses Lieblingskind des Sozialismus ein «Architekturdenkmal» oder ein «Überbleibsel» der Vergangenheit dar? Gesiegt hat die Stadtverwaltung: Abriss.

26. November 2003 - Maja Turowskaja
Wer dieser Tage auf die asymmetrische Moskwa-Fassade mit den beiden ähnlichen, aber ungleichen Gebäudehälften einen Abschiedsblick werfen wollte, würde nichts als riesige Wandflächen erblicken, die dieses legendäre architektonische Quiproquo verhüllen. Die Legende besagt, das Projekt sei Stalin mit zwei verschiedenen Varianten der einzelnen Fassaden vorgelegt worden. Der Führer habe seine Unterschrift exakt in die Mitte gesetzt, ohne einer der beiden den Vorzug zu geben. Und da man vor Rückfragen Angst hatte, verewigt dieses Paradedenkmal des Sozialismus nun das Phänomen des Totalitarismus - in Stein. Die Wirklichkeit war prosaischer: Der rechten Hälfte des neuen Hotels musste das alte Grand-Hotel eingefügt werden, dabei sollten darüber noch sechs Stockwerke errichtet und das Grand-Hotel selbst dem sozialistischen «Neuen» angepasst werden.

Die Legende verwandelt die Prosa des Lebens jedoch in Emblematik und tritt im Bewusstsein der Gesellschaft an seine Stelle. Das «Denkmal» stellt somit die Summe von Architektur und Legende dar. Hinter dem Bau liegen der Aufgang zum Roten Platz und die Wände des Kreml.

Die Chronik, wie das «Hotel des Mossowjets» erbaut wurde, steht allerdings in emblematischer Hinsicht der Legende in nichts nach, und wie jedes Molekül des «Sowjettums» spiegelt sie dessen Gesamtheit. Die Ankündigung dieser «Grossbaustelle des Sozialismus» kam in Dur daher, mit Fanfarenklängen: «Wo früher die Kornspeicher und Kaufläden der Ochotny Rjad standen, wird nun das grandiose Hotel des Mossowjets gebaut. Dieses Hotel soll dem Plan seiner Erbauer nach das beste in Europa werden (. . .) Dem Projekt wurde allerhöchste Dringlichkeitsstufe eingeräumt.» Aus demselben «Prawda»-Artikel vom 23. August 1932 geht allerdings hervor, dass dem Objekt schon vor Baubeginn Terminverzug drohte: Die Entwürfe waren nur zu 25 Prozent umgesetzt, als das Ernährungsbaukombinat Narpitstroi es ablehnte, auf die «Räumlichkeiten für Gemeinschaftsverpflegung» zu verzichten, und das Fernmeldeamt weigerte sich, die Fernmeldeleitungen zu planen (keine Leute, «niemand dafür frei»), auch mit dem Marmor gab es Probleme. Dabei war beabsichtigt, die beiden unteren Stockwerke «mit rosa Granit aus Finnland zu schmücken, für die Sockel der Säulen schwarzen Labrador zu verwenden und die folgenden drei Stockwerke mit weissem Marmor aus dem Ural oder aus Italien zu verkleiden» - das Zeitalter hatte eine Schwäche für Marmor und Säulen.


Amerikanische Vorbilder

Bis 1934 waren «1400 Quadratmeter Granit und 1750 Quadratmeter Marmor verlegt» und zwei Hotelzimmer zu Lehrzwecken ausgestattet; nun wurde es möglich, statt «Küchenfabriken» und anderen Begriffen des vergesellschafteten Alltags so bürgerliche Wörter wie Restaurant, Bankettsaal, Café und Bar in den Mund zu nehmen, sogar von einem Sommerrestaurant auf dem Dach war die Rede. Dabei gaben die Architekten Schtschussew, Saweljew und Stapran noch ohne Scheu zu, dass sie sich an amerikanischen Vorbildern orientierten. Für das Hotel wurden nicht nur modernste Sanitäranlagen und Kücheneinrichtungen neu entworfen, sondern das gesamte Design: Die Möbel entstanden aus hochwertigem Holz (Nuss- und Birnbaum, Platane), das Geschirr war Porzellan aus Duljowo, die Zimmerdecken wurden von berühmten Künstlern ausgemalt, und die Skulpturen stammten von bekannten Bildhauern («Typen von Werktätigen»). Leider sollten der ewige «Mangel an Arbeitskräften» und zugleich der Leerlauf («Mangel an Transportmitteln»), diese sichtbaren Kennzeichen der Planwirtschaft (alias konservativer Modernisierung), das Bauprojekt «von allerhöchster Dringlichkeit» auf Dauer begleiten. Dafür durfte der riesige Hotelkomplex seine Inbetriebnahme dann etappen- und fassadenweise feiern (als Studenten der Nachkriegszeit gingen wir manchmal noch ins «Grand-Hotel mit vorzüglicher Küche und massvollen Preisen»).

