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21. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Nackte Hüllen und Trugbilder

Eine Ausstellung zur Denkmalpflege in Dresden

Der Streit, ob historische Bauten nur konserviert und restauriert oder aber rekonstruiert werden sollen, ist drei Dekaden nach dem Europäischen Denkmalschutzjahr von 1975 noch nicht entschieden. Nun beleuchtet eine Ausstellung von internationalem Rang im Dresdner Residenzschloss vielfältige Aspekte der Denkmalpflege in Deutschland.

Das Areal der ehemaligen Dresdner Altstadt erlebt derzeit einen dramatischen Wandel. Wo nach der Wende nur Ödland war, ist rund um die soeben vollendete Frauenkirche das Neumarktquartier im Entstehen. Touristenscharen nehmen erstaunt zur Kenntnis, wie eine wachsende Zahl historisch bekleideter Betonkonstruktionen diesen Jurassic Park des Barocks zu bevölkern beginnen. Hier wird man Zeuge davon, wie die einst prächtige, durch Krieg und Wiederaufbau geschundene Stadt mit einer architektonischen Beschwörung verlorener Ansichten ihre Identität zumindest maskenhaft zurückzugewinnen sucht. Man befindet sich aber auch am Austragungsort eines Denkmalstreits, der nach 1989 mit der Schleifung verhasster Standbilder einsetzte, sich in Dresden und andernorts an der Rekonstruktion zerstörter Bauten erhitzte und sich nun angesichts der drohenden Entsorgung des Palastes der Republik, eines erstrangigen Berliner Baudenkmals, zuspitzt.

Vom Umgang mit Monumenten

Immer geht es dabei um Bilder der Erinnerung, die Vertrautheit schaffen und den anonym gewordenen Städten ein unverwechselbares Gesicht zurückgeben sollen. Dabei kennen die meisten heutigen Bewohner das einstige Aussehen ihrer Städte höchstens von vergilbten Fotos. Was derzeit in der sächsischen Hauptstadt entsteht, hat denn auch mit dem Alltag der Dresdner kaum etwas zu tun, kommen sie doch - wie ungezählte Tagesausflügler - nur ins Zentrum, um durch eine baulich rekonstruierte Geschichte zu flanieren oder einzukaufen. Kann das Grund genug sein, um eine Stadt 60 Jahre nach der Zerstörung aufgrund alter Aufnahmen und einiger zufälliger Pläne in vermeintlich historischer Form wiederauferstehen zu lassen? Oder ist diese Stadtrekonstruktion nur eine überdeutliche Absage an den unbefriedigenden Urbanismus unserer Zeit? Macht man sich so aber nicht der Geschichtsklitterung schuldig - in Dresden wie in Berlin, wo bedeutende Bauzeugen der DDR zerstört und gleichzeitig Nazibauten wie die Reichsbank oder das Luftfahrtministerium für die bundesdeutsche Regierung umgenutzt werden?

Auf diese und andere Fragen gibt nun die Ausstellung «Zeitschichten» im Dresdner Residenzschloss mehr oder weniger klare Antworten. Die mit über tausend Exponaten - von gotischen Ritzzeichnungen über das 150-jährige Rekonstruktionsmodell der Wartburg und alte Bildarchive bis hin zum Mobiliar des Bonner Plenarsaals - verwirrend reich bestückte Schau beleuchtet alle möglichen Aspekte der deutschen Denkmalpflege seit ihren Anfängen bei Goethe und bei Schinkel. Damit erweist sie sich weit über Deutschland hinaus als relevant für die Denkmaldiskussion. Im Zentrum steht - gleichsam in einer Schau in der Schau - der Kunsthistoriker Georg Dehio (1850-1932), dessen vor exakt hundert Jahren erschienener erster Band des wegweisenden «Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler» einen Höhepunkt der Geschichte der Denkmalpflege markiert. Im Kampf gegen die Rekonstruktionssucht seiner Zeit forderte Dehio, bauliche Zeugnisse nicht anders zu behandeln «als andere Quellen der Geschichte», da deren historischer Wert wichtiger sei als der ästhetische. Von den Vorgängen in Dresden und von den Berliner Projekten wäre Dehio wohl kaum erbaut, lautete sein rigoroser Leitsatz doch «konservieren, nicht restaurieren». Entschieden distanzierte er sich von Viollet-le-Ducs Theorie der «stilreinen Verbesserung» und teilte John Ruskins Idee des «konservierenden Erhaltens». So bekämpfte er 1901 in der Streitschrift «Was wird aus dem Heidelberger Schloss werden?» den Wiederaufbau der Schlossruine. Denn: «Scheinaltertümer hinzustellen ist weder wahre Kunst noch wahre Denkmalpflege.»

Unserer Zeit sind Dehios Gebote bereits zu radikal; und auch die Denkmalpflege wägt heute in Einzelfällen vorsichtig ab. Mehr noch als der Dresdner Neumarkt veranschaulicht dies der Ort der Ausstellung selbst: das kriegsbeschädigte Residenzschloss, welches «als Zentrum der Kunst und Wissenschaft» neu gestaltet und nach historischen Abbildungen rekonstruiert wird. In der als rohe Betonstruktur wiedererrichteten Schlosskapelle und in den einstigen Prunkräumen sind derzeit die Restauratoren tätig. Doch genügen der Thronsessel von August dem Starken, einige Silberobjekte, Gemälde und die Aufnahmen der verlorenen Deckenfresken, um das Audienzgemach in seiner symbolischen und zeremoniellen Pracht wiederauferstehen zu lassen? Oder sollten diese Überbleibsel nicht besser in den kahlen, ungeschönten Raumhüllen gezeigt werden? Die Verfechter der Rekonstruktion können in der Ausstellung indes darauf verweisen, dass der Kölner Dom oder die Wartburg im 19. Jahrhundert nicht nur restauriert, sondern als Nationaldenkmäler weitgehend neu errichtet wurden.

An Beispielen wie der 1906 abgebrannten und sogleich wiederaufgebauten St.-Michaelis-Kirche in Hamburg, den gescheiterten Rekonstruktionsversuchen der römischen Thermen von Trier oder der Restaurierung des Bauhauses in Dessau wird der Geschichtlichkeit des Denkmals im Kontext von Konservieren, Restaurieren, Ergänzen, Sanieren und Rekonstruieren nachgespürt. Aber auch die in der jüngsten Vergangenheit vorgenommene Aufwertung von Wohnanlagen, Fabriken und Verkehrsbauten zu Baudenkmälern wird angesprochen. Diese Vermehrung von Schutzobjekten führte dazu, dass sich der Staat - nicht nur in Deutschland - aus Geldmangel immer mehr seiner Pflicht entzieht und die «Bereinigung der Denkmal-Listen» fordert. Einen Ausweg bieten da mitunter Umnutzungen, die nicht selten zu meisterhaften Lösungen führen.

Das Bauwerk als Symbol

Die für Dehio so wichtigen Zeitschichten werden heute im Umgang mit klassisch modernen Bauten weniger hoch gewertet als die Idee des Architekten. Dass das Bewahren von Zeitschichten manchmal aber auch bei altehrwürdigen Denkmälern problematisch werden kann, wird am Braunschweiger Dom und an den mittelalterlichen Reichsburgen thematisiert, die von den Nazis zu Kultorten für Heinrich den Löwen, den «grossen Kolonisator des Ostens», und damit zu politischen Symbolen umgestaltet wurden. Auch das Brandenburger Tor, welches mit Originalbronzen, Gipsabgüssen und Zeichnungen den spektakulären Ein- und Ausgang der Schau darstellt, wurde im Laufe seiner wechselvollen Geschichte stets als Symbol gelesen: vom Friedens- über das Siegesmonument bis hin zum Inbegriff von Teilung und Wiedervereinigung.

Am Schluss der Ausstellung werden die praktische Denkmalpflege, ihre Theorie, ihre Methoden und ihre handwerklichen Vorgehensweisen dargelegt. Die Inszenierung all dieser Themen verwandelt die Schau mitunter in einen Irrgarten. Klärung gibt hier der Katalog, der Einzelaspekte analysiert, aber auch Gesamtperspektiven skizziert und damit zum unentbehrlichen Handbuch für all jene werden dürfte, die sich vertieft mit Fragen der Denkmalpflege auseinandersetzen möchten.

[ Bis 13. November. Katalog: Zeitschichten. Erkennen und Erhalten. Denkmalpflege in Deutschland. Hrsg. Ingrid Scheurmann. Kunstverlag, München 2005. 340 S., Euro 24.90. ]

7. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch am Öresund

Dynamische städtebauliche Entwicklungen in Malmö

Die lange vom Staat gegängelte schwedische Architektur steckt in der Krise. Gleichwohl versuchte Malmö vor vier Jahren, der Baukunst mit einer Wohnbauausstellung neue Impulse zu geben. Seither haben Calatrava sowie Diener & Diener die Stadt mit Gebäuden bereichert, die den Blick auch auf städtebauliche Entwicklungen lenken.

Im Schatten der lebensfrohen dänischen Metropole Kopenhagen fristete Malmö, die Schwesterstadt jenseits des Öresunds, lange ein Mauerblümchendasein. Dabei besitzt die mit knapp 270 000 Einwohnern drittgrösste Stadt Schwedens neben einem historischen Zentrum auch ein Umland, das mit wogenden Getreidefeldern und hellen Stränden im Sommer auf Besucher aus Stockholm fast schon südlich heiter wirkt. Doch diese Vorzüge der einst stolzen Arbeiterstadt wurden durch eine hartnäckige Wirtschaftskrise verdüstert, die dazu führte, dass von der Textilfabrik bis zur Werftanlage ein Betrieb nach dem anderen seine Tore schliessen musste und bis in die neunziger Jahre über 30 000 Arbeitsplätze verloren gingen. Erste Silberstreifen liessen sich nach 1995 am Horizont ausmachen; und im neuen Jahrtausend profitierte auch Malmö vom jüngsten Boom der schwedischen Volkswirtschaft.

Die Brücke über den Sund

Entscheidend gestärkt wurde Malmös neu erwachtes Selbstbewusstsein durch das Jahrhundertwerk der Öresund-Brücke, die nach siebenjähriger Bauzeit am 1. Juli 2000 eröffnet werden konnte. Die 16 Kilometer lange Auto- und Eisenbahnverbindung zwischen dem dänischen Seeland und der südschwedischen Provinz Schonen verläuft zunächst in einem Tunnel vom Flughafen Kastrup zur Insel Peberholm. Dort beginnt die 8 Kilometer lange Brücke, deren Mittelstück aus einer 490 Meter langen Schrägseilkonstruktion besteht. Diese wird von vier 203 Meter hohen Pylonen getragen, den Wahrzeichen des neu entstandenen binationalen Wirtschaftsraums und Forschungsstandorts am Sund. In diesem leben auf einer Fläche, die etwa der halben Schweiz entspricht, rund 3,5 Millionen Einwohner.

Heute pendeln täglich einige tausend Schweden von Malmö mit Zug oder Auto auf einer gut halbstündigen Fahrt nach Kopenhagen, um dort vom reichhaltigeren Arbeits-, Kultur- und Freizeitangebot zu profitieren, während viele Dänen sich in Malmö niedergelassen haben - angelockt von einem attraktiveren Wohnungsangebot, niedrigeren Mietzinsen und günstigeren Lebenshaltungskosten. So munkelt man in Malmö, dass die 147 Wohnungen in Santiago Calatravas luxuriösem «Turning Torso» in diesen Tagen vor allem von zahlungskräftigen Dänen bezogen werden.

Malmös wiedergefundener Optimismus manifestiert sich aber nicht nur im Häuserbau, sondern auch im Ausbau der 1998 eröffneten Högskola, die heute in sechs Abteilungen rund 20 000 Studenten zählt. Sie ist Teil der 1997 gegründeten binationalen Öresund-Universität, der inzwischen 14 Hochschulen mit rund 140 000 Studenten und 12 000 Wissenschaftern angehören. Um der auf verschiedene Bauten in der Stadt verteilten Hochschule von Malmö ein Zentrum zu verleihen, wurde 1997 - also noch vor ihrer Eröffnung - ein internationaler städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben mit dem Ziel, auf den nicht mehr der Schifffahrt dienenden, inselartigen Pieranlagen im historischen Innenhafen beim Hauptbahnhof den Campus Universitetsholmen zu realisieren. Mit ihrem von der Jury für seine «urbanistischen, architektonischen, funktionalen und ökologischen Qualitäten» gelobten Projekt, das vorsieht, «die bestehenden Hafenanlagen und Lagerhäuser weitgehend zu erhalten und in das Bebauungskonzept zu integrieren», schwangen die Basler Architekten Diener & Diener obenaus.

Wie ein geschliffener Diamant

Als zentralen Neubau entwarfen sie direkt am Wasser das rund 150 Meter lange und 50 Meter breite Orkanen-Gebäude, in welches sich in diesem Sommer das Lehrerausbildungszentrum und die Universitätsbibliothek einquartieren konnten. Bezieht sich seine Grossform auf die bald pittoresken, bald sachlichen Hafenbauten, die teilweise schon für universitäre Zwecke umgenutzt wurden, so verweist die bald opak und olivgrün, bald smaragdfarben und transluzent erscheinende Glashülle auf die strukturelle Erneuerung der Hafeninsel. Die von Moiré-Effekten belebte Architektur spiegelt sich im Wasser, blickt aber auch auf einen kleinen Vorplatz, der sich optisch bis zu den jenseits des schmalen Hafenbeckens gelegenen Baudenkmälern von Post und Hauptbahnhof weitet. Fünf hell verputzte Höfe gliedern das grosse, sechsgeschossige Volumen, das im Parterre passagenartige Querverbindungen bietet. In der Eingangshalle wird der öffentliche Charakter durch ein Café und einen Ausstellungsraum betont. Weiter finden sich in dem Gebäude Studienräume, Auditorien, eine Sporthalle und - als Anziehungspunkt - die Hauptbibliothek der Schule.

Ungünstig auf die Ausführung des Projekts wirkten sich die staatlichen Auflagen aus, die dazu führten, dass Diener & Diener ihre entworfene Innenraumgestaltung nicht realisieren konnten. So wirkt sich der durch staatliche Vorschriften beschränkte Spielraum der Architekten, obwohl er in jüngster Zeit etwas erweitert wurde, noch immer negativ auf die Baukultur aus. Dennoch träumt Malmö von Spitzenarchitektur, mit der es im internationalen Standortwettbewerb punkten kann. Nicht ohne Erfolg, denn mit dem geschliffenen Diamanten des Orkanen-Gebäudes hat Malmö eine baukünstlerische Ikone erhalten - zumindest, was die schöne Hülle anbelangt.

Malmö am Meer

Vom Festland führen heute eine neue Fussgängerbrücke und die ebenfalls erst kürzlich eröffnete Universitetsborn hinüber zum bald neokubistisch, bald neoexpressiv wirkenden Neubau, der das Scharnier zwischen der Altstadt und einem weitläufigen Entwicklungsgebiet bildet. Denn hinter dem Orkanen-Haus weitet sich die nahezu achteckige, fast gänzlich von Kanälen, Hafenanlagen und Meer begrenzte Halbinsel des Västra Hamnen genannten Westhafens. Auf dem 150 Hektaren grossen Areal, das einst von der Kockums- Werft und danach zum Teil von den Fabrikationshallen des Autoherstellers Saab-Scania belegt war, erblickt man als ersten Orientierungspunkt ein dreieckiges Sechziger-Jahre-Hochhaus mit konkav geschwungenen Fassaden. Dann geht es vorbei an alten Schuppen, Baustellen und dem etwas verloren dastehenden Stadtarchiv zum rund einen Kilometer nördlich der Altstadt gelegenen Dockplatsen, der bald schon das pulsierende Herz des neuen Dockan-Viertels werden soll. Auf dem in den Aussenhafen hineinragenden Pier sind schon die ersten Wohnhäuser vollendet. In drei weiteren Bauphasen sollen rund um das künftig als Jachthafen genutzte und von einer Fussgängerpromenade gefasste Dock sechsgeschossige Wohnblocks entstehen, während am Dockplatsen ein zwanzigstöckiger Doppelturm als Tor zu dieser neuen Wasserwelt geplant ist, in welcher dereinst gewohnt, gearbeitet und studiert werden soll. Bereits umgebaut für die Designabteilung der Hochschule sind zwei westlich an das Dockan-Viertel anschliessende Industriehallen. Sie sollen später einmal den Übergang zu einem Geschäftsviertel mit Parkanlage markieren.

In dem nach ökologischen Grundsätzen konzipierten Stadtteil Västra Hamnen werden Fussgänger und Radfahrer besonders bevorzugt. Es gibt jedoch auch schon eine Buslinie - und demnächst wird ein Strassentunnel die Anbindung an den Innenstadtring gewähren. Zurzeit aber steht die Designhochschule noch mitten im Ödland, aus dem sich in der Ferne wie eine Fata Morgana der 190 Meter hohe «Turning Torso» von Calatrava erhebt. Südwestlich des Turms bildet die umgebaute Halle 7 der einstigen Kockums-Werft, die später eine Automontagehalle war und nun als Messestandort dient, den Kondensationskern des künftigen Saab-Quartiers. Südlich davon ist ein weiteres Wohn- und Bürogeviert geplant, für dessen ersten Bau, das siebengeschossige, aus zwei über einem Sockelbau schwebenden Baukörpern bestehende Hotel «Bilen 5», bereits Pläne des norwegischen Büros Ramstad & Bryn vorliegen.

Malmös Öffnung hin zum Meer verkörpert aber weiterhin der Calatrava-Turm, der sich dank seiner stählernen Wirbelsäule waghalsig in den Himmel schraubt. Westlich von ihm erstreckt sich jenseits eines Wasserbiotops, des Anker-Parks, bis hin zum Öresund das schönste Neubauquartier der Stadt. Sein südlicher, zwischen dem Scania-Platz und einem kleinen Jachthafen gelegener Bereich wurde im Hinblick auf die Bomässa genannte Wohnausstellung «Bo01» realisiert. Im Gegensatz zu früheren schwedischen Baumessen wurde die im Sommer 2001 durchgeführte Veranstaltung erstmals international ausgerichtet, weshalb neben bekannten schwedischen Architekten wie Gert Wingrdh und Ralph Erskine auch der Finne Kai Wartiainen, der Schweizer Mario Campi und das amerikanische Büro Moore Ruble Yudell mit Aufträgen betraut wurden. Auch wenn damals das Echo wegen architektonischer Vorbehalte eher verhalten blieb (NZZ 6. 7. 01), vermag dieses Quartier urbanistisch und von der Lebensqualität her zu überzeugen.

Im Hinblick auf die Baumesse bestimmte die Stadt 32 Teams von Architekten und Investoren, die die einzelnen Grundstücke auf dem Areal, das sie zuvor dem Autokonzern Saab abgekauft hatte, nach neusten ökologischen Gesichtspunkten bebauen sollten. Seit Abschluss der «Bo01» sind zudem am Scania-Platz ein U-förmiger Zentrumsbau mit Wohnungen und Geschäftslokalitäten sowie nördlich davon die beiden malerisch bunten, auf einen zentralen Wasserlauf ausgerichteten Reihenhauszeilen des «Europäischen Dorfes» entstanden. Ihm zum Meer hin vorgelagert ist der von Thorbjörn Andersson, einem Star der schwedischen Landschaftsarchitektur, mit Grünflächen, Holztreppen und Aussichtsplattformen gestaltete Daniaparken, der zusammen mit den Boulevardcafés an der Sundspromenaden als neue Attraktion von Malmö gilt.

Ökologische Zukunftsstadt

Akzente an der meist fünfgeschossig bebauten Uferpromenade setzten das in einer hohen Maisonettedachwohnung gipfelnde Scaniaplatsen- Gebäude von Erskine und das von einer geometrisch-abstrakten Fassade geprägte Kajplats-Haus von Wingrdh. Diese städtische Häuserfront soll die dahinter gelegenen Wohnzonen vor stürmischen Westwinden schützen. Niedrige Blocks, Reihenhäuser und Einzelbauten wechseln hier mit kleinen Grünanlagen und Teichen ab. Anders als etwa die völlig durchgestalteten Parkanlagen in Zürich-Nord, die zwar von der Fachwelt gelobt, von der Bevölkerung aber kaum genutzt werden, sind hier die weniger auf vordergründige Effekte ausgerichteten Freiräume bei den Bewohnern beliebt. Überhaupt wirkt dieses über einem verschachtelten Grundriss errichtete Neubauviertel, in dem sich die schöne Lage am Sund mit kleinstädtischer Intimität vereint, trotz seiner eher mittelmässigen Architektur sehr attraktiv.

Ungewiss ist allerdings, ob der heutige Eindruck, man befinde sich in einem gewachsenen Ensemble und nicht in einer Retortensiedlung, auch anhalten wird, wenn Västra Hamnen dereinst voll ausgebaut sein und 10 000 Einwohner sowie 20 000 Arbeits- und Studienplätze zählen wird. Die Stadt Malmö tut aber alles, um den Einwohnern mit neusten urbanistischen Erkenntnissen das Leben zu versüssen. - Und dann ist da ja auch noch die Sundspromenaden, auf der man sich sogar an einem windig nassen Sonntag hinter grossen Fensterscheiben bei einer Insalata caprese wie in den Ferien fühlen kann. In diesem Paradies des Mittelstandes ist von den düsteren Krisenzeiten nichts mehr zu spüren. Vielmehr erlebt man hier hautnah, wie sich die boomende Region am Öresund als Stadt der Zukunft zu definieren sucht, in welcher Mensch und Natur wieder möglichst in Einklang leben.

7. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

In den Himmel gedreht

Der «Turning Torso» von Santiago Calatrava in Malmö

In den vergangenen Jahren ist der Hochhausbau weitgehend zur Fassadenarchitektur verkommen. Nur noch wenige Wolkenkratzer können es heute in der Übereinstimmung von Konstruktion und äusserer Erscheinung mit Meisterwerken wie der Torre Velasca von BBPR in Mailand aufnehmen. Zu diesen gehört zweifellos der «Turning Torso», den der in Zürich tätige Spanier Santiago Calatrava als Wahrzeichen des boomenden Stadterweiterungsgebiets Västra Hamnen (Westhafen) in Malmö entworfen hat. Das soeben vollendete Bauwerk mag von einem gewissen Manierismus zeugen. Dennoch beweist es, dass man in der Hochhausarchitektur die Ingenieurtechnik noch immer zeichenhaft inszenieren kann.

Blickt man an der Küste Seelands hinaus aufs Meer, so erscheint bei klarer Sicht der Turm jenseits des Öresunds wie der Mast eines Segelschiffs. Doch auf der Fahrt hinüber nach Malmö erkennt man, dass Calatravas Wolkenkratzer nicht nur ein Zeichen ist, sondern auch eine selbstbewusste Antwort auf die von vier riesigen Pylonen getragene Schrägseilbrücke, die das Mittelstück der vor fünf Jahren eröffneten Verbindung zwischen Dänemark und Schweden darstellt.

Möglich wurde Calatravas raffinierte Vereinigung von freier Kunst, strenger Geometrie und moderner Technologie dank der Initiative des vormaligen Direktors der schwedischen Wohnbaugesellschaft HSB, der den Valencianer mit einem Hochhaus in der Art von dessen Skulptur «Twisting Torso» beauftragte. Calatrava entwarf daraufhin einen 190 Meter hohen, 54-geschossigen Turm, dessen neun gigantische Wirbel sich um einen zentralen Erschliessungskern aus Stahlbeton drehen. Aufgefangen wird die Bewegung von einem stählernen «Rückgrat», das Erinnerungen wachruft an die Schubladenfrauen auf Salvador Dalís «Brennender Giraffe». Während der Turm in den beiden untersten Volumen Büros beherbergt, finden sich in den sieben oberen Wirbeln Wohnungen. Die 147 unterschiedlich grossen Apartments bieten zwar eine weite Sicht über Sund und Stadt, sind aber wegen des voluminösen Erschliessungskerns vom Grundriss her weder sehr praktisch noch wirklich innovativ.

22. September 2005 Neue Zürcher Zeitung

Städtebau als Kunst

Das Gesamtwerk von Rob Krier im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt

Mit Bauten in Berlin, Salzburg und Wien sowie mit traditionalistischen Stadtentwürfen wurde Rob Krier in den achtziger Jahren zu einem Hauptvertreter der Postmoderne in Europa. Heute findet seine Architektur vor allem in den Niederlanden Anklang. Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt stellt nun sein Gesamtwerk zur Diskussion.

Immer mehr Städte errichten heute spektakuläre Bauwerke, um sich in einer architektonischen Schönheitskonkurrenz den Touristen, Investoren und Unternehmern anzubieten. Darunter leidet letztlich das urbanistische Ganze, das im 20. Jahrhundert durch Krieg und moderne Theorien ohnehin schon fragmentiert wurde. Einzig während der Blütezeit der postmodernen Baukunst glaubte man, berauscht von der «Strada Novissima» der ersten Architekturbiennale von 1980 in Venedig, der Traum von der traditionellen Stadt mit ihren Strassen- und Hofrandbebauungen könne noch einmal Wirklichkeit werden. Inzwischen kämpfen jedoch nur noch einige Unentwegte für eine Neuordnung unserer wild wuchernden Städte - etwa Hans Kollhoff und Vittorio Magnago Lampugnani an der Zürcher ETH. Mit ihren Ideen haben sie einen schweren Stand gegenüber Stars wie dem Rotterdamer Architekten Rem Koolhaas, der verführerisch die Heterogenität der zeitgenössischen Stadt zu zelebrieren weiss. Nun aber finden ausgerechnet die sonst für ihre innovative Architektur bewunderten Niederlande Gefallen an einem nostalgischen Städtebau. Das hat - abgesehen von gewissen neokonservativen Strömungen - nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun, dass dort immer auch traditionsbewusste Architekturkonzepte, auf die sich sogar noch zeitgenössische Grossprojekte wie das von Jo Coenen geplante Céramique-Viertel in Maastricht beziehen, ihren Platz haben durften.

Romantische Stadträume

Viel weiter als Coenen mit seinem moderat modernen Städtebau geht nun der Luxemburger Rob Krier, der schon in den siebziger Jahren als Verfechter des traditionellen Städtebaus im Sinne Theodor Fischers oder Camillo Sittes Schlagzeilen machte. Mit seiner Variante des New Urbanism, die auf geschlossene Strassenräume, Hofrandbebauungen, Plätze und mit Erkern, Giebeln und Türmen dekorierte Häuser setzt, wurde Krier in den Niederlanden zum vielgefragten Wunderheiler. Als solcher rückte er in den vergangenen Jahren zusammen mit seinem Schwiegersohn Christoph Kohl der Anonymität von Suburbia zu Leibe - bald mit metropolitan anmutenden Quartieren in Amsterdam, bald mit kleinstädtisch verschlafenen Neustädten wie Brandevoort Veste bei Helmond. Dieses Phänomen wäre schon Grund genug, das Schaffen des 1938 geborenen Architekten, Künstlers und Theoretikers Rob Krier zu würdigen. Zumal sein 1975 als Plädoyer für die Stadt des 19. Jahrhunderts veröffentlichtes Buch «Stadtraum in Theorie und Praxis» zusammen mit der neun Jahre zuvor von Aldo Rossi publizierten «Architettura della città» noch heute zu den Standardwerken der Städtebauliteratur zählt.

Bei seiner neusten Ausstellung geht es dem Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt jedoch nicht nur um einen Beitrag zur kontrovers geführten Diskussion über Rob Krier als Städtebauer, sondern ebenso sehr um die Aufarbeitung von dessen architektonischem und künstlerischem Œuvre. Hat Krier doch dieser Institution vor zwei Jahren all seine Skizzen, Pläne, Modelle und Zeichnungen überlassen. Das rund 10 000 Objekte umfassende Geschenk wurde nun von Ursula Kleefisch-Jobst aufgearbeitet und zu einer sehenswerten Ausstellung verdichtet, die in einer chronologisch und thematisch verschränkten Abfolge alle Facetten von Kriers Schaffen anhand von 43 Bauten und Projekten sowie einer Auswahl seiner Farbzeichnungen und Plastiken zeigt.

Ausgehend von Kriers Kampf gegen den fortschreitenden «Verlust des Stadtraums», präsentiert die Schau zunächst dessen Stuttgarter Stadterneuerungsmodelle von 1973, das Tower-Bridge- Housing-Projekt für London und die ersten Berliner Stadtplatzentwürfe, die im Rahmen der IBA zu den einst begeistert aufgenommenen Torhaus- Anlagen an der Rauch- und an der Ritterstrasse führten. Anschliessend werden neuere urbanistische Studien vorgestellt - darunter ein Lieblingsprojekt des Architekten, die Reparatur des Quartiers rund um die Kathedrale von Amiens. Blieb dieses unrealisiert, so konnte Krier mit der Siedlung Forellenweg in Salzburg zwischen 1983 und 1990 seine wohl gültigste Anlage verwirklichen. Die komplexe Genese solcher Quartiere und Neustädte wird dann an den Beispielen des Kirchsteigfelds in Potsdam und der Brandevoort Veste detailreich erläutert.

Im Obergeschoss stehen die wunderbaren, bald von Piranesi, Schinkel oder de Chirico beeinflussten Architekturzeichnungen im Mittelpunkt. Verraten sie eine frühe Auseinandersetzung mit dem von Krier bis heute verehrten Le Corbusier, so erinnern die Bronzen verdrehter Männerkörper an Michelangelo. Eine Gruppe von ihnen steht in einer kahlen weissen Pfeilerhalle, die auf das Projekt eines «Tempels der zehn Temperamente» verweist. Dieser war als Teil der von Krier geplanten Cité Judiciaire auf dem Plateau Saint- Esprit in Luxemburg gedacht. Doch soll nun just auf dieses minimalistische Skulpturenhaus und auf den für die Gesamtkomposition so wichtigen antikisierenden Turm der Winde verzichtet werden. Was von der Cité Judiciaire derzeit gebaut wird, vermag als Erweiterung der Luxemburger Altstadt unter dem Aspekt des Malerischen zu bestehen. Allerdings muss man befürchten, dass bei der Ausführung der zwischen nordischer Renaissance und Wiener Sezession oszillierenden Bauten sich einmal mehr die Poesie der gezeichneten Architektur verflüchtigen wird.

Rationalistische Ansätze

Dass Rob Krier nicht immer dem Neotraditionalismus huldigte, den er jetzt mit so viel Erfolg in grossen Siedlungen und Geschäftszentren ausleben kann, veranschaulichen die Entwürfe aus den siebziger Jahren, welche dem Luxemburger Grossprojekt gleichsam als Antithese gegenübergestellt sind. Sie zeigen rationalistische Villen wie das weisse Würfelhaus Dickes in Luxemburg, aber auch einen 1967 zusammen mit Léon Krier erarbeiteten Entwurf für das neue Rathaus von Amsterdam, bei dem die beiden Brüder noch von den futuristischen Ideen eines Antonio Sant'Elia oder Mario Chiattone schwärmten. Wie weit entfernt ist diese aggressive Grossform vom geschmäcklerischen Erscheinungsbild des die Sprache eines Otto Wagner verballhornenden Hochhauses «Muzentoren», das den Eingang zum zentralen Resident-Quartier in Den Haag bildet! Hier sinkt Rob Krier auf das Niveau seiner Epigonen, die den von ihm aus der Beaux-Arts-Tradition entwickelten romantischen Neohistorismus zur aalglatten Kommerzarchitektur pervertierten. Damit berührt die Ausstellung auch die Problematik der baulichen Umsetzung von Kriers stets so atmosphärisch skizzierten Projekten. Dass es Krier, der Architektur als «ästhetische Überformung» von Funktion und Konstruktion versteht, aber auch besser kann, bewies er jüngst mit den rationalistisch geläuterten Klinkerbauten von Haverleij Slot bei s'Hertogenbosch.

[ Bis 30. Oktober. Katalog: Rob Krier. Ein romantischer Rationalist. Architekt und Stadtplaner. Hrsg. Ursula Kleefisch- Jobst. Springer-Verlag, Wien 2005. 227 S., Euro 29.-. ]

5. August 2005 Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch in der Zukunftsstadt

Junge Architekten bauen an einem neuen Biel

Seit der stürmischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert erlebte Biel immer wieder architektonische Expansionsphasen, als deren Leitbauten das Volkshaus und das Kongresshaus gelten. Heute bemüht sich die vor einem Jahr mit dem Wakker-Preis geehrte Stadt um eine Verdichtung nach innen, bei der vor allem die junge Szene Zeichen setzt.

Vom urbanistischen Standpunkt aus gesehen zählt Biel zu den interessantesten Städten der Schweiz. Geprägt von einer wechselhaften wirtschaftlichen Entwicklung, dehnte sich die «Zukunftsstadt» in den letzten 150 Jahren schubweise aus, ohne dabei die bereits bestehenden Teile gross zu tangieren. So besitzt Biel eine in ihrer Substanz weitgehend intakte Altstadt. An diese schmiegt sich die gut erhaltene, beidseits der Quai-Promenaden am Schüss-Kanal in Richtung See ausgreifende Stadt des 19. Jahrhunderts an mit dem grossstädtischen Zentralplatz, mit Wohnquartieren und dem spätklassizistischen Museum Schwab als architektonischem Leitbau. Die 1912 beschlossene Verlegung der Gleisanlagen nach Südwesten schuf dann Freiraum für eine nächste Stadterweiterung, deren Wahrzeichen 1932 das Volkshaus von Eduard Lanz am Guisanplatz werden sollte. Zwischen diesem Kristallisationskern und dem neuklassizistischen Bahnhof entstand ein einheitlich modernes Viertel - geprägt von lateinisch anmutenden, grossstädtischen Hofrandbebauungen mit doppelt abgetreppten Attiken.

Urbanistische Utopien

Diese geschlossene Stadtanlage wurde in den Wirtschaftswunderjahren verunklärt durch die Solitäre des Hotels Palace und des Kongresshauses, welches 1966 von Max Schlup als flacher Hallenbau mit Turmhaus vollendet wurde. Dieses skulpturale Meisterwerk sollte als Blickfang eines auf dem anschliessenden Gaswerkareal zu realisierenden Stadtzentrums einen neuen Aufbruch signalisieren. Doch diese Vision scheiterte ebenso wie die von Fritz Haller vorgeschlagene Neubebauung der Quais entlang des Schüss-Kanals mit Hochhäusern, die Biel in einer grossen Geste bis an das Seeufer hätten führen sollen.

Längst ist man von solch hochgemuten städtebaulichen Utopien abgekommen. Stattdessen setzt die als Swatch-Metropole zu neuem Selbstbewusstsein gelangte Stadt seit Mitte der neunziger Jahre auf gezielte Interventionen, die meist von jungen, mit dem internationalen Architekturdiskurs bestens vertrauten Architekten konzipiert werden. Am Anfang stand der Wunsch nach einer Aufwertung der Innenstadt, der wegen der zu erwartenden Konkurrenz des 2001 eröffneten Shoppingcenters Carrefour im Bözingenfeld, aber auch wegen der Expo 02 zu einer städtebaulichen Hauptaufgabe wurde. Diese umfasst die Neugestaltung wichtiger Platz- und Strassenräume sowie Neubauten, aber auch Renovationen in der Art des bereits Ende der achtziger Jahre von einer Arbeitsgemeinschaft um den Bieler Architekten Henri Mollet vorbildlich revitalisierten Volkshauses. Viel beachtet wurden die einfühlsam moderne Neugestaltung der «Hasard Bar» (1994) an der Bahnhofstrasse sowie der mit einer neuen Platzgestaltung verbundene Kasino-Umbau (1998) beim «Palace»-Hochhaus. Sie stammen von Bauzeit, dem heute wohl bekanntesten Bieler Büro. Vor drei Jahren konnte dann die Sanierung des Kongresshauses durch Rolf Mühlethaler aus Bern abgeschlossen werden; und 2004 wurde der vom Wiener Karl-Marx-Hof inspirierte Brühlhof an der Mattenstrasse einem sorgfältigen Facelifting durch Spaceshop unterzogen.

Einen ersten phantasievollen Eingriff in den Strassenraum nahm 1996 das inzwischen aufgelöste Büro Gebert Liechti Schmid mit dem Boulevardcafé «Chez Rüfi» an einer Querstrasse zur Nidaugasse vor. Diese von der Altstadt zum Zentralplatz führende Einkaufsmeile wurde zwischen 1997 und 2002 nach einem von Bauzeit und Simon Binggeli erarbeiteten Konzept mittels Lichtmasten und einheitlicher Bodenbeläge in einen zusammenhängend erfahrbaren Raum verwandelt. Im Rahmen dieser Transformation, die bis zum Bahnhof weitergezogen werden sollte, bildet der Zentralplatz ein Scharnier. Er wurde 2002 von einer Arbeitsgemeinschaft unter Gebert Liechti Schmid durch eine farblich hervorgehobene Bodengestaltung, eine zurückhaltende Bepflanzung, eine beruhigte Verkehrsführung sowie durch die Verlegung des Brunnens und des denkmalgeschützten Art-déco-Tramhäuschens aufgewertet. Gleichzeitig errichtete Henri Mollet im Südosten des Platzes das Geschäftshaus «Central», das mit seinem runden Eckturm die Bieler Moderne neu zu interpretieren sucht. Der formal leider nicht ganz geglückte Bau erweist sich als ein Vertreter jener dekorativ historisierenden Architektur, wie sie in den letzten Jahren vor allem im Bahnhofquartier - etwa mit dem 1996 vollendeten Swisscom-Gebäude von Andry & Habermann - aufgekommen ist.

Baukünstlerisch weit subtiler ist die von Kistler & Vogt im Hinblick auf die Expo 02 ebenfalls beim Bahnhof realisierte Parkgarage. Sie wird durch ein Oberlicht, das an eine kistenförmige minimalistische Skulptur erinnert, erhellt und leuchtet nachts wie eine Laterne. Von diesen Architekten stammt auch die unter der Gleisanlage hindurchführende, sich Richtung See perspektivisch weitende Passage. Sie verbindet den Bahnhofplatz - der nach einem 2004 gekürten Wettbewerbsprojekt von Bauzeit und Binggeli durch einen neuen Belag und Kleinarchitekturen aufgewertet werden soll - mit dem vor drei Jahren eingeweihten Robert-Walser-Platz. Das aus drei hintereinander gestaffelten, spitz in Richtung See weisenden Raumsequenzen bestehende Platzgefüge wurde von Bart & Buchhofer als ein die industrielle Vergangenheit des Ortes beschwörender, aber exakt strukturierter Eschenhain inszeniert mit zentraler Kiesfläche, zwei langen Sitzbänken, Trinkbrunnen und an «Bahn-Oberleitungen» aufgehängten Leuchtkörpern. Für eine räumliche Definierung des Platzes mittels Bäumen entschieden sich die Architekten nicht zuletzt deswegen, weil dessen architektonisches Erscheinungsbild, abgesehen vom Haifischschlund der Bahnunterführung, dem Medienhaus von Gebert Liechti Schmid und Mäder sowie der einstigen, aus dem Jahr 1948 datierenden General- Motors-Wagenhalle, noch nicht feststand.

Architektonischer Aufbruch

Nun soll bis 2007 ein Aushängeschild der jungen Bieler Szene neben dem Medienhaus errichtet werden. Es handelt sich dabei um den von vertikalen Blenden rhythmisierten Glasbau der Kaufmännischen Berufsschule Biel, mit dem das junge, durch das Erweiterungsprojekt des Historischen Museums Bern bekannt gewordene Architektenteam :mlzd sein erstes bedeutendes Werk in Biel realisieren kann. Damit dürfte der Robert- Walser-Platz bald schon zu einem Symbol für Biels architektonischen Aufbruch werden. Dieser wurde durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren möglich. Entscheidend war die durch Studienaufträge und Wettbewerbe betriebene Architekturförderung unter Baudirektor Ulrich Haag. Man kann daher dem neuen Baudirektor, Hubert Klopfenstein, nur empfehlen, das Engagement seines Vorgängers weiterzuführen. Zum guten architektonischen Klima trägt aber auch die Tatsache bei, dass keine übermächtigen Büros den kreativen Jungarchitekten, die oft auch ausserhalb der Stadt erfolgreich tätig sind, vor dem Licht stehen. Dank der Kleinräumigkeit, aber auch der Tätigkeit des Architekturforums kennen sich hier die Architekten, tauschen sich ohne Angst vor Ideendiebstahl aus und bilden für gewisse Projekte immer wieder büroübergreifende Teams. Bedauerlich ist nur, dass die Architekturschule der HTL Biel jüngst nach Burgdorf verlegt wurde. Massstäbe setzen aber weiterhin zwei 1999 eröffnete Hauptwerke der neuen Deutschschweizer Architektur: die Holzfachschule von Meili & Peter sowie die Erweiterung des Centre Pasquart von Diener & Diener. Diesem vielbeachteten Kulturbau antwortete 2003 Bauzeit mit der Renovation und Erweiterung des spätklassizistischen Museums Schwab.

Hier wird am Einzelobjekt jener Hang zur Verdichtung nach innen deutlich, der auch in den städtebaulichen Entwicklungsschwerpunkten auszumachen ist. Erwähnt sei das nordöstlich an das Kongresshaus anschliessende und bis auf den als Jugendzentrum genutzten Gaskessel geräumte Gas- und Drahtwerk-Areal. Nachdem hier die optimistischen Planungen der sechziger Jahre gescheitert sind, soll das Gelände nun in einem neuen Anlauf mit kammartigen und L-förmigen Wohn- und Bürobauten so bebaut werden, dass eine 300 Meter lange, geschlossen auf das Kongresshaus ausgerichtete Esplanade entsteht, in deren Mitte sich weiterhin die Halbkugel des Jugendzentrums erheben soll. Von hier schweift jetzt der Blick noch ungehindert in Richtung Industriequartier, wo sich im Vorjahr auf einem Bürobau an der Mattenstrasse ein zwischen technoider Zeltarchitektur und silberglänzendem Raumschiff oszillierendes Objekt niedergelassen hat. Dieser attraktive Dachaufsatz von Sollberger & Bögli ist nur einer der Auf- und Anbauten, die jüngst in Biel entstanden sind. So schnitten etwa Bart & Buchhofer einem kleinen Einfamilienhaus an der Neuenburgstrasse das Giebeldach ab und stockten es um ein möbelartiges, der Ästhetik der siebziger Jahre verpflichtetes Volumen auf. Henri Mollet hingegen setzte mit einem roten Kubus einen frischen Akzent zwischen altehrwürdige Chalets im Rebbergquartier am Jurahang. In einen Dialog mit diesem Würfel treten weiter südlich ein im Holzelementbau errichtetes Wohnhaus von Markus Bolliger und bald wohl auch eine von SPAX geplante, holländisch-exzentrisch anmutende Stadtvilla. Auf Wohnhäuser anderer Bieler Architekten trifft man zudem in benachbarten Seegemeinden wie Ipsach, Sutz oder Twann.

