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Schatzkammer der Bauhausarchitektur
Neue Zürcher Zeitung

Schauplatz Tel Aviv

Die „weisse Stadt“ besinnt sich auf ihr bauliches Erbe

3. Dezember 2003 - Naomi Bubis
Die Unesco hat Tel Aviv zum Weltkulturerbe erklärt. Zu verdanken ist dies den 4000 Gebäuden im «Bauhausstil», die in den dreissiger Jahren errichtet wurden. Bemerkenswert an der Nominierung Tel Avivs ist, dass mit der 1909 gegründeten Stadt ein modernes Objekt in die renommierte Liste der Weltorganisation aufgenommen wurde; andere Unesco-Kulturstätten sind entweder Naturwunder oder Tausende von Jahren alt.

Tel Aviv ist weltweit die einzige Stadt, deren Zentrum fast komplett im International Style erbaut wurde. Viele dieser Bauten sind heute jedoch verfallen und sanierungsbedürftig. An den einst hell getünchten Fassaden, die Tel Aviv den Namen «white city» eintrugen, nagen die Zeit und die salzigen Meerwinde. Ein unrühmliches Beispiel für die Vernachlässigung und Entstellung eines historischen Objekts ist der Zustand des ersten auf Säulen errichteten Gebäudes der Stadt, des 1934 von Zeev Rechter entworfenen «Engel- Hauses» auf dem vornehmen Rothschild-Boulevard. Die typische, freie Erdgeschosszone ist zugemauert, die Balkone an der Stirnseite sind geschlossen, der helle Verputz ist ergraut.


Späte Sensibilisierung

Es dauerte lange, bis sich die Stadt ihres architektonischen Erbes annahm. Seit Anfang der neunziger Jahre wächst das Interesse, 1994 fand erstmals eine Bauhauskonferenz in Tel Aviv statt, die eine breitere Öffentlichkeit für die wertvolle Bausubstanz sensibilisieren sollte. Mit Engagement und professionellem Biss leitete Nitza Szmuk jahrelang die «Preservation Group» der Stadtverwaltung. Tel Aviv habe eine einzigartige Ansammlung internationaler moderner Architektur, sagt Szmuk. Die aus Europa geflüchteten jüdischen Architekten hätten, von ihren Vorbildern Le Corbusier, Mies van der Rohe, Walter Gropius und Erich Mendelsohn beeinflusst, ein eigenständiges Idiom gefunden, um den klimatischen und regionalen Anfordernissen gerecht zu werden, erklärt sie. Die als Antithese zur totalitären architektonischen Formensprache der Nazis angewandte progressive Architektur reflektiert mit ihren kubischen Volumen und dem Einsatz von Stahlträgern die anbrechende Moderne im damaligen Palästina. Einige der wichtigsten Architekten Israels studierten an den legendären Schulen in Weimar und Dessau, bis diese 1933 nach Hitlers Machtergreifung geschlossen wurden: so etwa Shmuel Miestiechkin, Munio Gitai-Weinraub und Arieh Sharon, der sich als Erster für den sozialen Wohnungsbau in Tel Aviv einsetzte.

Charakteristische Merkmale des Tel Aviver «Bauhausstils» sind Flachdächer, vertikale Lichtleisten über den Treppenhäusern, zum Sonnenschutz verstellbare Jalousien, «brise-soleil» an den Fenstern und Balkone, die als «Schürzen» weit nach unten verlängert wurden, um Schatten zu spenden. Die Wohnhäuser stehen auf Säulen, den «Pilotis», um den Staub aus den Erdgeschosswohnungen fernzuhalten und Platz für überdeckte Vorgärten zu schaffen. Gebaut wurde mit Zement, Gips und Sandstein. Bisher wurden auf Initiative der Stadträtin Nitza Szmuk 180 Gebäude im «Bauhausstil» renoviert, weitere 1500 stehen unter Denkmalschutz; 70 dieser Häuser finden sich auf dem südlichen Rothschild-Boulevard. Ein gelungenes Facelifting hat das ehemalige Kino Esther am zentralen Dizengoff-Platz erfahren, das als Cinema-Hotel die ursprünglichen Bauhauselemente beibehalten hat.