1937, im denkwürdigen Jahr des «grossen Terrors», sollten Saweljew und Stapran in der «Prawda» Schtschussew denunzieren, der für seine «antisowjetischen, konterrevolutionären Einstellungen» und «für seine dem Sozialismus fremden Interessen» bekannt sei - Beschuldigungen, die für eine Erschiessung ausgereicht hätten. Es ergab sich, dass Schtschussew, Akademiemitglied noch aus vorrevolutionärer Zeit, unterm Beschuss der «Reaktionen der Werktätigen» mit vorübergehenden Verfolgungen davonkam, während das Hotel zu einem der markanten Orte Moskaus wurde. Hatten die «Gäste der Hauptstadt» das (übrigens von demselben Schtschussew erbaute) Mausoleum besucht, hielten sie es für einen Glücksfall, wenn sie, gleich nebenan, noch im allseits beliebten Eiscafé auf dem Dach des Hotels sitzen durften, von wo sie eine Sicht auf ein Moskau noch ohne Hochhäuser hatten. So ist das Hotel Moskwa nicht nur eine stalinistische Legende, sondern in der Aureole von Pro und Contra auch ein Denkmal für Geschichte und Kultur der Stalinzeit.


Ein wenig Theorie

Heute wird in Moll über das Hotel geschrieben: «Nach Meinung der Stadtverwaltung entspricht das - in direkter wie übertragener Bedeutung - unansehnliche Gebäude, was seinen Komfort angeht, heute nicht mehr dem Standort im Zentrum der Hauptstadt. Ausserdem beträgt nach Angaben der Hauptstadtverwaltung der Verschleiss des Hotels heute mehr als 60 Prozent. Die notwendigen Investitionen werden auf 250 bis 350 Millionen Dollar geschätzt.» Dem Minister ist es nicht gelungen, das strittige Objekt in die «Föderationsliste der Geschichts- und Kulturdenkmäler» aufzunehmen, und so wird anstelle des sozialistischen «Meisterwerks» nun - dasselbe nochmals erbaut, bloss kapitalistisch («nach den ursprünglichen Entwürfen von Schtschussew, Stapran und Saweljew»). Entsprechend kehrt die Ankündigung im Tonfall zu den Ursprüngen zurück, allerdings in kapitalistischen Begriffen: «erstklassiges Fünf-Sterne-Hotel», «Shoppingcenter, Recreation- und Funcenter», «Office Facilities». Es ging auch nicht ohne Bankettsaal ab, und was Marmor und Pomp betrifft - wie könnte das Empire der Stalinära mit der heutigen Zeit mithalten.

Natürlich ist es schade um die Möbel aus hochwertigem Holz (sie waren seinerzeit von Hand gefertigt worden), die Zimmerdecken von Lansere und überhaupt um das «Denkmal». Doch erhebt sich die theoretische Frage: In welche Liste liesse sich dieses neu-alte Bauwerk aufnehmen? Kulturtheoretikern bietet das heutige Moskau knifflige Aufgaben. Luschkow, Moskaus berühmter Bürgermeister, wird sich selber kaum als «postmodern» bezeichnen. Aber die demonstrative Wiedererrichtung der Iberischen Muttergotteskapelle am Aufgang zum Roten Platz, in Sichtweite des Hotels Moskwa, fällt in seine Ägide, ganz zu schweigen von der Christ-Erlöser- Kirche. Für den «Aura»-Begriff des Modernisten Walter Benjamin sind beide eine Herausforderung. Immerhin wurden sie von den Bolschewisten abgerissen. Wird nun aber das von den Bolschewisten erbaute Hotel abgerissen und neu aufgebaut - lässt dies nicht das Stadtzentrum zu einer Art Theaterdekoration vor dem Hintergrund der Kremlmauer werden?

Investition heisst das Schlüsselwort für Theorie und Praxis der postsowjetischen Postmoderne. Der neue kapitalistische «Inhalt», der das - der «Form» nach sozialistische - Denkmal erfüllt, besteht offenbar aus dem Kampf der Investoren um einen Platz unter den Kreml-Sternen. Die Peripetien dieses Kampfes sind aber bisher so undurchschaubar und die Zukunft ist so unklar, dass wir ihn künftigen Kulturtheoretikern überlassen.

PS: Umsichtige Hauptstädte lassen ihre Denkmäler (und das schon vor unserer Zeit) nicht dermassen verkommen. In der Metrostation am Majakowski-Platz habe ich spätabends selbst gesehen, wie halbedler rosa Rhodonit durch schlichten Marmor ersetzt wurde. Ob hier auch ein Investor dahinter steckt?

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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