Tradition des Wohnungsbaus

Einen ähnlichen Blickfang wie die Villen am Jurahang bilden die hoch am Berg die Dorfkante von Magglingen markierenden Gebäude des Bundesamtes für Sport: die alte Schulanlage, die von Spaceshop in einem zeitgemässen Idiom aufgefrischt und erweitert werden soll, die Spielsporthalle von Bauzeit und der Bellavista-Neubau von Leimer & Tschanz. - Schaut man von Magglingen aus hinunter auf die Stadt, so kann man sich schon jetzt die künftige Kongresshaus-Esplanade als neues Herz von Biel vorstellen. Bereits steht an deren nordöstlichem Ende ein sich winkelförmig zur renaturierten Schüss hin öffnender Wohnblock von Kistler & Vogt, auf den südwärts ein Neubau derselben Architekten mit Alters- und Mietwohnungen folgen soll. Schon vor diesen Projekten konnte dieses Büro mit einem aus Duplex- und Geschosswohnungen bestehenden Riegel samt Attika und weit vorspringenden Balkonen die Initialzündung zur Wohnsiedlung Löhre geben, während Bauzeit zusammen mit anderen Architekten gerade eben die Wohnanlage Madretschried fertigstellte. Diese Bauten lassen Erinnerungen an die goldenen Zeiten der Bieler Wohnbauförderung aufkommen, von der noch heute Arbeiten von Eduard Lanz zeugen.

Weit fortgeschritten ist inzwischen die Bebauung des Renfer-Areals, wo auf einer ehemaligen Lagerfläche südöstlich der 1998 von Simon Binggeli umgebauten Renfer-Villa neben durchschnittlichen Renditebauten auch drei bemerkenswerte, kubisch-einfache Reihenhauszeilen der Architektengemeinschaft Bauzeit, Joliat & Suter sowie Molari & Wick entstanden. Ihnen antworten jenseits der Schüss zwei Wohnblöcke mit Eigentumswohnungen des Berner Büros Matti Ragaz Hitz, die mit ihren grosszügigen Aussenräumen etwas Mondänes in diese ehemalige Industriezone bringen. An die ehemals gewerbliche Nutzung des Areals erinnert 200 Meter flussaufwärts noch immer eine rittlings über der Schüss am Eingang zur Taubenloch-Schlucht errichtete Fabrikanlage, die möglicherweise umgebaut und saniert wird. Auf dem Bieler Bauamt überlegt man sich zudem, ob man im Zuge der städtischen Verdichtung von Bözingen und der Erneuerung der Bieler Sportanlagen das Fussball- und das Eisstadion in die Nähe des Renfer-Areals verlegen soll.

Fehlender Mut am See

Mehr städtebaulichen Zündstoff als die Projekte im Bözingen-Quartier dürften die Planungen am See bieten. Soll doch nach der Eröffnung der Umfahrungsautobahn der Bereich von der Aarbergstrasse bis zum Hafen restrukturiert werden - allerdings nur moderat. Dabei böte sich hier die Möglichkeit, zwischen dem prachtvollen, 1932 vom damaligen Bieler Stadtbaumeister Otto Schaub vollendeten und jüngst von Joliat & Suter mustergültig renovierten Strandbad und dem Jurahang eine architektonische Fassade zum See hin zu realisieren, wie sie auch andere Schweizer Städte aufweisen. Dabei könnte im mittleren Teil des Europaquais durch eine als Platz am Ufer inszenierte Baulücke der Blick von der Grünanlage des Strandbodens auf den Bielersee weiterhin gewährt werden. Wichtige Denkanstösse für eine derartige Stadterweiterung gaben die tanzenden Expo-Türme von Coop Himmelb(l)au sowie der im Expo-Jahr veranstaltete Wettbewerb für einen Hotelturm an der Neuenburgstrasse. Die Verwirklichung der vor 100 Jahren schon einmal erträumten Seestadt könnte Biel und seinen Architekten ganz neue Horizonte öffnen. Gleichsam eine Art Auftakt dazu macht das trendige, entfernt an Arbeiten des Rotterdamer Büros MVRDV erinnernde Zweifamilienhaus von Leimer & Tschanz an der seenahen Gwerdtstrasse.

[ Eine Übersicht über die Bieler Architektenszene gibt vom 14. August bis 18. September eine Ausstellung des Architekturforums im Centre PasquArt in Biel. Dazu erscheinen ein Katalog und der Architekturführer «Biel» zum Preis von je Fr. 20.-. ]

23. Juli 2005 Neue Zürcher Zeitung

Orientalische Formenspiele

Synagogenarchitektur in der Schweiz

Der deutschsprachige Raum besass einst einen unvergleichlichen Schatz an Synagogenbauten, der in der Reichspogromnacht fast gänzlich unterging. Eine Idee von der zerstörten Pracht vermag aber die jüdische Sakralarchitektur der Schweiz zu geben. Zu deren herausragenden Werken zählen etwa die beiden über 150 Jahre alten, perfekt erhaltenen und bald in neuromanischem, bald in maurischem Stil geschmückten Land-Synagogen von Ferdinand Stadler in Lengnau und von Caspar Joseph Jeuch in Endingen - oder die trotz ihrer orientalischen Farbigkeit diskrete St. Galler Synagoge von Chiodera & Tschudy, deren originale Innenausstattung heute der schönste Zeuge eines polychromen Synagogenraums in der Tradition von Gottfried Semper ist. Trotz weiteren wichtigen Bauten in Baden, Basel, Bern, Biel Luzern und Zürich sowie in La Chaux-de-Fonds, Delsberg, Genf, Lausanne und Lugano, denen zwei Abbrüche in Avenches und Pruntrut gegenüberstehen, gab es bis anhin kein Übersichtswerk über den Schweizer Synagogenbau.

Umso erfreulicher ist es, dass sich nun die Zeitschrift «Kunst + Architektur in der Schweiz» in ihrer neusten Ausgabe ganz dem jüdischen Sakralbau unseres Landes widmet. Diese vereint mehrheitlich Wissen, das dem Spezialisten, nicht aber dem interessierten Laien bekannt sein dürfte. Neben Exkursen zum jüdischen Leben im mittelalterlichen Basel und Zürich (wo 1996 das äusserst rare Beispiel einer profanen jüdischen Wanddekoration entdeckt wurde) finden sich Aufsätze zu den Surbtaler Judendörfern, zur bis heute aktuellen Frage «Langhaus oder Zentralbau?» oder zu den Synagogen in der Romandie, wo Genf mit der ältesten neuzeitliche Stadt-Synagoge der Schweiz (von Jean Henri Bachofen) aufwarten kann. Neues Material bietet ein Essay von Guido Kleinberger, der sich mit den beiden international bisher kaum beachteten Zürcher Synagogen des 20. Jahrhunderts befasst: dem Gemeindezentrum der Israelitischen Religionsgesellschaft an der Freigutstrasse, einem 1924 von Walter Henauer und Ernst Witschi erbauten Hauptwerk des Art déco, und der 1960 von Walter Sonanini in moderner Kastenform errichteten Synagoge der Agudas Achim an der Erikastrasse, die hier erstmals publiziert wird. - Das Heft ist erst ein Anfang; es weckt den Wunsch nach einer umfassenden Monographie zur Synagogenarchitektur in der Schweiz.

[Kunst + Architektur in der Schweiz. 2005.2. Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK). 80 S., Fr. 25.-.]

16. Juli 2005 Neue Zürcher Zeitung

Die Magie des Ortes

Jean Nouvel im Louisiana Museum bei Kopenhagen

Seit dem Bau des Kultur- und Kongresszentrums Luzern gilt Jean Nouvel hierzulande als Garant für Spitzenarchitektur, obwohl er längst nicht mehr im Zentrum des Architekturdiskurses steht. Zurzeit arbeitet er an Grossprojekten in Paris, Madrid, Minneapolis - und in Kopenhagen, wo er nun sein Werk in Form eines Manifestes präsentiert.

Zwei aussergewöhnliche Bauwerke bilden die Eckpfeiler von Jean Nouvels Schaffen: das mit orientalisierendem Hightech kokettierende Institut du Monde Arabe von 1987 in Paris und das mit seinen komplexen Durchblicken und Spiegelungen nach dem Immateriellen strebende Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Auch wenn dieses seit seiner Fertigstellung im Jahr 2001 den internationalen Architekturdiskurs nur marginal beeinflusst, erfreut es sich noch immer grosser Popularität. Denn es gibt wohl nur wenige Gebäude, welche der Stadt, in der sie stehen, so sehr schmeicheln wie dieses vielschichtige Werk. In seiner Formensprache antwortet es den umliegenden Bauten, während die präzis gesetzten Öffnungen die Stadtlandschaft zu Postkartenbildern verdichten. Ausserdem fehlt dem KKL auf angenehme Weise die Selbstverliebtheit von Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao, jener anderen im Wettstreit der Städte oft beschworenen Architekturikone. Das eigentliche Gegenstück zu Gehrys hell glänzendem Musentempel am trüben Nervión ist Nouvels Gerichtsgebäude an der Loire in Nantes. Das in seinem Inneren schwarz und rot glitzernde Gebäude mit dem sich vielfach reflektierenden Gitterwerk wirkt wie eine filmartige Bildsequenz über Rechtsstaat und Justiz.

Architektur als Film

Wie in Luzern benutzte Nouvel in Nantes und nun auch bei der im Bau befindlichen Erweiterung des Reina-Sofia-Museums in Madrid ein weit auskragendes Dach, unter dem er alle Baukörper zu einer Grossform vereint - eine Geste, die schnell von anderen Architekten vereinnahmt wurde. So gleicht das jüngst von 3XNielsen in Amsterdam vollendete Muziekgebouw einer schlechten Kopie von Nouvels KKL, und auch die vom namhaften dänischen Architekten Henning Larsen entworfene neue Oper von Kopenhagen ist nur ein phantasieloser Abglanz des Luzerner Meisterwerks. Gleichsam als Entschädigung für diesen Ideenraub darf Nouvel nun das neue Konzerthaus des Dänischen Rundfunks in Ørestad errichten. Nach seinen Plänen entsteht in der gesichtslosen, auf halbem Weg zum Kopenhagener Flughafen liegenden Neustadt ein bald von Claude Parent, bald von Hans Scharoun angeregter, kubistisch-skulpturaler Findling, welcher der anonymen Umgebung eine eigene Identität verleihen soll. In der Auseinandersetzung mit dem Ort sieht Nouvel, in dessen architektonischer Recherche neben Bildern aus Science-Fiction-Filmen stets auch der gebaute Kontext eine wichtige Rolle spielt, die Möglichkeit, jener Anonymität der globalisierten Stadt und jenem seelenlosen Chaos von Suburbia entgegenzuwirken, die beispielsweise Rem Koolhaas so sehr faszinieren.

Nun erhielt der Franzose, der am 12. August seinen 60. Geburtstag feiern kann, im Rahmen einer Ausstellung im Louisiana Museum die Gelegenheit, öffentlich Position zu beziehen gegen eine vom historischen, kulturellen, sozialen, städtebaulichen oder landschaftlichen Kontext losgelöste Architektur, wie sie heute überall auf der Welt wie Unkraut spriesst. Angeregt durch die Harmonie des an den Ufern des Øresund in Humlebæk bei Kopenhagen gelegenen Kunstzentrums, erklärte Nouvel seine Schau kurzerhand zum «Louisiana Manifesto» und ruft nun dazu auf, von diesem Ort zu lernen. Dazu setzt er mittels eines Pavillons mit gezielt placierten Fenstern die parkartige Anlage in Szene und ermöglicht es den Besuchern, von einem neu erstellten Steg aus erstmals das meerseitige Panorama von Louisiana zu geniessen.

Den Auftakt zur eigentlichen Ausstellung macht der «Copenhagen Room» in der alten Villa. Er ist ganz Nouvels Ørestad-Projekt gewidmet, das 2007 eingeweiht werden soll. Kopflastiger wird es dann im unterirdischen Ausstellungsbereich, in dessen Zentrum der «Manifesto- Raum» steht. Stapel von Ausstellungszeitungen und Plakaten mit Abbildungen seiner wichtigsten Bauten auf der einen und seinem Manifest auf der anderen Seite fordern hier zur Selbstbedienung auf, während an den Wänden bombastische Sätze eine Neubesinnung in der Architektur fordern. Wer sich Pläne und Modelle erhofft hat, wird enttäuscht. Stattdessen präsentiert Nouvel in der anschliessenden «Porträt-Galerie» - wie schon vor vier Jahren im Centre Pompidou - leuchtende Dias und Farbfotos. Sie erlauben ein Wiedersehen mit «emblematischen» Bauten wie dem raumschiffartigen Nemausus-Studentenwohnhaus in Nîmes (1988), dem an rostige Tabakscheunen gemahnenden Hotel Saint-James bei Bordeaux (1989), der würdevollen Aufstockung des Opernhauses von Lyon (1993) oder der fast körperlos wirkenden Fondation Cartier (1995) in Paris.

Im Durchgangsraum, der sich tunnelartig zum Meer hin öffnet, bleibt einem kaum Zeit, sich ein Bild der gegenwärtigen Baustellen des Guthrie Theater in Minneapolis, des Musée Quai Branly in Paris und der Reina-Sofia-Erweiterung in Madrid zu machen. Denn hier wird der Blick hinabgezogen in eine überhohe Halle, deren Wände mit grossformatigen Comics französischer und belgischer Zeichner tapeziert sind. Eine Bildsequenz zeigt, wie Nouvel nach einem Himmelssturz sanft auf einem Orangenwagen landet, um anschliessend Valencia mit seiner megalomanen Delta-Park-Vision zu beglücken. Eine andere führt durch Nouvels Pariser Hallen-Projekt, welches das Herz der Seinestadt in ein Raumgebilde à la «Star Wars» hätte verwandeln sollen. Betont menschenfreundlich wird Nouvel dann im künftigen Alcantara-Viertel in Lissabon dargestellt, für welches er eine sanfte Bebauung mit Wohnungen, Ladengeschäften und Büroräumen konzipiert hat: Fassaden mit Azulejo-Mustern, rankenden Pflanzen und wehenden Vorhängen umschliessen Höfe mit künstlichen Wasserfällen und wecken ein südländisches Stadtgefühl. Nouvels Motto, «Jede neue Situation verlangt nach einer neuen Architektur», überzeugte selten so wie hier.

Flüchtige Erscheinung

Weniger human als das Alcantara-Projekt gibt sich die Torre Agbar in Barcelona, der man derzeit auch im Dänischen Architekturzentrum in Kopenhagens Gammel Dok im Rahmen der aus Düsseldorf übernommenen Ausstellung «Dream of Tower» (3. 12. 04) begegnen kann. Im Betonkäfig dieses raketenartigen, mit bedrucktem Glas umhüllten Riesenphallus kriegt sogar Nouvel Migräne, wie aus dem vieldeutig betitelten Kurzfilm «Gaudir Nouvelle» des spanischen Regisseurs Bigas Luna hervorgeht. Der Betrachter aber zerbricht sich den Kopf darüber, ob Nouvel mit diesem nicht wirklich gelungenen Hochhaus zu seinem jugendlichen Rebellentum zurückfinden wollte, als er als Vorkämpfer einer architektonischen «Nouvelle Vague» mit frechen baukünstlerischen Statements zu irritieren suchte. Trotz ihren Schwächen vermag sich einem aber auch die Torre Agbar - wie alle Bauten von Nouvel - als flüchtig aufflackernde Erscheinung ins Gedächtnis einzuprägen.

[ Bis 18. September im Louisiana Museum in Humlebæk bei Kopenhagen. Statt eines Katalogs werden gratis eine Ausstellungszeitung und ein Poster mit Nouvels Manifest abgegeben. - Die Ausstellung «Dream of Tower» im Dänischen Architekturzentrum in Kopenhagen dauert bis Anfang Oktober. ]

1. Juli 2005 Neue Zürcher Zeitung

Lichträume zwischen Himmel und Erde

Mario Bottas Sakralbauten in einer Ausstellung in Florenz

Die Liebe der Italiener zum Luganeser Architekten Mario Botta ist bekannt. Sie äussert sich nicht nur in bedeutenden Bauaufträgen wie dem MART-Museum in Rovereto oder dem Mailänder Scala-Umbau, sondern auch in Ausstellungen. So zelebrierte Padua vor anderthalb Jahren neuere Hauptwerke des Tessiners in einer grossen Schau im altehrwürdigen Palazzo della Ragione; und jetzt werden Bottas Sakralbauten im jüngst renovierten Hauptsaal der Gipsoteca dell'Istituto Statale d'Arte in Florenz präsentiert.
Baukünstlerische Rhetorik

Beim Rundgang durch die Schau stellt sich unweigerlich die Frage, welcher zeitgenössische Architekt ausser Botta allein mit Gotteshäusern eine ganze Ausstellung bestreiten und darüber hinaus ein prächtiges Katalogbuch füllen könnte. Zu sehen sind nicht weniger als zehn Bauten und zwei Projekte, die zwischen den riesigen Gipsabgüssen von Giambolognas Neptun und Michelangelos David anhand von zierlichen Holzmodellen (im Massstab 1:50), Zeichnungen, Plänen und hervorragenden Grossfotos von Enrico Cano und Pino Musi vorgestellt werden.

Dem Zweifel, ob man heute überhaupt noch sakrale Räume realisieren kann, begegnet Botta, wie vor ihm schon Le Corbusier, mit der verführerischen Rhetorik seiner Werke. Obwohl Bottas Zentralbauten nach Meinung einiger katholischer Kritiker nicht wirklich auf die liturgischen Bedürfnisse eingehen, sind sie - vor allem in der italienischsprachigen Welt - bei den Kirchgängern ebenso beliebt wie bei architekturbegeisterten Laien. Denn Botta baut weder frömmelnden Kitsch noch stimmungslose Mehrzweckhallen. Vielmehr nähert er sich dem Sakralen mit den ästhetischen Mitteln von Licht- und Schattenzonen sowie sinnlichen Materialien. Das Ergebnis sind Raumgebilde, die all jene ansprechen, welche spirituelle Erfahrung suchen, und dies ganz unabhängig von einem Glaubensbekenntnis. Im Zusammenhang mit dem Bergheiligtum am Monte Tamaro meinte Botta denn auch: «Chi entra in questo spazio troverà il suo Dio.» Dennoch gelang es ihm, in Evry eine überzeugende Kathedrale und auf dem Campus der Tel Aviv University ein Meisterwerk des Synagogenbaus zu errichten.

Nicht in der Ausstellung gezeigt wird jenes Frühwerk, welches einst Bottas Interesse an der Kirchenarchitektur weckte. Es handelt sich dabei um den Umbau des Kapuzinerklosters von Lugano, dem Botta den wohl schönsten zeitgenössischen Bibliotheksraum unseres Landes anfügte. Entscheidend für Bottas Grosserfolg als Kirchenarchitekt war aber Mogno, das kleine Dorf in der Valle Lavizzara. Für dessen im Lawinenwinter 1986 zerstörtes Kirchlein schuf Botta unentgeltlich ein Projekt, das aufgrund heftiger Diskussionen erst eine Dekade später gebaut werden konnte. Der horizontal gestreifte Ovalzylinder aus Granit und weissem Marmor mit dem abgeschrägten, kreisrunden Glasdach, der die romanische Architektur des Tessins ganz neu interpretiert, stiess vor allem in Italien auf Interesse. So konnte Botta schon 1987 in Pordenone einen Neubau beginnen, der mit seinem weithin sichtbaren Konus an Le Corbusiers unvollendete Kirche von Firminy erinnert, nur dass Botta in der materiellen Umsetzung des Entwurfs den Brutalismus des Vorbilds stark milderte.
Kathedrale und Synagoge

Kurz nach diesem zeichenhaften Meisterwerk konzipierte er die würfelförmige Kirche von Sartirana, aber auch die zylinderartige Kathedrale von Evry in der Art einer monumentalen «Casa di Dio», deren Erscheinung sich - ausser im Massstab - nicht wesentlich von Bottas Wohnbauten der frühen neunziger Jahre unterscheidet, wenngleich sie sich durch das zenitale Licht im Innern ganz klar von jeglicher Profanarchitektur abhebt. Gestaltete Botta mit der baumbekränzten Kathedrale von Evry das Zentrum der Pariser Vorstadt neu, so lotete er mit der Marienkapelle am Monte Tamaro das Archaische in der Architektur aus - und erbrachte gleichzeitig den wohl sinnfälligsten Beweis für seine These, dass erst die Architektur den Ort baue. Die ins Unendliche gerichtete Aussicht erinnert hier entfernt an Louis Kahn Salk Institute. Anregungen des grossen Amerikaners wurden von Botta auch bei den jüngsten Sakralbauten weitergedacht - etwa bei der unlängst geweihten, kubisch-skulpturalen Kirche von Paderno-Seriate nahe Bergamo oder bei der Cymbalista-Synagoge in Tel Aviv, deren Verschmelzen von Kubus und Zylinder ausserdem Le Corbusier verpflichtet ist. Kahns nie realisierte Hurva-Synagoge schliesslich entwickelte Botta im Entwurf der Santo-Volto-Kirche zu einem Rundbau weiter, der demnächst in Turin gebaut werden soll.