Seit der «Bauhausstil» wieder im Trend liegt, vermarkten Makler die meist privaten Eigentümern gehörenden Häuser zu horrenden Preisen. Renoviert wird jedoch oft auf denkbar fragwürdige Weise - indem lediglich die ausgekernte Fassade stehenbleibt und dahinter Hochhäuser in die Luft ragen. Der Vorsitzende des israelischen Unesco-Komitees für das Weltkulturerbe, Mike Turner, sagt denn auch, die Ernennung sei kein Preis im Schönheitswettbewerb. Tel Aviv sei gewählt worden, weil die gelungene Umsetzung des «Bauhausstils» in einem mediterranen Kontext mit feuchtem Klima eine herausragende kulturelle Bedeutung habe. Der gebürtige Brite Turner betont, die Unesco-Nominierung bringe zwar keine finanzielle Unterstützung mit sich, doch verleihe sie der Stadt Ansehen und Aufmerksamkeit. «Vielleicht treibt die Aufnahme in den renommierten ‹Klub› die Stadtverwaltung an, mehr zu restaurieren und einen grösseren Wert auf bauliche Ästhetik zu legen», sagt er.


Architektonisches Experimentierfeld

Das auf Sanddünen erbaute Tel Aviv wurde nicht auf der Basis eines städtebaulichen Gesamtkonzepts angelegt, die Metropole erwuchs vielmehr aus ständig neuen urbanistischen Ideen. Sie entwickelte sich vom südlichen Jaffa aus und erstreckte sich gen Nordosten entlang des Mittelmeeres. 1925 beauftragte zwar die britische Mandatsregierung den schottischen Stadtplaner Sir Patrick Geddes mit dem Entwurf eines Masterplans; als prominenter Vertreter des Konzepts der «Garden-City» plante er Gärten vor und zwischen den Wohnhäusern ein sowie begrünte Plätze und Parkanlagen in der Innenstadt. Geddes' Plan wurde jedoch nie vollständig realisiert. Um die Emigrantenflut aufzunehmen (Ende der zwanziger Jahre hatte Tel Aviv 50 000 Einwohner, 1935 bereits 120 000), musste die Stadt schnell wachsen, dafür bot die Bauhausarchitektur die beste Lösung. Im Gegensatz zur grosszügigen staatlichen Subventionierung landwirtschaftlicher Siedlungen wurde Tel Aviv vor allem durch private Unternehmer finanziert.

Der Leiter des Bauhauszentrums in Tel Aviv, Micha Gross, wünscht sich, dass die charakteristische Architektur seiner Wahlheimat nicht nur von der Unesco, sondern auch von den Einwohnern gewürdigt und angenommen werde. Auf der belebten Dizengoff-Strasse leitet der gebürtige Schweizer mit seiner Frau Shlomit seit zwei Jahren ein Geschäft, das ganz im Zeichen des Bauhauses steht. Wer sich über diese Periode informieren will, findet hier Möbelstücke, Poster und Postkarten der Epoche, Architekturbücher, Fotobände und Designobjekte wie Lampen und Aschenbecher.

Im hinteren Raum finden Wechselausstellungen statt, an der Wand prangt ein von Gross entworfener Stadtplan, auf dem die 4000 im «Bauhausstil» gestalteten Häuser von Tel Aviv markiert sind. Shlomit Gross organisiert architektonische «Bauhausführungen» durch die Innenstadt. Seit sich die Unesco der «weissen Stadt» angenommen hat, sind Shlomits Touren ausgebucht. Die engagierte «Bauhaus-Retterin» freut sich: «Endlich kommen nicht nur Journalisten und Architekturstudenten, sondern auch neugierige Bürger.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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