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Wie eine Stadt entsteht
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Über den abenteuerlichen Schwarzmarkt von Brcko: Eine Stadt, entstanden in Selbstorganisation.

1. Februar 2002 - Peter Lachnit
In der Nähe der bosnischen Stadt Brcko befindet sich Europas größter Schwarzmarkt. 20 Kilometer lang erstrecken sich rechts und links der Straße Bretterbuden, Metallverschläge, einige gemauerte Bauten. Über 2000 Geschäfte, 65 Cafés, 7 Nachtclubs. Verkauft wird hier alles, Klopapier genauso wie Hühner oder Badewannen. Von der Bosch-Bohrmaschine über Adidas-Trainingshosen bis zur Rolex-Uhr findet man hier alles, was die Markenartikelgesellschaft wertschätzt. Echt ist nahezu nichts davon, das meiste sind Raubkopien und Imitate. Der Name des Ortes: Arizona-Markt.


Arizona Road

Der Name Arizona kommt von der Praxis der in Bosnien stationierten amerikanischen Truppen, Straßenverbindungen nach US-amerikanischen Bundesstaten zu benennen. Die „Arizona Road“ führt von Tuzla nach Sarajewo. Doch der Name verbindet sich auch mit dem Wilden Westen, von dem im Zusammenhang mit dem Markt immer wieder die Rede ist: Arizona würde einer frühen amerikanischen Goldgräberstadt gleichen, heißt es, boomend und gesetzlos zugleich. Und außerdem: Heißt nicht auch ein Film des aus Bosnien stammenden Regisseurs Emir Kusturica Arizona Dream?

Die bosnisch-österreichische Architektin Azra Aksamija, die seit Beginn der 90er Jahre in Österreich lebt, hat die Entwicklung von Arizona seit Beginn verfolgt. Es sei wie eine Laborsituation, sagt sie: Ein Prozess, der sich sonst über Jahrhunderte erstreckt - nämlich die Entstehung einer Stadt - kann hier innerhalb weniger Jahre nachvollzogen werden. „Für mich als Architektin war das die einmalige Möglichkeit bei der Entstehung einer Stadt dabei zu sein.“ Die Bascaraija etwa, das Basarviertel in Sarajewo, habe 400 Jahre gebraucht, um genauso groß und so ausdifferenziert wie Arizona zu werden.


Chaotischer Organismus

Der Arizona-Markt ist ein chaotisch wirkender Organismus, inmitten von Minenfeldern mit Totenkopf-Warnschildern und zerstörten Häusern. Auf der Hauptstrasse kommt der Verkehr immer wieder zum Erliegen, zwischen den Autos schlängeln sich die Käufer hindurch. Die schmalen Gänge des Marktes werden von grünen Plastikplanen überspannt, immer wieder ertönt Kassettenmusik.
Entstanden ist der Arizona-Markt hier im entmilitarisierten Gebiet, indem die Leute aus den Kofferräumen der Autos heraus verkauft haben. Bald wurden die Einrichtungen beständiger, Zelte, kleine Kojen, Container errichtet. Dann wurden die ersten Holzhäuser gebaut, und mittlerweile gibt es gemauerte ein- und zweistöckige Häuser und Einkaufshallen.


Selbstorganisation

Das anfängliche Chaos wurde in Selbstorganisation reguliert: Mittlerweile gibt es auf Arizona Einbahnstrassen und Parkverbote. In Eigenregie wurden die Wege asphaltiert, und sogar Hausnummern gibt es schon in Arizona, allerdings ziemlich ungeordnet - so wie man das aus Dörfern kennt, wo Nummer 27 und Nummer 28 sicher nicht nebeneinander zu finden sind.

Zu Anfang war der Markt ziemlich gefährlich, Autodiebstähle standen auf der Tagesordnung. Das hat sich mittlerweile aber geändert. Heute wird aufgepasst, dass der Kundschaft nichts passiert, denn sonst würden die Kunden nicht mehr kommen.


Ausdifferenzierung

Wie bei einem orientalischen Basar hat sich auf Arizona eine Aufteilung in Nutzungszonen herausgebildet: hier die Auto-Ersatzteilläden, dort der Gemüsemarkt, da die Handelsgasse der Plastikhändler.

Arizona ist mittlerweile eine richtige kleine Stadt geworden. Aber: Alle Bauten sind ohne Genehmigung errichtet worden, der Strom kommt aus angezapften Leitungen, die Händler zahlen keine Steuern, es gibt Bordelle, Drogen- und Frauenhandel.


Regulierungsplan

Sowohl den bosnischen Behörden, als auch den internationalen Organisationen ist der Markt daher ein Dorn im Auge. Immer wieder hat es Pläne zu seiner Schließung gegeben, realisiert wurden sie aber nie - schließlich leben an die 30.000 Menschen in der Umgebung vom Markt, und eine Schließung hätte dramatische soziale Auswirkungen. Jetzt haben die Behörden unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft einen Regulierungsplan ausgearbeitet, der die Kontrolle des Markts durch den Staat gewährleisten soll.

Für die einen ist Arizona ein gesetzloser Ort, der von der Mafia kontrolliert wird, für die anderen ein Ort der Begegnung und der Selbstorganisation. War nicht auch Amerika aus dem Wilden Westen heraus entstanden? Azra Akaamija, die bosnisch-österreichische Architektin, spricht sich gegen einen Regulierungsplan nach westlichen Vorstellungen aus. Das Modell des Shopping-Centers, meint sie, sei hier nicht anwendbar.


Shopping-Mall?

Sie will statt „Planung von oben“ die produktive Kraft der Selbstorganisation der Menschen nützen. Doch klingt das nicht ein wenig nach Sozialromantik? Schließlich kann sich kein moderner Staat exterritoriale Zonen unter Mafia-Einfluss mit Steuerverweigerung leisten, und Bosnien ist gerade dabei, staatliche Strukturen wiederaufzubauen. Doch vielleicht ist diese Diskussion ohnehin schon überholt. Denn für die geplante Shopping-Mall wird bereits mit einem italienischer Investor verhandelt.

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