Auch wenn Bottas Gotteshäuser wie alle seine Arbeiten von Symmetrien und primären Geometrien, von schwerem Mauerwerk und ausgekerbten Öffnungen geprägt sind, so wirken sie doch weniger formalistisch als die Profanbauten. Denn seine Architektursprache korrespondiert besonders gut mit sakralen Inhalten. So gut, dass selbst das von Botta entworfene liturgische Mobiliar in diesen Räumen erstaunlich harmonisch wirkt.

[ Bis 30. Juli in der Gipsoteca dell'Istituto Statale d'Arte bei der Porta Romana in Florenz. Katalog: Mario Botta. Architetture del sacro. Hrsg. Gabriele Cappellato. Editrice Compositori, Bologna 2005. 207 S., Euro 40.- (Euro 35.- in der Ausstellung). ]

25. Juni 2005 Neue Zürcher Zeitung

Ein skulpturales Gefäss der Stille

Die Wallfahrtskirche von Ronchamp wird 50 Jahre alt

Mit der Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp erneuerte Le Corbusier nicht nur die Sakralarchitektur. Er schuf mit ihr auch ein Gebäude, das zum Inbegriff der architektonischen Moderne wurde. Dieses Meisterwerk, dem im Zeichen der Blob- Architektur neue Aktualität zukommt, wurde heute vor 50 Jahren feierlich eingeweiht.

Wie kein anderes Bauwerk des 20. Jahrhunderts hat die Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp die Gemüter bewegt. So sehr, dass der blendend weisse Sakralbau mit dem dunklen, kissenförmigen Betondach und dem bald an eine Stele, bald an afrikanische Masken erinnernden Hauptturm zum bekanntesten Gotteshaus der Moderne wurde. Dabei sorgte der Neubau, als er am 25. Juni 1955 feierlich geweiht wurde, in Fachkreisen für Konsternation. Denn just als sich die rationalistisch geprägte moderne Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg endlich zu behaupten schien, brach deren Vordenker mit einer primitiv-handwerklich anmutenden, höchst subjektiven Architekturskulptur, die alle modernen Errungenschaften in Frage stellte, zu neuen baukünstlerischen Ufern auf. Während James Stirling und Nikolaus Pevsner vor diesem heftig diskutierten «Manifest des Irrationalismus» ratlos den Kopf schüttelten, war das breite Publikum von dessen Bildhaftigkeit fasziniert. Und bald schon bereicherte Le Corbusiers neue plastische Formensprache den heiter-frivolen Jargon der fünfziger Jahre und triumphierte schliesslich in Jørn Utzons Opernhaus von Sydney.

Form-, Raum- und Lichtwunder

Heute, in einer Zeit, die den individuellen baukünstlerischen Erfindungen grossen Spielraum gewährt und die sich im Zeichen der computergenerierten Blob-Architektur auch wieder für das Organisch-Irrationale zu begeistern vermag, ist das Jahrhundertwerk von Ronchamp aktueller denn je. Diesem Form-, Raum- und Lichtwunder, das sich in Le Corbusiers Schaffen bereits nach 1946 ganz leise in den Entwürfen für die skulpturale Dachlandschaft der Unité d'habitation in Marseille ankündigte, ging eine Lebenskrise des Meisters voraus. Auslöser dieser Krise, die Le Corbusier schliesslich ganz neue Horizonte eröffnen sollte, war das Scheitern seiner algerischen Stadtbaupläne, für welche er vergeblich das Vichy-Regime zu gewinnen hoffte. Nach diesem politischen Sündenfall zog sich Le Corbusier ernüchtert ins Pyrenäendorf Ozon zurück. Wohl weniger, um Sühne zu leisten, als vielmehr, um sich neben der Modulor-Theorie ganz der Malerei zu widmen, die ihm immer wieder ein Mittel der architektonischen Selbstfindung gewesen war. Damals entstanden plastisch wirkende Bildsujets, die er seit 1945 zusammen mit dem Kunsttischler Joseph Savina zu «akustischen» Skulpturen weiterentwickelte. Diese organisch geformten, oft farbig gefassten Holzobjekte strahlen in den Raum aus, um das Echo mit konkaven «Rezeptoren» wieder einzufangen.

Ausgehend von diesem geheimnisvollen Raumbezug, begann Le Corbusier seine Skulpturen mittels des leicht formbaren Werkstoffs Beton architektonisch zu interpretieren. Daraus entstanden die bauplastischen Meisterwerke von Ronchamp, La Tourette und Chandigarh, die gleichsam die Antithese zur normativen Schönheit der Stahl- Glas-Konstruktionen eines Mies van der Rohe bildeten. Doch der unermüdliche Forscherdrang liess Le Corbusier, der sein eigenes Œuvre stets kritisch analysierte, wenige Jahre später zu einer weiteren überraschenden Lösung finden: der farbigen Bauskulptur aus Stahl von Heidi Webers Ausstellungspavillon am Zürichhorn, dessen Entwurf er kurz vor seinem Tod am 27. August 1965 vollendete. Als architektonisches Vermächtnis beweist dieses Werk noch heute, dass der grosse Schweizer in seiner stets vorwärts drängenden Kreativität unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts nur mit Picasso verglichen werden kann.

Künstlerische Inkubationszeit

Über Ronchamp ist viel geschrieben worden. So ist bekannt, dass Le Corbusier als Atheist, der allerdings für Spirituelles durchaus empfänglich war, sich anfangs nicht sonderlich interessierte, für die katholische Kirche zu bauen, auch wenn seine enthusiastischen Auftraggeber reformerische Ideen auf dem Gebiet der Sakralkunst vertraten. Als er dann aber am 20. Mai 1950 während einer Zugsfahrt von Paris nach Basel kurz vor Belfort die Ruine der im Krieg zerstörten Marien-Wallfahrtskirche auf dem Bourlémont hoch über Ronchamp erblickte, griff er spontan zum Skizzenblock. Ein kurz darauf unternommener Besuch der magischen Stätte begeisterte ihn dann derart, dass er mit einer ebenso kosmologischen wie musikalischen Konstellation konkaver und konvexer Formen auf die Landschaft, die vier Himmelsrichtungen und auf das Gemurmel des Ortes reagierte. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Villa Hadriana bei Tivoli, die Le Corbusier 1911 besucht hatte, hingewiesen. Nicht weniger bedeutend dürfte während der künstlerischen «Inkubationszeit» aber für den von einer Erneuerung der mediterranen Architektur träumenden Architekten auch die schneeweisse, halb biomorph und halb kubistisch geformte Paraportiani-Kirche von Mykonos gewesen sein, die über dem Blau der Ägäis auf ähnliche Weise zu schweben scheint wie nun seit 50 Jahren die Kapelle von Ronchamp über den rollenden Hügeln von Jura und Vogesen.

Eine komplexe Recherche, bei der Le Corbusier auch Naturformen - Knochen, Schalentiere, Muscheln - zur poetischen Inspiration nutzte, liess ihn schliesslich zur definitiven Form des Marienheiligtums vordringen. Diese realisierte er auf unkonventionelle Weise, nämlich mit Hilfe eines Betonskeletts, das er mit den Bruchsteinen der zerstörten Kirche ausfachen liess. Pfeiler aus solchen Steinen tragen auch die als doppelte Membran gegossene Betonplastik des Daches, deren Gestalt man heute ohne Hilfe des Computers wohl kaum noch herzustellen wagte. Diese gleichermassen technisch raffinierte wie archaische Konstruktion wurde schnell zum Symbol einer aus ihrer calvinistischen Strenge erlösten Architektur, aber auch zum wohl wichtigsten Prototyp des zeitgenössischen Sakralbaus. Mit seinem magischen Innenraum, in welchem Langhaus und Zentralbau verschmelzen, und mit der als Stiftszelt unter dem baldachinartigen Dachvorsprung angeordneten Aussenkapelle strahlte er schnell weit über die katholische Welt hinaus.

Dieses von den Kirchenfenstern und dem liturgischen Mobiliar bis hin zu den Farbräumen und dem sinnlichen weissen Klosterputz überreiche Gesamtkunstwerk soll nun zum Weltkulturerbe ernannt werden. Aber damit hören die Ehrbezeugungen an den Kirchenbauer Le Corbusier nicht auf: wird doch die sprödere Schwester von Ronchamp, die nach dem Tod des Meisters unvollendet gebliebene Kirche Saint-Pierre in Firminy, derzeit fertiggestellt, um im Sommer 2006 geweiht zu werden.

3. Juni 2005 Neue Zürcher Zeitung

Alpiner Urbanismus

In Meran werden Gion A. Caminadas architektonische Visionen für Vrin diskutiert

Die Schweiz ist ein Land, das immer mehr verstädtert. Gleichwohl waren es bis anhin weniger die Zentren als vielmehr die Randgebiete, die hierzulande den Architekturdiskurs belebten. Zwar kann Zürich zahlreiche neue Wohnanlagen und sogar ein Stadthotel von hoher Qualität vorweisen, doch auf Leitbauten von der Bedeutung des Luzerner KKL wartet man hier lange schon vergeblich und verfolgt deshalb umso gespannter den Wettbewerb für ein Kongresszentrum am See. Einzig in Basel, wo rund um den Bahnhof SBB eine urbane Architekturlandschaft und auf dem Novartis-Areal ein Forschungs-Campus entstehen, plant man grossstädtisch. Als ländlich- alpines Äquivalent zur Rheinstadt könnte man Vrin in der Val Lumnezia bezeichnen, ein fast 1500 Meter über Meer gelegenes 300-Seelen- Dorf, das dank seiner Architekturpolitik über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist.

Modellfall Vrin

Im Gegensatz etwa zum Ferienort Vals, welcher mit der von Peter Zumthor realisierten Therme auf Architekturtourismus setzt, verstand man es in Vrin - ausgehend von einer Melioration und der zur Pflicht erhobenen Bauberatung -, die alten bäuerlichen Strukturen zu erhalten. Über den Modellfall Vrin und dessen überregionale Bedeutung bezüglich Raumplanung, ganzheitlicher Landwirtschaft und Baugesetzgebung ist viel geschrieben worden, seit das Dorf 1998 mit dem Wakker-Preis des Schweizer Heimatschutzes und 2004 mit dem Arge-Alp-Preis ausgezeichnet wurde. Eine zentrale Rolle bei der Renaissance des Dorfes spielte der 1957 in Vrin geborene Architekt Gion A. Caminada. Als Dorfplaner formulierte er - ausgehend von sozioökonomischer Grundlagenforschung und in Zusammenarbeit mit Gemeindevertretern - die Voraussetzungen für das Bauen innerhalb des Dorfkerns, das er (ähnlich wie Snozzi in Monte Carasso) als gesellschaftsbezogenen Akt versteht.

Auf dieser Basis sind seit den neunziger Jahren in Vrin mehrere Meisterwerke des zeitgenössischen Holzbaus entstanden, die Caminada ganz aus dem Ort, seiner Kultur, Architektur, Sozialstruktur und Wirtschaft herleitete und die sich ins Dorfbild einfügen, als seien sie schon immer da gewesen. Denn Caminada geht es weder um baukünstlerische Selbstinszenierung noch um rückwärts gewandte Anbiederung. Vielmehr werden seine Interventionen, die in Vrin von der Scheune über das Wohnhaus und die Mehrzweckhalle bis zum Totenhaus reichen, durch Kargheit und konstruktive Sorgfalt bestimmt. So entwickelte Caminada für die Ställe die traditionelle Bohlenkonstruktion weiter und kreierte ein vorfabriziertes Rahmensystem, mit dem sich zeitgenössische Strickbauten realisieren lassen, die innen mit Spanplatten verkleidet, aussen aber mit Latten verschalt sind.

Präzise unterhalb des Dorfzentrums in der Landschaft aufgereiht sind die beiden Ställe und die genossenschaftliche Mazlaria (Metzgerei). Während sie sich mit ihren Pultdächern sanft in den Hang schmiegen, treten ihre Fassaden bildhaft in Erscheinung. Städtischer wirkt die durch ein langes Bandfenster akzentuierte Mehrzweckhalle, die - als Zentrum des Gemeindelebens - unterhalb des Schulhauses an die Hangkante gesetzt ist. Ihr weiter Innenraum wurde dank einer von Jürg Conzett erfundenen Binderkonstruktion möglich, die von Robert Maillarts Magazzini Generali in Chiasso angeregt wurde, aber auch an japanische Tempel gemahnt. Das von Caminada bewusst als Ort der Begegnung gestaltete Totenhaus schliesslich ist in seinem Inneren als rötlich schimmernde Raumskulptur konzipiert. Aussen aber ist der Holzbau weiss gekalkt, um ihn optisch der steinernen Barockkirche anzunähern. Eine archiskulpturale Lösung fand Caminada auch für das als begehbares Kunstobjekt ausgeformte Treppenhaus des Mädcheninternats in Disentis. Der kubische Aussenbau hingegen ist exakt eingepasst in das urbanistische Gefüge unterhalb der monumentalen Klosteranlage. Hier, im städtisch angehauchten Disentis, wechselte Caminada ganz selbstverständlich vom ländlichen Holz zum urbaneren Beton und Putz.

Der längst auch ausserhalb Graubündens lehrende und arbeitende Caminada hat kürzlich mit seinen «Thesen zur Stärkung der Peripherie» skizziert, dass die Alpenregion den urbanen Zentren durchaus noch Impulse (von der Baukunst bis zur Identitätsfindung) geben kann. Es wäre deshalb wünschbar, dass seine aus der Analyse des Ortes hergeleitete Architektur nicht nur in Bergdörfern, die durch architektonischen Wildwuchs bedroht sind, sondern auch im städtischen Raum vermehrt als vorbildlich anerkannt würde.

Meraner Retrospektive

Bereits geschehen ist dies im benachbarten Südtirol. Dort hat das Ausstellungshaus Kunst Meran eine erhellende Schau zusammengestellt, die Caminadas bisheriges Schaffen mittels Plänen, Modellen und suggestiver Fotos von Lucia Degonda fassbar macht und im umfassenden Katalogbuch theoretisch vertieft. Damit führt das initiative Zentrum, das sich ganz der Gegenwartskultur widmet, seinen Architekturzyklus fort, in welchem bereits der Schweizer Jürg Conzett zum Zuge kam. Caminadas Werk macht sich hier gut, denn das in einem von den Meraner Architekten Höller & Klotzner umgebauten Altstadthaus untergebrachte Museum darf selbst als Beispiel eines sorgsamen Umgangs mit dem baulichen Bestand gelten. Damit kündet dieser Bau im Etschtal, das ähnlich wie die Schweiz auf die Probleme der Zersiedelung einer prachtvollen Natur umweltverträgliche Antworten finden muss, einen leisen architektonischen Aufbruch an.

Bis 26. Juni im Kunsthaus Kunst Meran (Lauben 163). Katalog: Gion Caminada. Hrsg. Bettina Schlorhaufer. Quart-Verlag, Luzern 2005. 193 S., Fr. 78.- (Euro 49.- in der Ausstellung).

31. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Die Leichtigkeit des Bauens

München feiert den Architekten und Ingenieur Frei Otto

Mit ihren wie von einer frischen Brise geblähten Segeln kündeten fünf ineinander verzahnte zeltartige Pavillons auf der Expo 64 in Lausanne von einer unbeschwerten Zukunft. Diese heiteren Zeichen des Aufbruchs lagen damals im Trend. So war der Genfer Marc Saugey, der die Expo- Zelte entworfen hatte, nicht nur inspiriert von Le Corbusiers Philips-Pavillon von 1958 in Brüssel, sondern mehr noch von den Segelkonstruktionen, die der junge deutsche Architekt und Ingenieur Frei Otto für die Bundesgartenschauen von 1955 in Kassel und 1957 in Köln entwickelt hatte. Für die Ausführung seiner Expo-Vision holte Saugey denn auch Rat bei Otto, der schon in seiner 1955 publizierten, international beachteten Dissertation die Technik des Spitzzeltes formuliert hatte.

Expo-Pavillon und Olympia-Zelt

Aber nicht nur Schweizer interessierten sich für den damals in Berlin tätigen Bauforscher. Die Stadt Stuttgart bot Otto 1964 die Leitung des von ihm zu gründenden Instituts für leichte Flächentragwerke an. Die dort gesammelten Erkenntnisse konnte Otto bald schon beim deutschen Pavillon der Weltausstellung in Montreal anwenden, den er zusammen mit Rolf Gutbrod konzipierte. Dank Ottos Seilnetztechnik, die es erlaubte, grosse Membranflächen mittels schlaufenförmiger Fangseile aufzuspannen, liess sich eine tanzende Zeltlandschaft komponieren, die 1967 der Welt eine spielerische Bundesrepublik vorführte. Auf dieses Meisterwerk bezog sich Günter Behnisch bei seinem Wettbewerbsprojekt für die Olympischen Spiele von 1972 in München. Obwohl der Schweizer Bauingenieur Heinz Isler berechnet hatte, dass die Spannweiten des Expo-Zeltes problemlos verdreifacht werden konnten, brachte erst Frei Otto, der später zum Team gestossen war, mit der Idee sattelförmig gekrümmter und an Tragmasten aufgehängter Netze die formalästhetische und technische Lösung des Projektes.

Dem eng mit der Isarmetropole verbundenen Meister, der am heutigen 31. Mai seinen 80. Geburtstag feiern kann, widmet nun das Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne aus Anlass dieses Jubiläums die erste grosse Retrospektive überhaupt. Die reich mit Originalmaterial - Skizzen, Zeichnungen, Plänen und sympathisch altmodisch wirkenden Modellen - bestückte und durch einen wissenschaftlichen Katalog vertiefte Schau ermöglicht es, das Œuvre dieses Erfinders unter den Nachkriegsarchitekten erstmals in all seinen Dimensionen zu erfassen. Otto realisierte nicht nur leichte Zeltkonstruktionen, von denen die ebenfalls zusammen mit Gutbrod entwickelte und an ein gigantisches Beduinenzelt erinnernde Sporthalle in Jidda die wohl eigenwilligste ist. Mit der Multihalle der Bundesgartenschau von 1975 in Mannheim schuf er eine organisch geformte Stabwerkskuppel, die wie eine Vorläuferin heute modischer Blobformen - etwa der «Blauen Blase» des Kunsthauses Graz von Cook & Fournier - wirkt. Erarbeitet hatte Otto den komplexen Bau mittels einer an Gaudís Kettenmodell der Sagrada Familia erinnernden Maquette. Diese ist in der Münchner Schau ebenso zu sehen wie die Forschungsdokumente zu seinen pneumatischen Riesenkuppeln - beispielsweise für eine arktische Stadt, die er gemeinsam mit Kenzo Tange ausgedacht hatte - oder zu seinen Ökohäusern, von denen eines für die IBA in Berlin stark modifiziert realisiert werden konnte.
Vorbildlich bis heute

Zu einer Erfolgsgeschichte wurden auch seine als Grossschirme ausgeformten wandelbaren Dächer, die 1977 sogar auf der Amerikatournee von Pink Floyd zum Einsatz kamen. Mit den Ufo-artigen Fertigungspavillons der Büromöbelfirma Wilkhahn in Bad Münder bewies er 1988, dass Industriearchitektur mehr leisten kann als nur das Bereitstellen banaler Fabrikcontainer. Wie aktuell Frei Ottos Erfindungen heute noch sind, zeigt Renzo Pianos «Bigo» im Hafen von Genua ebenso wie der Londoner Millennium Dome von Richard Rogers. Für einen der aussergewöhnlichsten Bauten der Expo 2000 in Hannover schliesslich, den aus Kartonröhren konstruierten japanischen Pavillon, konnte Shigeru Ban sogar die Mitarbeit Frei Ottos gewinnen. Dessen Traum vom pneumatischen Bauen mit Luft und dünnen Folien lebt bildhaft aber auch in einem Bau weiter, der just gestern in München eingeweiht wurde (NZZ 28. 5. 05): der an ein weisses Gummiboot erinnernden Allianz-Arena von Herzog & de Meuron.

[Bis 28. August in der Pinakothek der Moderne. Katalog: Frei Otto. Das Gesamtwerk. Hrsg. Winfried Nerdinger. Birkhäuser- Verlag, Basel 2005. 392 S., Fr. 118.- (Euro 40.- in der Ausstellung).]

23. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Weltraumdesign und Kommerzarchitektur

Der Japaner Kisho Kurokawa im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt

Beinahe über Nacht rückte Japan 1972 mit dem Nakagin-Kapselturm ins Bewusstsein der internationalen Architektenavantgarde. An der noblen Ginza in Tokio hatte damals Kisho Kurokawa ein Haus wie aus einem Science-Fiction-Film realisiert, von dem die jungen Wilden in Europa, die sich in Gruppen wie Archigram oder Superstudio zusammenfanden, nur träumen konnten. An zwei Erschliessungsmasten liess Kurokawa 140 waschmaschinenartige Wohncontainer befestigen, in denen auf jeweils zehn Quadratmetern Grundfläche Küche, Bad, Büro, Sitzecke und Bett untergebracht sind. Fast wie in einer Weltraumrakete erlauben sie auf einem Minimum an Platz ein Maximum an Komfort. Es erstaunt daher nicht, dass der Kapselturm und sein gestylter Bruder, der Sony-Tower in Osaka, längst zu Ikonen der japanischen Nachkriegsmoderne geworden sind.

Diese legendären Frühwerke wirken zwar verglichen mit Kurokawas jüngsten Megaprojekten wie dem Grossflughafen von Kuala Lumpur bescheiden. Gleichwohl handelt es sich bei den Türmen um gebaute Manifeste, an denen Kurokawa die 1960 zusammen mit Kiyonori Kikutake entwickelte Theorie des Metabolismus im realen Raum erprobte. Der Begriff Metabolismus, den die beiden Architekten von der Biologie übernommen hatten, stand für eine prozesshafte, auf gesellschaftliche Entwicklungen reagierende und durch den baulichen «Stoffwechsel» bestimmte Architektur des Lebens, die - eher auf die Städteplanung als auf das Einzelhaus ausgerichtet - eine Alternative zum Maschinenprinzip der abendländischen Moderne bieten wollte.

Ihren Höhe- und Endpunkt sollte die metabolistische Bewegung 1970 mit den Pavillons der Weltausstellung von Osaka erreichen. Danach wurde es eher still um Kurokawa, bis er in den achtziger Jahren mit einem geschliffen eleganten, von west-östlichen Traditionen inspirierten Klassizismus einmal mehr für Irritierung sorgte. Die seither entstandenen Bauten erklärte er mit der Symbiose heterogener Konzepte und verwies auf die von ihm proklamierte «Kultur des Graus», wobei er im Grau eine Antwort auf die dualistische, schwarzweisse Weltsicht Europas sah. Die daraus resultierende ganzheitliche Planung manifestierte sich unter anderem im stahlgrauen, entfernt an ein japanisches Dorf erinnernden Museum für zeitgenössische Kunst von Hiroshima, das sich seit 1988 leicht erhöht über dem Zentrum der Stadt in einem Hain aus Kampferbäumen verbirgt. Dieser Baukomplex verkörpert im Sinne der für Kurokawa wichtigen «buddhistischen Koexistenz» ein Zusammengehen von Geschichte, Stadt, Natur und Technik. Der von der Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie geprägte Versuch, Ordnung ins Chaos zu bringen, fand 1987 Eingang in den architekturphilosophischen Traktat «Shin Kyosei no shiso», für den Kurokawa 1993 den Grossen Preis der japanischen Literatur erhielt und der nun als «Kurokawa-Manifest» auch auf Deutsch vorliegt.

Der 71-jährige Kurokawa leitet noch immer sein seit 1962 allmählich zur Grossfirma angewachsenes Architekturbüro, das bis heute mehr als 100 Bauten realisiert und gut 400 Projekte entworfen hat. Diese erstaunliche Produktivität spiegelt sich zurzeit in einer überreichen, fast wie eine Werbeveranstaltung inszenierten Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, die von einem Katalog mit lesenswerten Essays begleitet wird. Anhand von Bildtafeln und miniaturhaften, bis in jedes Detail ausgearbeiteten Modellen werden Kurokawas Hauptwerke vorgestellt vom längst zerstörten Vergnügungszentrum «Hawaii Dreamland» in Yamagata (1967) bis hin zum Projekt des organisch geformten und ökologisch angehauchten Zwillingshochhauses «Fusionpolis» in Singapur, das 2007 eröffnet werden soll. Darüber hinaus veranschaulicht die Schau - wohl eher unbeabsichtigt, dafür umso deutlicher -, wie das immer stärker kommerzialisierte Baugeschehen der letzten Jahre aus einem kreativen Vordenker einen sich mit den wirtschaftlichen und technologischen Zwängen arrangierenden Architekten gemacht hat, dem offensichtlich kein Projekt zu gross ist.

Von riesigen Strukturen war Kurokawa allerdings seit je fasziniert. So entwarf er 1961 für die Bucht von Tokio die von DNA-Strängen angeregte Helix City, die sogar als «Star Wars»- Kulisse beeindrucken würde. Verglichen mit dieser Stadtutopie erscheinen seine Masterpläne für die Neustadt von Zhengdong in China oder für Kasachstans Hauptstadt Astana trotz ihren gigantischen Dimensionen fast schon bescheiden. Bei diesen Mammutunternehmen scheint sich Kurokawa, der sich mit Investoren stets zusammenraufen konnte, damit abgefunden zu haben, dass auch die ambitioniertesten Entwürfe im Getriebe sich widersprechender Interessen letztlich nur in verstümmelter Form umgesetzt werden können. Wichtiger als der schöne Schein ist diesem Denker unter den Architekten ohnehin der respektvolle Umgang mit der Natur, den Ressourcen und den Bedürfnissen der Nutzer und der Menschen ganz allgemein.

[ Bis 19. Juni im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt. Katalog: Kisho Kurokawa. Metabolismus und Symbiosis. Deutsch und englisch. Hrsg. Peter Cachola Schmal, Ingeborg Flagge und Jochen Visscher. Jovis-Verlag, Berlin 2005. 159 S., Fr. 50.40 (Euro 29.80). - Kisho Kurokawa: Das Kurokawa-Manifest. Jovis-Verlag, Berlin 2005. 382 S., Fr. 42.20. ]

21. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Selbstbewusste Monumente

Anzeichen einer neuen Blüte der Synagogenarchitektur in Deutschland

Schon in den ersten Jahrzehnten nach Krieg und Shoah entstanden in Deutschland einige beachtenswerte Synagogen. Doch erst die Zuwanderung aus Osten bewirkte eine zaghafte Blüte des jüdischen Sakralbaus. Davon zeugen Synagogen in Chemnitz, Dresden oder Duisburg sowie bedeutende Projekte für Mainz und München.

Eine Welt der Toleranz, der vielen Wahrheiten hat die Europäer von jeder Vormundschaft des Glaubens befreit. Trotz der damit einhergehenden Schwächung der religiösen Institutionen erlebt die Sakralarchitektur seit Jahren eine Blüte - zumal, was den formalen Reichtum neuer Bauten anbelangt. Denn Künstlerarchitekten können sich hier wie kaum anderswo entfalten und ihre Projekte durch mystische Stimmungen und poetische oder metaphysische Dimensionen adeln. Während aber seit den achtziger Jahren von Portugal bis Finnland aussergewöhnliche Kirchen entstanden, blieb es um die Synagogenarchitektur lange eher still. Wohl wurden seit dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa jüdische Sakralbauten errichtet. Spektakuläre Bauwerke wie Angelo di Castros Synagoge in Livorno (1962), eine hochexpressive Architekturskulptur mit einem polygonalen, zeltartigen Innenraum, blieben jedoch rar. Und selbst dieser Bau konnte und wollte sich mit dem Jahrhundertwerk von Le Corbusiers Wallfahrtskapelle in Ronchamp nicht messen. Gleiches galt für die beiden architektonisch bedeutendsten Synagogen jener Zeit in Deutschland: die durch Erich Mendelsohn angeregte halbkugelförmige Anlage von Dieter Knoblauch und Heinz Heise in Essen (1959) sowie Hermann Guttmanns halb ovalen Bau von 1963 in Hannover.

NEUBEGINN MIT BOTTA

Erst gut dreissig Jahre nach den Bauten von Guttmann und di Castro gelang dem Tessiner Architekten Mario Botta mit der von einem Schweizer Stifterpaar in Auftrag gegebenen Cymbalista-Synagoge ein neues Meisterwerk des europäischen Synagogenbaus - nicht auf dem alten Kontinent allerdings, sondern auf dem Campus der Tel Aviv University. Dieses Monument mit seinen Kubus und Zylinder zum kosmischen Symbol vereinenden Zwillingstürmen erscheint wie eine moderne Kreuzritterburg oder - dank den beiden an Boas und Jachin erinnernden Eingangspfeilern - wie eine eigenwillige Interpretation des Salomonischen Tempels und darf als Quintessenz der jüdischen Sakralarchitektur von der Prager Altneuschul bis hin zu Louis Kahns unrealisiert gebliebener Hurva-Synagoge in Jerusalem gelten. Sein baldachinartig überdachtes, von segmentförmigen Oberlichtern und einem kleinen Fensterkranz erhelltes Inneres kann ebenfalls als idealtypisch bezeichnet werden. Es erstaunt daher nicht, dass dieses Gebäude sogleich einen bemerkenswerten Einfluss ausübte.

Wenige Monate nach der Eröffnung von Bottas Cymbalista-Synagoge konnte am 9. November 1998, dem sechzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht, in Duisburg das jüdische Gemeindezentrum von Zvi Hecker eröffnet und in Dresden der Grundstein zu einer neuen Synagoge gelegt werden. Diese beiden Anlagen sollten durch ihr ungewöhnliches Erscheinungsbild die Geschichte der jüdischen Sakralarchitektur nach 1945 in Deutschland verändern. Denn die zwischen der Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung gebauten Synagogen und Betstuben - rund 60 an der Zahl - waren mehrheitlich klein und folgten in ihrem einfachen Äusseren meist der modernen Kistenform, die Fritz Landauer 1930 bei der Synagoge in Plauen oder Robert Friedmann und Felix Ascher 1931 in Hamburg entwickelt hatten. Aufsehenerregende Bauwerke waren damals nicht gefragt, zum einen weil die meisten Gemeinden klein waren, zum andern weil ihre von der Shoah traumatisierten Mitglieder keine Zeichen setzen wollten.

In ihrem Inneren zeigen viele dieser Bauten eine bei Reformgemeinden schon seit der Gründerzeit auszumachende «Tendenz zur Synagogenkirche», bei der das Bima oder Almemor genannte Podest für die Thoralesung von der Raummitte hin zu dem nach Jerusalem ausgerichteten Thoraschrein verschoben ist. Diese architektonische Entwicklung drohte aus Synagogen optisch neutrale Sakralräume zu machen, die nur noch durch einige Symbole als jüdisch charakterisiert sind. Nicht zuletzt deshalb publizierte 1988 der Architekt und heutige Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, im Katalog zur Frankfurter Ausstellung «Die Architektur der Synagoge» mit dem Traktat «Synagoge '88» seine Theorie des zeitgenössisch aschkenasischen Synagogenbaus - und dies, obwohl er damals kaum mehr eine Zukunft für die Synagogenarchitektur in Deutschland sah.

THEORIE DES SYNAGOGENBAUS

Korn hielt in seiner Abhandlung fest, dass es keine besondere jüdische Bauweise, wohl aber eine «originär-räumliche Anordnung» für aschkenasisch-orthodoxe Synagogen gebe. Die zentral positionierte Bima und der in die Ostwand eingelassene Thoraschrein verlangten nach den unterschiedlichen Raumformen von Zentralbau und Langhaus. Auf die daraus sich ergebende «synagogale Raumantinomie» solle der Architekt mit einem spannungsvollen Raumkontinuum im Sinne eines zentralisierten Langhauses oder eines longitudinalen Zentralraums antworten. Zu diesem Zweck könne die Frauenempore hilfreich sein, aber auch die architektonische Umsetzung des Gegensatzes von «provisorischem» Stiftszelt und «dauerhaftem» Tempel, wobei mit einem von der steinernen Raumhülle abgehängten Baldachin die Längsrichtung auf den Thoraschrein hin, mit einem zenitalen Licht über der Bima aber das Zentrum betont werden könne. Im Entwurf müssten diese synagogalen Elemente in eine zeitgenössische Architektursprache übersetzt werden. Bei Neubauten in Deutschland sei dabei zudem der Aspekt des «schmerzlichen, aber notwendigen Erinnerns» zu berücksichtigen.

Dieser theoretische Leitfaden, welcher dreizehn Jahre später in der neuen Synagoge von Dresden eine grossartige künstlerische Umsetzung finden sollte, war genau im richtigen Zeitpunkt erschienen. Strömten doch nach den Umwälzungen im ehemals kommunistischen Machtbereich aufgrund einer bewusst liberalen, seit Anfang 2005 allerdings durch das mit Israel abgesprochene Zuwanderungsgesetz modifizierten Einwanderungspraxis Zehntausende von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, was bald schon den Bau neuer jüdischer Gemeindezentren und Synagogen nötig werden liess. Dieser Baubedarf machte zusammen mit Korns theoretischem Impuls aus Deutschland ein Zentrum der innovativen Synagogenarchitektur.

Als eindrücklichster Beweis dafür darf der 1997 durchgeführte Wettbewerb für ein jüdisches Zentrum auf dem Gelände der zerstörten Semper- Synagoge in Dresden gelten, an dem international bekannte Architekten wie Zvi Hecker, Daniel Libeskind, Heinz Tesar und Livio Vacchini teilnahmen und Entwürfe vorlegten, welche bezüglich ihrer architektonischen Qualität durchaus neben den in den letzten 50 Jahren realisierten Meisterwerken von Frank Lloyd Wright, Louis Kahn, Philip Johnson, Minoru Yamasaki oder Mario Botta bestehen können. Das Siegerprojekt des Locarneser Architekten Vacchini, in welchem sich lateinischer Rationalismus mit Kahns additiver Bauweise vereinte, erinnerte mit den beiden Kuben von Synagoge und Gemeindehaus entfernt an Bottas Bau in Tel Aviv. Hohe Betonpfeiler sollten die beiden Volumen und den dazwischen sich öffnenden Innenhof umfassen. Durch einen Vorhof wäre man in den nach Südosten gerichteten quadratischen Sakralraum gelangt, in welchem wie bei Bottas Synagoge in Tel Aviv der Raumkonflikt durch eine Bestuhlung nach sephardischem Ritus sowie durch eine der italienischen Tradition folgende bipolare Anordnung von Bima und Thoraschrein gelöst werden sollte.

Die jüdische Gemeinde von Dresden gab aber dem drittrangierten Projekt von Wandel Hoefer Lorch und Hirsch den Vorzug. Ausgehend von Korns Theorie des Synagogenbaus, schufen die jungen Architekten aus Saarbrücken und Frankfurt eine höchst eindrückliche Anlage. Wie Bottas Synagoge besteht sie aus zwei bipolar angeordneten Steinkuben, wobei das Gemeindehaus mit einer vitrinenartigen Glasfassade auf den zentralen Hof blickt, der fast hermetisch geschlossene Würfel der Synagoge sich aber mit zunehmender Höhe nach Osten abdreht. In diesen ist ein baldachinartiges, den eigentlichen Betsaal umschliessendes Gewebe aus golden schimmerndem Messingdraht eingehängt, unter welchem Thoraschrein, Bima und Frauenempore wie Möbel angeordnet sind. Von geheimnisvollem Oberlicht erhellt, verweist dieser Raum auf das mosaische Stiftszelt. Die steinerne Gebäudehülle hingegen soll an den Tempel in Jerusalem erinnern. Den Architekten gemäss symbolisiert damit die neue Synagoge den schon von Korn thematisierten «Konflikt zwischen Stabilität und Zerbrechlichkeit, zwischen Dauerhaftem und Provisorischem». Trotz starker Anlehnung an Korns Theorie haben es die Architekten verstanden, die Klippen des Formalismus zu umschiffen und ein stimmungsvolles Raumgefüge zu schaffen, in welchem sich - wie einst bei Kahns Sakralbauten - alles um Spiritualität, Mystik, Licht und Schatten dreht.

Das prominent als Abschluss des Elbpanoramas errichtete Bauwerk zeugt vom neuen Selbstverständnis der in den letzten Jahren schnell gewachsenen jüdischen Gemeinde Dresdens. Gleichzeitig erinnert es mit dem Davidstern über dem Synagogeneingang, mit einigen in die Hofwand eingemauerten Fundamentsteinen und dem durch Bruchglas angedeuteten Grundriss an die in der Reichspogromnacht geschändete Synagoge Gottfried Sempers und erfüllt so Korns Forderung, dass neue Synagogen in Deutschland auch die dunkle Vergangenheit in Erinnerung rufen sollen. Deshalb darf dieses architektonisch, künstlerisch und kultisch gleichermassen überzeugende Bauwerk, in dem Synagoge, Gemeindezentrum und Mahnmal eine Einheit von grosser skulpturaler Klarheit bilden, als einer der bedeutendsten Sakralbauten unserer Zeit bezeichnet werden.

ZEICHENHAFTE VIELFALT

Verzichtete man in Dresden bewusst auf formale Anleihen an die Semper-Synagoge, so zitierte der an der ETH Zürich ausgebildete Frankfurter Architekt Alfred Jacoby in der postmodern stilisierten «Doppelturmfassade» seiner 1988 geweihten Synagoge von Darmstadt dieses Hauptwerk der deutschen Architektur ganz explizit. Aufgrund der leicht lesbaren Bildhaftigkeit und der stereometrischen Einfachheit stiess der Darmstädter Sakralbau ausser bei Salomon Korn, der damals ganz allgemein eine philosemitische Scheu vor der Kritik am Synagogenbau feststellte, durchwegs auf Zustimmung und begründete Jacobys Erfolg als Synagogenarchitekt. Dank Wettbewerben und Direktaufträgen konnte Jacoby denn auch in den letzten 17 Jahren sechs weitere Synagogen in Aachen, Chemnitz, Heidelberg, Kassel, Köln und Offenbach realisieren.

Der stimmungsvolle Innenraum und die an den Salomonischen Tempel gemahnende Hülle aus Zedernholz, durch deren Lattenwerk der Thoraschrein von aussen zu erahnen ist, verleihen Jacobys Kasseler Synagoge eine gewisse Intimität. Das 1998 aus einem Direktauftrag hervorgegangene und 2002 eingeweihte jüdische Zentrum von Chemnitz, das leicht erhöht am Rand der Innenstadt errichtet wurde, verströmt hingegen fast schon glamouröse Eleganz. Dies nicht zuletzt wegen des einer Thorakrone gleich über ovalem Grundriss aus dem niedrigen Gemeindehaus emporwachsenden Synagogenturms aus Beton und Glas, der in einer Art Vitrine den Thoraschrein nach aussen sichtbar werden lässt. Der Zentralbau und Langhaus verschmelzende Innenraum, der - in Widerspruch zu Korn - liberal gestaltet ist, besticht durch sorgfältige Details und das in Synagogen beliebte magisch blaue Licht.

Weniger geglückt ist hingegen Jacobys Neubau in Aachen, der aus einem 1991 durchgeführten Wettbewerb resultierte. Weit überzeugender war hier das rigorose Projekt des Basler Architekten Roger Diener, der sich im Zusammenhang mit der Restaurierung der alten Synagoge seiner Heimatstadt eingehend mit der Geschichte des jüdischen Sakralbaus befasst hatte. Diener widersetzte sich mit dem Entwurf eines leicht zurückversetzten kubischen Gebäudeclusters, der durch Höfe und Passagen zum Synagogeneingang führt, der gewünschten Reparatur des Stadtraums, um an den Bruch in Aachens jüdischer Geschichte zu gemahnen. «Mit der aufgesetzten Struktur einer lichtführenden Decke» (Diener) hätte sich die Synagoge selbst über die anderen Bauteile der Anlage erhoben und so eine Forderung im Talmud erfüllt, wonach das Heiligtum die höchste Stelle eines Ortes markieren soll.

Im Innern des einfachen, von zenitalem Licht erhellten Hallenbaus wollte Diener die räumliche Trennung der Geschlechter nicht nach dem seit dem Barock bewährten integrativen Schema der Frauenempore, sondern nach dem additiven romanischen Vorbild von Worms handhaben, indem er die «Frauenschul» rechtwinklig an die Nordseite des Synagogenraums gefügt und auf diesen geöffnet hätte. Dadurch, dass Diener den longitudinalen Hauptraum mittels der Frauenabteilung auf die Bima hin zentrierte, fand er zu einer höchst eigenwilligen Lösung des synagogalen Raumkonflikts. Aussen sollte die Synagoge von einer papieren wirkenden Holzhaut mit aufgemalten hebräischen Zeichen umhüllt werden, die laut Diener an die «Bedeutung von Wort und Schrift für die jüdische Religion» erinnert hätte.

Mit seiner urtümlichen Trennung von Männerbereich und «Frauenschul» berief sich Diener auf die lange deutsche Tradition der Synagogenarchitektur, die schon in der rheinländischen Romanik von Speyer über Mainz bis Köln bedeutende Bauten hervorgebracht hatte. Damals begann sich das aschkenasische Raumschema mit zentraler, oft zwischen zwei Pfeilern errichteter Bima und nach Osten orientiertem Thoraschrein zu formen, während die Frauenempore erst in der Neuzeit grössere Verbreitung fand. Nach der Aufklärung wurde es in einigen deutschen Residenzstädten erstmals möglich, wirklich repräsentative Synagogen zu planen und zu bauen, wie Heinrich Christoph Jussows pantheonartiger Entwurf für Kassel oder die 1806 geweihte ägyptisierende Synagoge von Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe beweisen. Später im 19. Jahrhundert entstanden dann viele grosse, meist liberale Synagogen, die bald im maurischen Stil mit neu erwachtem Selbstbewusstsein das religiöse Anderssein, bald mit romanischen Formen die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation betonten.

EXPRESSIVE FORMEN

Einem barocken Jugendstil verpflichtet war hingegen die 1912 geweihte Hauptsynagoge von Willy Graf an der Hindenburgstrasse in Mainz, von der nach Reichspogromnacht und Krieg einem Mahnmal gleich nur noch die Säulen des Portikus übrig blieben. Beim 1999 ausgelobten Wettbewerb für eine neue Synagoge an derselben Stelle schlug Roger Diener zwei aneinander gefügte, kistenförmige Bauten für Synagoge und Gemeindehaus vor. Der Thoraschrein wäre in die östliche Längswand des von vier grossen Fenstern erhellten Raumes eingefügt worden, während die lange Westwand bei Bedarf zum höher gelegenen Gemeindesaal hätte geöffnet werden können. Für eine eigentliche Sensation aber sorgte der damals 30-jährige Manuel Herz aus Köln, der an der renommierten Architectural Association (AA) in London studiert und anschliessend für Daniel Libeskind die Synagogen- Wettbewerbe in Duisburg und Dresden betreut hatte. Sein Siegerprojekt, das hoffentlich bald realisiert werden kann, verspricht zum bedeutendsten jüdischen Zentrum der letzten 60 Jahre in Deutschland zu werden.

Mit einer fast wie ein Schofar oder Widderhorn gebogenen Grundrissform, die vor der Synagoge einen kleinen Platz frei lässt, nähert sich Herz der einstigen Hofrandbebauung an. Das auffällige Aussehen von Sakralbau und Gemeindehaus basiert auf der stilisierten Umsetzung der fünf hebräischen Zeichen des Wortes Keduscha, das für den Akt des Lobpreisens steht und die Anlage unter einen besonderen Segen stellen soll. Herz liess sich vom Objektcharakter hebräischer Buchstaben anregen, «die fast wie Bausteine gesetzt werden» und aus denen etwa die Texte im Talmud «wie ein Gebäude oder eine Bühne konstruiert» sind. Der Synagoge verleiht das Kuf genannte hebräische K eine himmelweisende Bewegung, während die Buchstaben Dalet, Waw, Schin und He den Umriss von Eingangsfoyer, Versammlungssaal und Schule bestimmen. Dadurch entsteht eine dekonstruktivistisch verschachtelte Miniaturstadt, in welcher die Synagoge als höchster Bau ausgezeichnet ist. Deren trichterförmiges Dach lässt Tageslicht auf die Bima fluten, gibt dem Längsbau ein Zentrum und löst so den synagogalen Raumkonflikt. Die geplante Aussenhaut aus orientalisch anmutendem türkisfarbenem Klinker verweist mit ihrer gerillten Oberfläche erneut auf das uralte jüdische Blasinstrument des Schofar, dessen Klang an hohen Feiertagen die Gemeinde zusammenruft.

Schriftlastigkeit, Expressivität und ein Hang zu abstrakten Symbolen verbinden das Schaffen von Herz mit dem von Libeskind oder Zvi Hecker. Obwohl es auch jüdische Architekten gibt, die eher rational bauen wie Richard Meier, glaubte der grosse italienisch-jüdische Architekturhistoriker Bruno Zevi im Dynamischen und Logozentrischen typische Eigenschaften der vom jahrhundertealten Erbe der Heimatlosigkeit geprägten jüdischen Architektur zu erkennen. Dieser Sicht entspricht Heckers ausdrucksstarkes Gemeindezentrum in Duisburg. Seine fünf weit ausgreifenden Betonbügel verkörpern die geöffneten Seiten des Buchs der Bücher, das über Jahrtausende die Diaspora zusammenhielt und über das und die Kultur der Schrift ganz allgemein sich laut Hecker «jüdische Kultur und Identität hauptsächlich entwickelten». Als eine Art Wegweiser stellen diese Bügel geistige Bezüge zu fünf Orten im Duisburger Stadtgefüge her, die mit der jüdischen Geschichte verknüpft sind.

Der dreieckige, spitz zum Thoraschrein und zur Bima zulaufende Synagogenraum mit Frauenempore, der über Grundriss und Sichtachsen eng mit dem Gemeindezentrum verwoben ist, nimmt nur einen bescheidenen Teil der Gesamtanlage ein. Denn für den laizistischen Israeli Hecker stand von Anfang an die Gemeinde im Zentrum - eine mehrheitlich aus älteren, mit religiösen Überlieferungen oft kaum vertrauten Immigranten bestehende Gemeinde, die nach Identität sucht. Hier bildet erstmals eine Synagoge in der von Hermann Guttmann beschriebenen Entwicklung «vom Tempel zum Gemeindezentrum» nicht mehr das eigentliche Herzstück der Anlage.

Für die gegenteilige Haltung entschieden sich Wandel Hoefer Lorch und Hirsch in München, wo sie die Synagoge als skulpturalen Blickfang vor einem Baukomplex inszenieren, zu dem neben dem Gemeindehaus auch ein Jüdisches Museum zählt und der bei seiner Fertigstellung Ende 2006 das grösste jüdische Zentrum Europas darstellen wird. Diese räumliche Verdichtung jüdischer Lebensbereiche erachtete Manuel Herz in einem 2003 an der Stanford University gehaltenen Vortrag als typisch für Deutschland und kritisierte die damit verbundene Zeichenhaftigkeit aus kulturellen und politischen Überlegungen heraus. Allerdings war die jüdische Gemeinde München an einem baukünstlerischen Zeichen gar nicht interessiert. Sie hätte lieber den ebenso konventionellen wie architektonisch banalen Kuppelbau realisiert, den der Münchner Architekt Johannes Dotzauer in der ersten Wettbewerbsrunde vorgelegt hatte. Doch die Stadt München träumte von einer bedeutungsvollen Architektur am Jakobsplatz, damit - laut Oberbürgermeister Christian Ude - «jüdische Kultur wieder einen würdigen Platz in der Münchner Innenstadt erhält». Deshalb wurden für den zweiten Durchgang einige Büros dazugeladen, darunter Wandel Hoefer Lorch, die 2001 den Sieg errangen. Wenn nun die Bautafel vor Ort stolz verkündet, «die Israelitische Kultusgemeinde kehrt in die Mitte Münchens zurück», so drückt sich darin vor allem die Hoffnung vieler nichtjüdischer Münchner aus, das grossartige Werk möge zum weithin sichtbaren Symbol dafür werden, dass Deutschland 60 Jahre nach Holocaust und Krieg wieder ein Land wie jedes andere geworden sei.

MONUMENTE IM HERZEN DER STADT

In der Tat dürfte München Ende 2006 mit dem neuen Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde ein leuchtendes Wahrzeichen erhalten, das weltweit Beachtung finden wird. Von den drei leicht gegeneinander verschobenen Baukörpern, die den Jakobsplatz neu definieren, dürfte das multifunktionale Gemeindehaus, das mit einem Altbau zu einem Hofrandgeviert und so gleichsam mit der Geschichte Münchens verschmolzen wird, vergleichsweise konventionell ausfallen. Das Museum hingegen wird sich als steinerner Quader, der über einem vitrinenartigen gläsernen Erdgeschoss schwebt, wie eine minimalistische Skulptur in Szene setzen. Mehr noch gilt dies für die Synagoge, die als ein nachts schimmerndes textiles Objekt aus einem klagemauerartigen Travertinsockel herauswachsen wird. Dabei wird sie - ähnlich wie die Dresdner Synagoge - den Widerspruch zwischen Provisorischem und Dauerhaftem thematisieren, nur dass diesmal das erneut aus einem Metallgewebe bestehende «Stiftszelt» nicht in den «Tempel» hineingehängt ist, sondern nach aussen in Erscheinung treten wird.

Das gegenwärtig vielerorts in Deutschland auszumachende Bestreben, jüdische Sakralbauten an städtebaulich prominenten Orten zu errichten, wird in München eine neue Dimension erreichen. Es liesse sich aber auch am Projekt der neuen Synagoge von Bochum aufzeigen. Dort wird der Kölner Peter Schmitz aufgrund eines im Februar 2005 gefällten Juryentscheides neben dem zentrumsnah gelegenen Planetarium für alle unübersehbar eine von niedrigen Annexbauten gerahmte kistenförmige Synagoge mit metaphorischem Bezug zu Stiftszelt und Tempel realisieren. Sie wird zusammen mit anderen, hier nicht genannten Bauten den formalen Reichtum des zeitgenössischen Synagogenbaus in Deutschland weiter mehren. All diese Beispiele tragen dazu bei, den Pessimismus Salomon Korns zu relativieren. Meinte er doch noch 1999, die wenigen substanziellen Beiträge zur Architektur der Synagoge reichten nicht aus, «um dieser eher marginalen Baugattung schon eine gesicherte Zukunft in Deutschland zu bescheinigen». Zwar lässt sich zurzeit nirgends auf der Welt eine wirkliche Blüte der Synagogenarchitektur ausmachen, mehrere überdurchschnittliche Bauten und Projekte haben in Deutschland ein Repertoire an architektonischen Lösungen hervorgebracht, die weit über Europa hinaus befruchtend wirken könnten.

[ Beim vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Version eines am 14. April dieses Jahres im Jüdischen Museum in Berlin gehaltenen Vortrags. ]

6. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Architektur und Identität

Zeitgenössische Bauten für die jüdische Gemeinschaft

Die klassische Moderne strebte einst eine international gültige Architektur an, die funktionale Klarheit, formale Einfachheit und materielle Ehrlichkeit über alle regionalen oder kulturellen Ansprüche setzte. Dies wirkt bedingt bis heute nach, wenn etwa das japanische Büro Sanaa für Lausanne, Herzog & de Meuron aber für Peking planen, ohne dass sie ihr jeweiliges Idiom aufgeben müssen. Allerdings haben sich die international tätigen Baukünstler längst von der Anonymität der Moderne losgesagt und eine Architektur der Markenzeichen entwickelt, die vor allem ihre eigene Identität zelebriert. Die Frage, ob die heutige Baukunst - über die banale Inszenierung von Corporate Identity hinaus - auch der Identität einzelner Auftraggeber oder gar ganzer Gemeinschaften gerecht werden kann, stellt sich nun im Zusammenhang mit der Ausstellung «Jüdische Identität in der zeitgenössischen Architektur», die, aus Amsterdam kommend (NZZ 13. 4. 04), zurzeit im Jüdischen Museum in Berlin siebzehn Bauten und Projekte von zwölf Architekten präsentiert. Dabei gibt das Ausstellungsgebäude von Daniel Libeskind als eines der Hauptexponate besonders interessanten Anschauungsstoff. Deckt sich doch das Bewegte und Instabile dieses Bauwerks mit Bruno Zevis Sicht der jüdischen Architektur, als deren Charakteristika er 1993 in seiner Schrift «Ebraismo ed Architettura» das Dynamische und Expressive zu erkennen glaubte.

Nun zeigt aber die Schau auch statische Bauten wie die monolithische Synagoge von Wandel Hoefer Lorch und Hirsch in Dresden oder die burgartige Cymbalista-Synagoge von Mario Botta in Tel Aviv, die beide - von Louis Kahns unrealisierter Hurvah-Synagoge in Jerusalem inspiriert - den Dualismus von Stiftszelt und Tempel thematisieren und so im weitesten Sinne der jüdischen Tradition verpflichtet sind. Nicht zuletzt durch ihre Funktion bedingt, versuchen diese Bauten etwas unverwechselbar Jüdisches zu vermitteln: sowohl über spezifisch räumliche Ausformungen als auch bezüglich der symbolischen Inhalte.

Libeskinds Berliner Museum hingegen verweist von seiner äusseren Form her zunächst einmal auf den Meister selbst und könnte damit ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Erst das Innere mit seinen dramatischen Leerräumen stellt den Bezug zur Shoah und damit auch zur Geschichte der Juden in Deutschland her. In die Ausstellung wurde - ausser Katalog - aber auch Libeskinds jüngstes Berliner Projekt aufgenommen: die Hofüberdachung des barocken Altbaus von Berlins Jüdischem Museum. Hier beziehen sich einzig der Arbeitstitel «Sukkah», der an die temporären Bauten des Laubhüttenfests erinnert, und mit ihm das baumförmige Stützsystem auf den jüdischen Kontext. Das geplante Bauwerk selbst hat aber nicht viel mit jüdischen Inhalten gemein. Spätestens hier verrät die konzeptuelle Unschärfe der Schau, dass im Grunde kaum von einer «jüdischen Identität in der zeitgenössischen Architektur» gesprochen werden kann. Einen Zusammenhang zwischen zeitgenössischer Architektur und jüdischer Identität existiert aber insofern, als die in der Ausstellung versammelten Synagogen, Museen, Schulen und Mahnmale durch ihre architektonische Qualität das Selbstwertgefühl der Juden in der Diaspora zu stärken vermögen.

Peter Eisenman scheint die inhaltlichen Widersprüche der Schau erkannt zu haben, als er sich gegen eine in diesem Rahmen nicht sehr passende Aufnahme seines Holocaust-Mahnmals in die Berliner Präsentation aussprach. Trotz ihren Ungereimtheiten ist die Ausstellung sehenswert: zum einen wegen ihrer Exponate, dann aber auch, weil sie zum Nachdenken über Architektur und Identität ganz allgemein anregt. Zu beanstanden ist höchstens, dass auch in Berlin auf die Präsentation des von Manuel Herz 1999 entworfenen jüdischen Zentrums Mainz, des seit Louis Kahn vielleicht weltweit interessantesten Synagogenprojekts, verzichtet wurde. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass dieser aussergewöhnliche, entfernt dem Dekonstruktivismus verpflichtete Entwurf des jungen Kölner Architekten, der sich in seiner Recherche wie kein anderer mit Wesen und Geschichte der europäischen Juden beschäftigt hat, bald gebaut werden kann.

[ Bis 29. Mai in Berlin, anschliessend in Wien, München und London. Katalog: Jüdische Identität in der zeitgenössischen Architektur. Hrsg. Angeli Sachs. Prestel-Verlag, München 2004. 176 S., Fr. 100.- (Euro 29.95 in der Ausstellung). ]

2. April 2005 Neue Zürcher Zeitung

Bauen auf Ruinen

Widersprüchliche Nachkriegsarchitektur - eine Ausstellung in München

Mit der Architektur der Wirtschaftswunderjahre verbindet man organischen Schwung und heitere Eleganz. In Deutschland aber gestaltete sich die bauliche Entwicklung aufgrund der geschichtlichen Zäsur widersprüchlicher als anderswo. Eine Ausstellung in München beleuchtet nun die Vielfalt der Nachkriegsbaukunst am Beispiel Bayerns.

Noch heute zeugt das Weichbild deutscher Städte von Kriegsverlust und schnellem Wiederaufbau. Doch während sich die fünfziger Jahre in Hamburg oder Köln mit leichten Pavillons und filigranen Rasterbauten zukunftsfroh gaben, blickte man in Bayern gern zurück. Deshalb waren dort die städtebaulichen Veränderungen der Nachkriegszeit viel weniger einschneidend als sonst in Deutschland - und dies, obwohl Städte wie Augsburg, München oder Nürnberg grösstenteils in Schutt und Asche lagen. Doch statt die Trümmer abzuräumen und neu zu bauen, entschied man sich im Freistaat oft für die Wiederherstellung der Strassenachsen und der wichtigen Fassaden. So vergisst man heute leicht, dass etwa das «mittelalterliche» Rothenburg ob der Tauber ein Remake der fünfziger Jahre und Münchens Zentrum vom Königsplatz bis hin zu Residenz und Siegestor weitgehend nachgebaut ist.

Die denkmalpflegerisch nicht unproblematische, psychohygienisch aber wichtige möglichst abbildgetreue Rekonstruktion von Platz- und Strassenräumen liess München als wohl schönste Metropole Deutschlands wiederauferstehen. Nur an zurückversetzten Orten durften hier im Zentrum auch wegweisende Neubauten wie das 1957 vollendete Justizgebäude der Neuen Maxburg errichtet werden. Dieser Glaspalast von Sep Ruf und Theo Pabst verkörperte in seiner programmatischen Transparenz den neuen demokratischen Geist der Bundesrepublik. Doch offener als für die gläserne Nachkriegsmoderne war man an der Isar für die autogerechte Stadt. So schlug der schon unter den Nazis tätige Oberbaudirektor Karl Meitinger bereits 1945 erfolgreich den Bau eines Cityringes vor. Auch wenn dieser ein Fragment bleiben sollte, fügte er dem Stadtbild bleibende Wunden zu. Derartige Interventionen nährten den Mythos, die Fehlgriffe im Wiederaufbau der deutschen Städte basierten auf Plänen von Albert Speer. Neuste Forschungen entkräften zwar diese Vermutungen weitgehend, machen dafür aber deutlich, dass auch in Architektenkreisen einstige Parteimitglieder und Mitläufer nach dem Krieg schnell zu «Wendehälsen» wurden, welche mit der Heiterkeit der Fifties oft höchst erfolgreich ihre dunkle Vergangenheit zu überspielen wussten. Wohl setzten Ewiggestrige wie Roderich Fick beim Verlagsgebäude von C. H. Beck oder Paul Schmitthenner beim neuen (überraschend fein proportionierten) Münchner Sitz der Frankona-Versicherung weiterhin auf die Gravität der Nazizeit. Doch andere konservativ-moderne Bauten wie der Hauptsitz der Allianz in München von Josef Wiedemann oder das Rathaus in Aschaffenburg von Diez Brandi belegen eine kreative Auseinandersetzung mit dem skandinavischen Klassizismus eines Gunnar Asplund.

Baukünstlerischer Reichtum

Dieser Vielfalt von urbanistischen und architektonischen Entwicklungen zwischen vorsichtiger Rekonstruktion und stürmischer Modernisierung, zwischen monumentaler Schwere und spielerischer Eleganz spüren nun Winfried Nerdinger und Inez Florschütz am Beispiel Bayerns in einer sorgfältig konzipierten Ausstellung nach. Die vom Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne unter dem Titel «Architektur der Wunderkinder» materialreich inszenierte Schau verweist auf Kurt Hoffmanns Film «Wir Wunderkinder», der 1958 die Widersprüchlichkeiten der Wirtschaftswunderzeit zwischen Schuld, Verdrängung und Neuanfang aufzeigte. Obwohl schon 1949 die ersten Bauausstellungen - von denen eine ausgerechnet in der ehemaligen Nazi-Kongresshalle in Nürnberg durchgeführt wurde - die leuchtend moderne Architektur der USA, Skandinaviens und der Schweiz unter dem Slogan «Wir müssen bauen» zur Nachahmung empfahlen und obwohl bald neue Schulhäuser, Wohnsiedlungen und Freibäder ein fortschrittlicheres Zeitalter ankündigten, glaubten verunsicherte Geister wie der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, selbst unter den neuen Strassen weiterhin «den unheimlichen deutschen Grund, das völkische Moor» zu spüren.

Anhand einer Vielzahl zeitgenössischer Fotos, Pläne und Modelle stellt die Schau städtebauliche Konzepte zwischen Wiederherstellung und Tabula rasa ebenso vor wie schnell errichtete Notkirchen, nüchterne Verwaltungsbauten, das improvisierte Wohnen in ehemaligen Rüstungsfabriken oder etwa den einer faschistischen Ästhetik verpflichteten Neubau des Herkules-Saals von Rolf Esterer in der zerstörten Münchner Residenz. Doch bald schon manifestierte sich der Traum von einem schöneren Leben in Pavillons, Eiscafés, Kinos, Kaufhäusern oder in den Villen von Hans und Traudl Maurer, aber auch in fortschrittlichen Ständerbauten, kühnen Flugdächern und geschwungenen Freitreppen. Als architektonisch besonders interessant erweist sich heute der kritisch-schöpferische Wiederaufbau der Kirche St. Bonifaz und der Alten Pinakothek durch Hans Döllgast, des Siegestors und des Odeons durch Wiedemann oder der Kirche St. Johannis in Würzburg durch Reinhard Riemerschmid. Hier trat an die Stelle der bald schon als «Geschichtsfälschung» oder «kultureller Atavismus» abgelehnten Rekonstruktion eine baukünstlerische Intervention, welche die Ruine und deren zeitgenössische Ergänzungen gleichermassen thematisierte und die Bauten so zu eigentlichen Monumenten der Erinnerung machte.

Gefährdetes Architekturerbe

Anders als aus dem hervorragenden Katalog geht aus der Ausstellung der heutige Erhaltungszustand all dieser Leuchttürme der Nachkriegsmoderne nicht hervor. Nur am Beispiel des 1957 eröffneten Landesversorgungsamtes von Hans und Wassili Luckhardt wird in einem eigenen Kapitel auf die mutwillige Zerstörung eines rationalistischen Hauptwerks hingewiesen. Die Bedeutung der Ausstellung reicht weit über die zweifellos wichtige Aufarbeitung der vielen architektonischen Aspekte der Wirtschaftswunderjahre hinaus. Als Plädoyer für die Nachkriegsarchitektur, die vom konservativen Steinhaus bis hin zum Meisterwerk aus Glas und Stahl viele hochinteressante Bauten umfasst, macht die auf bayrische Beispiele beschränkte Schau klar, dass Deutschland neben einem historischen auch ein eminent baukünstlerisches Erbe zu verwalten und zu schützen hat. Wie nötig dies ist, demonstriert der jüngst durchgeführte Abriss der 1952 aus einem hochkarätigen Wettbewerb hervorgegangenen Chemisch-Pharmazeutischen Institute unweit des Münchner Königsplatzes. Hier lässt sich ein ähnlicher Mangel an Respekt vor dem gebauten Patrimonium ausmachen wie etwa in Frankfurt, wo vor gut drei Jahren mit dem Zürich-Haus ein Juwel der frühen Hochhausarchitektur der Spitzhacke zum Opfer fiel.

23. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Weltoffenes Bauen

Zum Tod des Architekten Kenzo Tange

Der japanische Architekt Kenzo Tange ist am Dienstag in Tokio einem Herzversagen erlegen. Der 91-Jährige wurde durch seine Bauten für die Olympischen Spiele 1964 in Tokyo weltweit bekannt.

Es waren die kühn geschwungenen Sporthallen der Olympischen Spiele von 1964 in Tokio, die den japanischen Architekten Kenzo Tange weltweit bekannt machten. In seiner Heimat aber galt der 1913 geborene Architekt - der im Büro von Kunio Maekawa früh schon mit den Ideen Le Corbusiers in Kontakt gekommen war - seit der Eröffnung des Friedenszentrums von Hiroshima im Jahre 1956 nicht nur als Star, sondern mehr noch als moralische Instanz. Denn er bemühte sich wie kein anderer um die architektonische Form der Demokratie. Neben skulpturalen Einzelbauten interessierten diesen toleranten Meister, unter dessen Fittichen eine Gruppe junger Rebellen um Arata Isozaki und Kisho Kurokawa den architektonischen Metabolismus entwickelte, seit den späten fünfziger Jahren auch urbanistische Studien. Das beweisen etwa die vieldiskutierte, von alten Tempelanlagen ebenso wie vom zellenartigen Wachstum des Metabolismus beeinflusste Utopie einer schwimmenden Stadt auf Pfählen in der Bucht von Tokio (1960) oder sein Masterplan für die Weltausstellung von 1970 in Osaka.

Das Streben nach einem Ausgleich zwischen abendländischer Architektur und einheimischer Baukunst führte Tange zu immer neuen Ausdrucksformen - und schliesslich zur Eroberung des Himmels. Noch im Alter von 75 Jahren entwarf er das heftig kritisierte, an die Doppelturmfassade von Notre-Dame erinnernde neue Rathaus von Tokio. Diesem nicht unproblematischen Spätwerk zum Trotz wurde Tange als Doyen der japanischen Architektur verehrt; und selbst heute berufen sich Vordenker wie Toyo Ito hinsichtlich der Annäherung neuster Bautechnologien an die Naturgefühle des Schintoismus noch immer auf ihn. Aber auch international wurde Tanges Schaffen - das von christlichen Gotteshäusern und arabischen Palästen bis zu Flughäfen und Universitäten reicht - stets mit Interesse verfolgt. Davon zeugt nicht zuletzt der Pritzker-Architekturpreis, den er 1987 als erster Japaner entgegennehmen durfte. Gestern Dienstag nun ist Kenzo Tange 91-jährig in Tokio einem Herzversagen erlegen.

21. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Metamorphosen

Pritzker-Architekturpreis an Thom Mayne

Lange folgte die Jury des seit 1979 alljährlich von der Hyatt Foundation vergebenen Pritzker Architecture Prize dem Mainstream des architektonischen Erfolgs und kürte Grössen von Ando bis Portzamparc, die zwar schöne Bauten realisiert, aber wenig zum aktuellen Architekturdiskurs beigetragen haben. Der Höhepunkt dieser Phantasielosigkeit war 1999 erreicht, als der «Nobelpreis der Architektur» an den Vielbauer Norman Foster ging. Doch im darauf folgenden Jahr wurde - im Zeichen eines Paradigmenwechsels - der Querdenker Rem Koolhaas geehrt und 2001 mit Herzog & de Meuron ein Team, das mit seiner baukünstlerischen Recherche ähnlich grossen Einfluss hat wie Koolhaas. Nach so viel Mut entdeckten die Preisrichter 2002 Glenn Murcutt und setzten - politisch korrekt - auf eine naturnahe Architektur, um ein Jahr danach entgegen allen Erwartungen (die eher in Richtung Zaha Hadid weisen) mit dem Altmeister Jørn Utzon einen Vorkämpfer des archi-skulpturalen Bauens auszuzeichnen. Die in London lebende Irakerin Hadid hingegen musste sich (wohl wegen des Kriegs am Golf) noch bis 2004 gedulden. Für dieses Jahr stellte sich nun die Frage, ob die Japanerin Kazuyo Sejima oder der höchst innovative Toyo Ito die Palme davontragen würde. Da aber die USA seit 1991 keinen Preisträger mehr stellen konnten, schien auch der subtile New Yorker Raum- und Lichtkünstler Steven Holl gute Chancen zu haben - oder der Blob-Guru Greg Lynn aus Los Angeles, mit dem sich die Foundation als trendy hätte erweisen können.

Der Preis geht nun zwar nach Südkalifornien, doch nicht an Lynn, sondern an den 62-jährigen Thom Mayne, der zusammen mit dem von ihm 1972 gegründeten Büro Morphosis vor allem in den achtziger und neunziger Jahren mit einer eigenwilligen, stark künstlerisch geprägten Spielart des Dekonstruktivismus auf Interesse gestossen war und mit dem «Kate Mantilini» in Beverly Hills ein Kult-Restaurant geschaffen hatte. In seiner Architektur strebt Mayne nicht nach der schönen Hülle. Vielmehr sollen seine Bauten das Komplexe und Fragmentarische unserer Zeit ausdrücken, wie etwa das 1999 eröffnete, auf den ersten Blick eher hässlich wirkende Hypo-Zentrum in Klagenfurt zeigt. Im gleichen Jahr konnte er sein bisher überzeugendstes Werk, die Diamond Ranch High School in Pomona, vollenden. Doch ausschlaggebend für die Wahl des für die USA wichtigen, international aber bisher wenig einflussreichen Mayne war wohl die spektakuläre, jüngst abgeschlossene Transformation des Caltrans-Gebäudes in downtown Los Angeles. Bedeutende Projekte von New York bis Alaska dürften nun zusammen mit dem Pritzker-Preis wieder vermehrt die Aufmerksamkeit auf ihn und das Büro Morphosis lenken.

12. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Weisser Monolith am Genfersee

Lausanne träumt von einem neuen Kunstmuseum

Die Architekturszene am Genfersee kommt in Bewegung. Jüngst machte Lausanne nicht nur mit Schul- und Wohnbauten auf sich aufmerksam, sondern auch mit einem Projekt von Kazuyo Sejima. Nun soll das Musée des Beaux-Arts aus den engen Verhältnissen im Palais de Rumine erlöst werden. Geplant ist ein monolithischer Neubau am See.

Lange wirkte die Romandie in Sachen Architektur etwas verschlafen. Doch nun scheint sich rund um den Genfersee eine Szene zu formieren. Im Schatten des für seine Wohnbauten bekannten Atelier Cube, des in die rhetorische Geste verliebten Rodolphe Luscher und des experimentierfreudigen Teams von Brauen & Waelchli versuchen immer mehr Jungarchitekten ihr Glück in Lausanne. Davon zeugt noch bis zum 20. März eine kleine Schau im altehrwürdigen Espace Arlaud, dem 1840 nach Plänen von Louis Wenger vollendeten ersten Kunstmuseum von Lausanne. Neben Brauen & Waelchli, Luscher sowie Richter & Dahl Rocha (die ihr Projekt für das Parkareal «Im Forster» am Zürichberg vorstellen) sind die Newcomer Personini Raffaele Schärer mit einer organisch geformten Liftkabine, Didier Castelli mit Ideen zur Stadt der Zukunft sowie Graf & Rouault mit architektonischen Objekten präsent. In Lausanne lässt man aber auch Auswärtige zu Wort kommen. So realisierte Bernard Tschumi unlängst den «Interface Flon», während Devanthéry & Lamunière aus Genf und Bonnard & Woeffray aus Monthey vielbeachtete Schulhäuser schufen. Nun widmet die ETH Lausanne den jungen Walliser Minimalisten Geneviève Bonnard und Denis Woeffray eine Ausstellung, die noch bis zum 25. März mittels grossformatiger Fotos von schwindelerregender Direktheit insgesamt sechs Bauten zur Diskussion stellt, darunter das von abstrakten, bildhaften Fassaden geprägte Atelierhaus in Monthey und eine Wohnsiedlung mit starkfarbigen Metallfassaden in St-Maurice.

Kulturmeile und Museumsufer

Auf dem Lausanner ETH-Campus selbst kommt die umschwärmte japanische Architektin Kazuyo Sejima vom Büro Sanaa zum Zug, die hier ein wellenförmiges «Learning-Center» errichten wird. Nicht weniger ehrgeizig ist aber auch das Projekt des neuen Kunstmuseums, das zu einem Wahrzeichen am Genfersee werden soll. Bereits 1992 kam die Idee auf, das Musée des Beaux-Arts aus den beengten Verhältnissen des multifunktionalen Palais de Rumine herauszulösen. Die Sammlung, die unter anderem bedeutende Werke der Waadtländer Künstler Ducros, Gleyre und Vallotton umfasst, kann nämlich in dem pittoresken, 1906 eröffneten Palast von Gaspar André aus Lyon nicht mehr zufriedenstellend präsentiert werden. Vor vier Jahren wurde deshalb eine Parzelle bei der Bellerive Plage bestimmt, wo zwischen dem Château d'Ouchy und Max Bills Théâtre de Vidy mit dem Museumsbau ein neuer städtebaulicher Akzent gesetzt werden soll. Doch die etwas periphere Lage am See ist nicht nur schön, sondern auch schwierig, denn das Gebäude wird sich, von Ouchy aus gesehen, hinter Werfthallen verbergen. Dafür wird es zusammen mit dem Musée Olympique und dem Musée de l'Elysée die Lausanner Kulturmeile in ein eigentliches Museumsufer verwandeln.

Am letzten Donnerstag gab nun die Jury die Sieger des im Februar 2004 ausgeschriebenen zweistufigen Wettbewerbs bekannt, an dem sich nicht weniger als 249 Teams aus 15 Ländern beteiligten. Die Überraschung war gross, denn kein Weltstar wurde gekürt, sondern die gerade erst dreissig Jahre alten Architekten Maurice Berrel. Charles Wülser und Raphael Kräutler, die zwar noch nichts gebaut haben, aber mit einem Hotel in der kalifornischen Sierra Nevada und dem Privatmuseum Ernst Koller in Basel demnächst zwei interessante Projekte verwirklichen können. Wer dachte da nicht an den Wettbewerb für das ebenfalls am Wasser gelegene Opernhaus von Sydney, bei dem einst mit Jørn Utzon auch ein Nachwuchsarchitekt die Palme davongetragen hatte.

Die drei Zürcher haben es verstanden, zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Guido Hager und mit Beratern aus der Museumswelt ein Projekt zu kreieren, das wie kein anderes überzeugt, auch wenn der zweitplacierte Entwurf der jungen Lausanner Mondada, Bieler, Saurer ebenfalls mit einer zeichenhaften Erscheinung und einer spannenden Abfolge der Ausstellungsräume aufwarten kann. Dennoch hätte man es begrüsst, wenn zur zweiten Runde noch einige internationale Grössen geladen worden wären, auch wenn die Projekte der wenigen am ersten Durchgang beteiligten Architekten von europäischem Ruf - Dominique Perrault, MVRDV und Mario Bellini - enttäuschen. So muss nun offen bleiben, ob Stars auf die grandiose Kulisse von Stadt, See und Hochgebirge subtiler geantwortet hätten als die von der Jury einstimmig gekürten Senkrechtstarter, welche sich zu Recht gegen ein Architekturspektakel à la Bilbao und für einen formschönen, präzise placierten Bau entschieden haben.

Wahrzeichen am Wasser

Der polygonale, über einem Glasband schwebende Kubus aus weissem Kunststein steht - inspiriert von Adalberto Liberas Villa Malaparte in Capri - wie ein skulptural geschliffener Fels auf einem Sockel im Wasser. Eine platzartig gestaltete, dem benachbarten Strandbad Halt verleihende Rampe mit weitem Blick über den Léman akzentuiert die Verbindung zwischen Uferstrasse und Neubau. Vom verglasten Eingangsraum fällt eine Panorama-Rampe sanft ab zum Aussichtsrestaurant, während die darüber liegende Terrasse ins Museumsfoyer führt. Im Gegenuhrzeigersinn erreicht man auf einer weiteren Rampe den zur Stadt hin orientierten Vorraum der beiden Ausstellungsgeschosse. Hier werden zwei grosse, frei unterteilbare Kunstlichträume mit den beiden höher gelegenen Oberlichtsälen durch gegenläufige Treppen räumlich übers Kreuz verschränkt. Diese vielseitigen Räume gewähren einem immer wieder überraschende, an Jean Nouvels KKL erinnernde Ausblicke, bevor man auf der Dachterrasse vom Panorama überwältigt wird. Aber das Siegerprojekt bietet nicht nur eine sinnreiche Promenade architecturale durch die auf unterschiedliche Anforderungen antwortenden Säle und einen separat bespielbaren Restaurationsbetrieb. Es soll auch hinsichtlich Kosten und Ökologie hervorragend abgeschnitten haben.

Schon jetzt fiebert man deshalb in Lausanne der Eröffnung entgegen, die im Idealfall noch vor 2010 erfolgen soll. Allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn private Gönner und der einen rigorosen Sparkurs verfolgende Kanton sollen die auf 54 Millionen Franken veranschlagten Kosten je zur Hälfte übernehmen. Während die Linke aus bildungs- und kulturpolitischen Erwägungen für das Projekt eintritt, geben sich die bürgerlichen Kreise zugeknöpft. Dabei gelten heute attraktive Kunstmuseen längst als erstklassige Standortfaktoren. Auch wird das Musée des Beaux-Arts kaum mehr auf grosse Schenkungen hoffen können, wenn es seine Sammlung weiterhin nur bruchstückhaft zeigen kann. Vor diesen Tatsachen darf der Grosse Rat die Augen nicht verschliessen, wenn er demnächst über den Planungskredit abstimmt - zumal das in einem professionellen Wettbewerbsverfahren gekürte Projekt Lausannes Position als heimliche Kulturhauptstadt der Romandie weiter stärken wird. Dies veranschaulicht derzeit die gelungene, mit Verweisen auf das Musée Arlaud und den Palais de Rumine angereicherte und von einem vorbildlichen Katalog begleitete Ausstellung im Musée des Beaux-Arts.

[ Bis 15. Mai im Palais de Rumine. Katalog: 143 S., Fr. 35.-. ]

4. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Eine neue Gründerzeit

Architektonische und städtebauliche Visionen für Lugano

Die grossen Schweizer Städte erleben gegenwärtig eine neue Gründerzeit: Lausanne baut eine Metro, Zürich boomt in West und Nord, Basel wandelt sich beim Bahnhof SBB sowie auf dem Novartis-Campus, und Bern erhält mit Renzo Pianos Klee-Museum und Daniel Libeskinds Shopping Mall zwei vorstädtische Kristallisationskerne, die zusammen mit geplanten Siedlungen, Grün- und Platzanlagen jüngst in einer informativen Publikation vorgestellt wurden. Ambitionen hegt auch Lugano, das durch die Eingemeindung einiger Vorstädte von 29 000 auf 52 000 Einwohner angewachsen ist. Sein neues Selbstverständnis als nunmehr neuntgrösste Stadt der Schweiz und Zentrum einer Agglomeration von über 100 000 Einwohnern manifestiert sich im neuen Universitätscampus, einem aus Theater und Kunstmuseum bestehenden Kulturzentrum, das nach Plänen von Ivano Gianola an das zu sanierende «Palace» angedockt werden soll, oder in der geplanten Erweiterung des Kongresshauses durch Giraudi & Wettstein.

Das wichtigste Projekt allerdings ist urbanistischer Natur und betrifft ein in der dicht bebauten Stadtlandschaft rares, fast einen Quadratkilometer grosses Areal am Nordrand der Cassarate-Ebene. Dort soll das etwas chaotische Cornaredo-Quartier mit seinen Stadien, dem Multiplexkino in der ehemaligen «Termica» und dem Technikum im Park des einstigen Castello di Trevano im Hinblick auf die Eröffnung des Tunnels der neuen Nordzufahrt der Stadt zum repräsentativen «Eingangstor» werden. Aus dem Ende 2004 jurierten internationalen Wettbewerb ging der von einem grossen, an die sechziger Jahre erinnernden Geschäftszentrum dominierte Entwurf Federico Olivas und Cino Zucchis aus Mailand als Sieger hervor. Die Tessiner Architektenschaft bevorzugte indessen das Projekt von Pierino Borella und Aurelio Galfetti, das über eine von rationalistisch angeordneten Scheibenhäusern und Wohntürmen gerahmte Wasserfläche den Fernblick auf Luganos Zuckerhut, den Monte San Salvatore, freigibt. Am meisten Entwicklungspotenzial hat aber Kees Christiaanses Vision eines stark verdichteten Quartiers zwischen Trevano-Park und Cassarate- Fluss. Denn die Stadt braucht weniger monumentale Perspektiven als vielmehr einen planerischen Rahmen, der ein harmonisches Weiterbauen erlaubt. Da Borella und Galfetti gegen den Juryentscheid wegen formalen Fehlern Rekurs einlegten, ist - zumindest vorläufig - die städtebauliche Zukunft von Cornaredo noch offen.

Günstiger stehen die Vorzeichen für die neuen Messebauten mit Hotel auf dem Campo Marzio beim Cassarate-Delta, wo vor wenigen Tagen die jungen Zürcher Architekten Stefan Hauswirth, Andreas Keller und Mario Branzanti einen zweistufigen Wettbewerb, an dem auch viele renommierte Tessiner Architekten teilnahmen, für sich entscheiden konnten. Die Präsentation aller 81 Projekte vor wenigen Tagen in Lugano machte den Juryentscheid nachvollziehbar, auch wenn man zumindest den bereits in der ersten Runde ausgeschiedenen Vorschlag von Pia Durisch und Aldo Nolli gerne in der zweiten Runde gesehen hätte. Er besteht - wie die meisten eingereichten Arbeiten - aus einer Kombination von Hotelturm und flacher Messehalle, wobei Durisch & Nolli dem zeichenhaften Zwanzigstöcker einen kubistisch-topographischen Hallenbau entgegenstellten. Aus diesem Schema brachen neben dem siegreichen Team nur wenige aus: etwa Luca Bobst aus Bioggio mit einer konservativen, an Hans Kollhoff gemahnenden Komposition oder Hernandez & Garcia Casanova aus Rotterdam mit einer aus frei geformter Hülle und geometrischem Kern bestehenden Megastruktur sowie José Lluis Mateo aus Barcelona und Luca Gazzaniga aus Lugano mit ihrem drittprämierten Entwurf. Hier rahmen ein zeichenhaftes aus zwei verschränkten Z-Formen bestehendes Scheibenhaus und ein plastisch durchgeformter Hallenbau eine Piazza, während beim Siegerprojekt, das sich subtil in den Kontext einordnet, sieben bis zu achtgeschossige Volumen über trapezoiden Grundrissen eine platzartig angeordnete Halle fassen. Dieser formal zurückhaltende Entwurf dürfte sich aussagestark materialisieren lassen.

Die Ergebnisse des Cornaredo-Wettbewerbs sind publiziert in «archi» 6, 2004 (Edizioni Casagrande, Bellinzona). Fr. 20.-.

22. Februar 2005 Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Märchenbilder

Der ägyptische Baukünstler Hassan Fathy in Frankfurt

Seine Gouachen zählen zum Zauberhaftesten, was die Architekturzeichnung im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Ihnen ist es zu danken, dass das Werk von Hassan Fathy (1900-1989) bis heute unvergessen ist. Denn mehr als dessen Bauten, von denen nur noch wenige wohlerhalten sind, vermitteln sie eine Idee vom Bestreben des Ägypters, die herkömmliche arabische Architektur mit den Errungenschaften der Moderne zu versöhnen. Damit erweist er sich als Geistesverwandter von Néstor Martín, einem nicht weniger interessanten regionalistischen Künstler, der auf Gran Canaria ebenfalls weisse Dörfer aus verschachtelten Kuppelhäusern visionierte und einen Pueblo Canario entwarf, den sein Bruder, der Architekt Miguel Martín, nach Néstors Tod im Jahre 1938 in Las Palmas auch ausführte.

Kaum dreissig Jahre alt, befasste sich der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Fathy mit dem Entwurf einer Primarschule in Talkha. Zunächst entwickelte er ein neuklassisch-pantheonartiges Projekt, wandte sich dann aber der im Nahen Osten seit der Antike verbreiteten Lehmarchitektur zu, wie sie sich heute noch besonders schön am Beispiel der Wüstenstädte und Burgen Omans studieren lässt. Bei seinem ersten bedeutenden Werk, dem 1941 bei Kairo vollendeten landwirtschaftlichen Modelldorf Bahtim, konnte er dann - aufgrund des kriegsbedingten Materialmangels - erstmals die mit Hilfe nubischer Handwerker wiederbelebte Lehmbautechnik im grossen Stil einsetzen. Danach wurde ihm gegen erheblichen Widerstand der Bau des Dorfes Neu-Gourna bei Luxor anvertraut, das leider ein Fragment geblieben ist. Für einen sozial engagierten Grossgrundbesitzer verwirklichte er 1950 die Siedlung Lulu'at al-Sahara, und zwei Jahre später entstand mit der grandiosen Villa Stopplaere bei Luxor sein erstes grosses Privathaus. Die Honorare für seine Villen, von denen er einige im Ausland, andere für vornehme Auftraggeber wie Prinz Sadrudin Aga Khan baute, soll Fathy (so wird erzählt) in Bauprojekte für die arme Landbevölkerung investiert haben.

Nachdem er Mitte der sechziger Jahre noch Neu-Bariz, seine letzte grosse Dorfanlage in Ägypten mit Moschee, Souk, Schule und Krankenhaus, realisieren konnte, verunmöglichten neue Gesetze den Lehmbau weitgehend. Umso begeisterter wandte er sich daher 1980 der Aufgabe zu, für eine muslimische Gemeinschaft in New Mexiko das in der lokalen Adobe-Technik entworfene Lehmziegeldorf Dar al-Islam zu errichten. Nicht zuletzt dank einem postmodernen Paradigmenwechsel begann damals die Architekturwelt die künstlerische und moralische Haltung des Ägypters, der von den dogmatischen Modernisten in seiner Heimat lange als romantischer Kämpfer für überholte Konstruktionsweisen und traditionelle Bauformen belächelt worden war, als vorbildlich zu bewundern. So ehrte ihn die Aga Khan Foundation in Genf 1980 für sein Lebenswerk. Obwohl er nur gut 30 seiner 110 Projekte verwirklichen konnte, gilt Fathy heute als der wichtigste moderne Architekt Ägyptens, wenn nicht des ganzen arabischen Kulturkreises. Davon zeugt etwa das Fortleben seiner Ideen im Schaffen seines «Schülers» Abdelwahed al-Wakil und jüngerer nahöstlicher Architekten (NZZ 11. 2. 05).

Feierte das Deutsche Architektur-Museum in Frankfurt im vergangenen Sommer mit dem Werk von Geoffrey Bawa aus Sri Lanka bereits einen charismatischen Vertreter der aussereuropäischen Baukunst (NZZ 20. 8. 04), so gewährt es nun in einer kleinen Schau mittels 41 kostbarer Papierarbeiten Einblick in die verschiedenen Facetten von Fathys Kunst: von graphisch sorgsam gestalteten Bauplänen und Detailstudien über aquarellierte Ansichten eigener Häuser, dörflicher Szenen oder mameluckischer Monumente bis hin zu den zu Recht berühmt gewordenen, bald von persischen Miniaturen oder pharaonischen Wandmalereien inspirierten Gouachen idealer Architekturlandschaften. Ergänzt werden diese Blätter durch mehr als sechzig Fotos, welche Fathys Villen, Schulen, Moscheen und Bauerndörfer im gegenwärtigen Zustand festhalten. Dabei zeigt es sich, dass diese Bauten, in denen herkömmliche und moderne Architekturelemente harmonisch zusammenfinden, heute bereits so aussehen, als seien sie seit je Bestandteil der nahöstlichen Landschaft gewesen.

[ Bis 13. März. Katalog: Traumbilder der Architektur. Gouachen und Zeichnungen von Hassan Fathy. Deutsches Architektur-Museum, Frankfurt 2005. 47 S., Euro 12.-. ]

10. Januar 2005 Neue Zürcher Zeitung

Die Wunder der Ewigen Stadt

Nollis grandioser Rom-Plan im Zentrum einer Ausstellung

Als Symbol des aufklärerischen Ordnungswillens wird Giovanni Battista Nollis Rom- Plan bis heute gerühmt. Der grandiose Stadtplan prägte nicht nur Piranesis Sicht der Ewigen Stadt. Er wurde auch zur urbanistischen Richtschnur von L'Enfants Washington bis hin zur kontextualistischen Entwurfspraxis von heute. Eine Ausstellung in Rom würdigt nun dieses kartographische Meisterwerk in seinem künstlerischen Kontext.

Nach Jahren der baukünstlerischen Lethargie hat Rom in jüngster Zeit eine neue Lust auf zeitgenössische Architektur entwickelt. Den diskreten Auftakt machte schon vor Jahren Paolo Portoghesis Moschee. Mit ihr, der Città della Musica von Renzo Piano und Richard Meiers Chiesa del Giubileo erhielt die Stadt erstmals seit der wunderbar geschwungenen Vorhalle des Bahnhofs Termini wieder Bauten von internationalem Flair. Zu ihnen sollen sich dereinst der wolkige Kongresspalast von Massimiliano Fuksas, Roger Dieners Erweiterung der Galleria Nazionale d'Arte Moderna und Zaha Hadids Zentrum für Gegenwartskunst gesellen. In diesen Bauten und Projekten kann man die modernen Pendants zu den einst in den Veduten von Giuseppe Vasi oder Giovanni Battista Piranesi verewigten Kirchen und Palästen sehen. Nur dass sie - mit Ausnahme von Meiers vieldiskutiertem Projekt einer neuen Umhüllung des Ara Pacis genannten augusteischen Friedensmonuments - nicht innerhalb der antiken Mauern stehen oder stehen werden.
Kartographisches Kunstwerk

Das historische Zentrum Roms erscheint auf den ersten Blick denn auch bis heute wie versteinert. Dabei wurde es seit der Einigung Italiens tatkräftig umgestaltet - von den Tiberufern über den Corso Vittorio Emanuele bis hin zu den Strassenachsen, die Mussolini durch die vatikanischen Borghi und die Kaiserforen schlagen liess. Gleichwohl hat sich der Grundriss der Altstadt in den vergangenen 250 Jahren nur wenig verändert. Dies zeigt der grosse, 1748 von Giovanni Battista Nolli publizierte Stadtplan Roms. Das kartographische Meisterwerk verewigt - als Symbol des aufklärerischen Ordnungswillens - den Zustand Roms an der Schwelle zum Frühklassizismus, als die Stadt nach den urbanistischen und architektonischen Herkulestaten des Barocks ihre grösste Schönheit seit der Antike erreicht hatte.

Trotz der Verzwanzigfachung der Einwohnerzahl und der damit einhergehenden «banalizzazione estetica», welche Italiens Hauptstadt seit 1870 zu erdulden hatte, erklärt Nollis Karte in ihrer wissenschaftlichen Exaktheit, kartographischen Klarheit und künstlerischen Pracht die Wunder Roms noch immer besser als jede neue. Auf Nollis Plan sind nicht nur alle Bauten, Plätze und Strassenräume minuziös festgehalten, sondern sogar die Grundrisse der Kirchen, Paläste und antiken Monumente bis auf die einzelnen Säulen wiedergegeben. Mit diesem grossartigen Werk, das uns ebenso gut wie die Ruinen lehrt, wie Rom einst war, sicherte sich der in Lanzo d'Intelvi hoch über dem Luganersee geborene und in Mailand, dem damaligen Zentrum der italienischen Kartographie, ausgebildete Nolli (1701 bis 1756) Ruhm in der Stadt, die dank den Grand-Touristen gerade zum kulturellen Wallfahrtsort wurde. Nolli selbst war 1736 nach Rom gekommen, wo er schnell Zugang fand zum wissenschafts- und kunstfreundlichen Kreis um Kardinal Alessandro Albani, dessen frühklassizistische Villa er - nach neusten Erkenntnissen - plante. Über den an der Sapienza lehrenden Mailänder Mathematiker und Archäologen Diego Revillas erhielt er noch im selben Jahr den Auftrag zur Schaffung des Rom-Plans. Dieser sollte «äusserst exakt» sein und darüber hinaus die «antike Topographie» bestmöglich berücksichtigen.

Zwar hätte sich Nolli auf den 1551 von Leonardo Bufalini erstellten Stadtplan (den er zeitgleich mit seiner Karte in einem Nachstich herausgab) und auf den perspektivischen Plan von G. B. Falda (1676) abstützen können. Doch der Lombarde zeichnete mit Hilfe der neusten Vermessungstechnik die Stadt völlig neu. Gleichzeitig versuchte er zusammen mit Revillas und dem jungen Piranesi die auf dem Kapitol gehüteten und teilweise schon 1673 von Giovanni Pietro Bellori publizierten Fragmente der Forma Urbis genannten Rom-Karte aus der Zeit von Septimius Severus neu zu interpretieren. Obwohl die oft unter neuzeitlichen Überbauungen verborgenen Ruinen nicht immer exakt lokalisiert und im Plan nicht vollständig wiedergegeben werden konnten, verschmelzen in ihm die antike und die moderne Stadt, wie dies die am unteren Kartenrand erscheinenden Capricci, die wohl von Pannini entworfen wurden, mit ihren Tempeln, Triumphbögen und der damals frisch vollendeten Fassade der Laterankirche veranschaulichen.

Hier setzte Piranesi an, als er sich - beflügelt von Nollis wissenschaftlichem Ansatz und der eigenen Ruinensehnsucht - daranmachte, altrömische Monumente in seiner Phantasie aus dem lebendigen Gewebe der Stadt herauszuschälen und beispielsweise das Pompejustheater als Ruine oder den Hadrianstempel als Säulenwald mit freier Sicht aufs Pantheon zu inszenieren. Piranesi kreierte aber nicht nur visionäre Ruinenbilder, sondern unter dem Eindruck der Forma Urbis und von Pirro Ligorios «Antiquae Urbis Imago» (1561) auch Rekonstruktionen des alten Rom in Plan und Bild, die er 1762 unter dem Titel «Campus Martius Antiquae Urbis» herausgab. Die spektakulären, zwischen Archäologie und Utopie oszillierenden Ansichten einer monumentalen antikischen Stadt, die bereits die Revolutionsarchitektur von Ledoux und Boullée ankündigten, bilden den exakten Gegenpol zu Vasis Romprojekt. Mittels 240 Stich-Veduten schuf dieser parallel zu Nollis historisch-wissenschaftlichen und Piranesis antiquarisch-spekulativen Plänen ein faszinierendes Bildgeflecht des modernen Rom, das seine eindrückliche Quintessenz im grossen Rom-Panorama von 1765 fand.

Panoramen und Veduten

Die spannende Gegenüberstellung dieser drei Künstler, welche die Wahrnehmung der Ewigen Stadt lange bestimmten, bietet zurzeit eine erhellende Schau im Palazzo Fontana di Trevi. Sie vereint alle erwähnten Stadtpläne, Panoramen und Traumbilder des antiken und des zeitgenössischen Rom bis hin zur Vorzeichnung und zu den Druckplatten von Nollis Rom-Plan und bereichert sie um Veduten Vasis und Piranesis sowie einige Capricci von Giovanni Paolo Pannini. Dazu kommen Porträts von Grand-Touristen und von Förderern der Wissenschaften am päpstlichen Hof, aber auch Publikationen, Vermessungsinstrumente und Belege der Rezeptionsgeschichte. Diese reicht von Giovanni Carafas riesiger «Mappa di Napoli» (1775) über Pierre-Charles L'Enfants Idealplan von Washington (1791) bis hin zur «Nollimap» von 1978, auf welcher Vordenker wie Robert Venturi oder Aldo Rossi eine kontextualistische Weiterentwicklung der «Complexity and Contradiction» von Nollis Rom wagten.

Der vorzügliche Katalog mit seinen fundierten Essays bildet nicht nur die wichtigsten Exponate ab, sondern gibt auch die zwölf Tafeln von Nollis äusserst rarem Rom-Plan einzeln im Massstab 1:3 wieder. Daneben vermitteln mehrere lesenswerte Essays - unter anderem von Mario Bevilacqua, dem Kurator der Schau - neue Forschungsergebnisse. Diese zeigen, dass die Beziehung zwischen dem fast nur noch in Fachkreisen bekannten Nolli und seinem grossen Schüler Piranesi weit intensiver und komplexer war als bisher angenommen.

[ Bis 7. Februar im Palazzo Fontana di Trevi in Rom. Katalog: Nolli Vasi Piranesi. Immagine di Roma Antica e Moderna. Hrsg. Mario Bevilacqua. Artemide Edizioni, Rom 2004. 118 S., Euro 30.- (Euro 21.- in der Ausstellung; www.artemide-edizioni.com). ]

16. Dezember 2004 Neue Zürcher Zeitung

Baukunst als Leitmedium

Eine Buchreihe zum jüngsten Architekturgeschehen

In den neunziger Jahren zum kulturellen Leitmedium erklärt, geniesst die Architektur zurzeit mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Und dabei sind wir heute weit entfernt von jenen lautstarken Debatten, die in den zwanziger Jahren die Moderne und um 1980 die Postmoderne in Mode brachten. Nun sind es die Bauten selbst, die bald dank neuen Höhenrekorden, bald dank verführerischen Hüllen oder organisch-skulpturalen Formen im Rampenlicht stehen. Noch immer unerreicht in seiner durchschlagenden Zeichenhaftigkeit, geistert Frank Gehrys baskischer Ableger des Guggenheim-Museums und mit ihm der Traum vom Bilbao-Effekt durch die Köpfe der Architekten und Stadtväter. So wurden kürzlich sogar in Zürich Entwürfe für architektonische Identifikationsfiguren am Bürkliplatz und auf dem Papierwerdareal von berühmten Architekten wie Zaha Hadid oder Dominique Perrault erbeten - mit dem Erfolg, dass keiner der Vorschläge zu überzeugen vermochte. Dass architektonische Spitzenwerke nicht in Auftrag gegeben werden können, sondern als Resultat glücklicher Zufälle nur ganz selten entstehen, demonstrierte ungewollt auch die im November zu Ende gegangene neunte Architekturbiennale von Venedig. Die oft fragwürdigen skulpturalen Phantasien, welche sie unter dem Titel «Metamorph» im offiziellen Teil präsentierte, liessen jedenfalls schnell ein Gefühl der Übersättigung aufkommen.

Spiegel einer Epoche

Den theoretischen Überbau zum venezianischen Grossanlass reichen nun zwei Ausstellungen nach: «ArchiSkulptur» in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel und «Arti e Architettura» im Palazzo Ducale in Genua. Wer weder diese Events noch die baukünstlerische Mammutveranstaltung in der Lagune besuchen konnte und auch nicht jedem neu eröffneten Gebäude eines sogenannten Stararchitekten nachreisen will, dem bietet eine üppig illustrierte Buchreihe mit dem eingängigen Titel «Architecture Now!» die Möglichkeit zu einer spannenden Reise durch die Welt der Architektur, welche aber leider auf Abstecher in exotischere Gefilde wie Südamerika oder gar Afrika weitgehend verzichtet. Die in den Jahren 2001 und 2002 sowie vor wenigen Tagen erschienenen drei Bände präsentieren dem bequem vom Fauteuil aus die Weltarchitektur abklappernden Leser auf über 1700 Seiten und mittels ähnlich vieler Farbabbildungen einen Überblick über die baukünstlerische Spitzenproduktion der letzten sechs Jahre. Den 235 in knapp gefassten Texten vorgestellten Bauten und Projekten von 128 Architekten traut der Herausgeber Philip Jodidio zu, dass sie stärker noch als die Kunst «den wahren Geist der Epoche ausdrücken».

Jodidios Auswahl, die von einer lesenswerten Einführung begleitet wird, kann und will keine letzte Objektivität vermitteln. Gleichwohl gibt sie ein buntes Spektrum von der Ökoarchitektur bis zur virtuellen Baukunst, von der asketischen Box bis zum blubbernden Blob. Dabei lässt sich von Band zu Band eine Steigerung der Qualität der ausgewählten Werke feststellen. Neben Meisterwerken wie dem Kursaal von Rafael Moneo in San Sebastian, dem Palmach Museum von Zvi Hecker in Tel Aviv oder der Tate Modern von Herzog & de Meuron in London und schönen Miniaturen wie dem Liner-Museum von Gigon Guyer in Appenzell oder dem Restaurant Georges von Jakob & MacFarlane im Centre Pompidou wurden anfangs immer wieder auch nichtssagende Bauten berücksichtigt: etwa das Shanghai World Finance Center von Kohn Pedersen Fox, der Roissy-Flughafen von Paul Andreu oder die TGV-Bahnhöfe von Jean-Marie Duthilleul. Hingegen fanden die vieldiskutierten Expo-Bauten von Zumthor oder MVRDV in Hannover keine Aufnahme. Dafür kamen mit Greg Lynns biomorphen Wucherungen und Marcos Novaks Aliens computergenerierte Visionen zu einem grossen Auftritt.

Der neuste Band überrascht nun durch ein fast gleichmässig hohes Niveau. Segeln Arbeiten wie das niederländische Son-O-House von NOX, der Serpentine Gallery Pavillon von Toyo Ito in London, der Yokohama International Port Terminal von Foreign Office Architects oder die Grazer Kunsthalle von Cook & Fournier im «archiskulpturalen» Fahrwasser von Venedig, Riehen und Genua, so zeigen etwa das nahe der Chinesischen Mauer errichtete Bambushaus von Kengo Kuma und die minimalistischen Würfel eines Minihauses von Masaki Endoh in Tokio oder des Glashauses von Werner Sobek in Stuttgart die ungebrochene Kraft des Einfachen.

Selbstverliebte Prestigebauten

Erstaunlich aber ist, dass selbst in dieser Hitparade der Innovationen die Bauten der Expo 02 zu glänzen vermögen: In Murten stiess der Minimalismus mit Jean Nouvels Cube zu neuen Grenzen vor, in Biel begann mit den Türmen von Coop Himmelb(l)au der Dekonstruktivismus zu tanzen, und in Yverdon eroberten Diller & Scofidio mit ihrer Blur-Wolke ungeahnte Dimensionen des Immateriellen. Abstrakter und zugleich naturnäher kann sich «organische» Architektur wohl nicht geben. Ganz nebenbei offenbart der stählerne Kern der Wolke, dass auch dieses Bauwerk letztlich auf der mathematischen Logik des Computers basiert. So verführerisch diese drei Arbeiten auch sind, können sie - wie die meisten in der Reihe «Architecture Now!» zelebrierten Prestigebauten - doch ihre formale Selbstverliebtheit nicht verbergen. Während der Augenschmaus im Zentrum steht, spielen kontextuelle, ethische oder soziale Themen eine ebenso geringe Rolle wie der (von einigen exzentrischen Villen abgesehen) meist wenig glamouröse Wohnungsbau oder die städtebaulichen Probleme der Dritten Welt.

[ Philip Jodidio: Architecture Now! Architektur heute / L'architecture d'aujourd'hui. Taschen-Verlag, Köln 2001, 2002 und 2004. Drei Bände. Pro Band 570 S., Fr. 50.-. ]

8. Dezember 2004 Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Schätze der Gründerzeit

Zum Abschluss des grossen Inventarwerks INSA

Vor dreissig Jahren wurde das Inventar der neueren Schweizer Architektur (INSA) zur Erfassung der gründerzeitlichen Baukunst unseres Landes initiiert. Das in zehn Sammelbänden publizierte Forschungsprojekt konnte nun soeben mit der Veröffentlichung des wissenschaftlich wichtigen Registerbandes abgeschlossen werden.

Das stadthistorisch und architektonisch wohl reichste Erbe der Schweiz stammt aus den Jahren zwischen 1850 und 1920. Damals wandelten sich unsere Zentren von malerischen Kleinstädten, die gerade erst ihre barocken Mauern gesprengt hatten, zu modernen Gemeinwesen. Ganze Quartiere wurden nach städteplanerischen Erkenntnissen realisiert, aber auch neue Bauaufgaben in Angriff genommen: von Bahnhöfen, Verwaltungsbauten, Schulhäusern, Universitätsgebäuden und Fabriken über Mietshäuser, Spitäler, Kurhotels, Kasernen und Gefängnisse bis hin zu Theatern und Museen. Der technisch-innovative und ästhetische Wert dieser Bauwerke - von denen sich in vielen Schweizer Städten hervorragende Beispiele befinden - wurde von der kämpferisch in Richtung einer lichten, von jedem Pomp befreiten Zukunft stürmenden Avantgarde des 20. Jahrhunderts nicht erkannt und nach dem Zweiten Weltkrieg völlig negiert. So war es möglich (um ein ganz besonders tristes Beispiel zu nennen), dass in St. Gallen, der Stadt, die dank ihrer Stickerei- und Textilindustrie um 1900 zu einer Metropole des Luxus und der Mode aufgestiegen war, in den siebziger Jahren gleich zwei Hauptwerke des bedeutenden Spätklassizisten Johann Christoph Kunkler zerstört wurden: das Stadttheater und der monumentale Versicherungspalast Helvetia.

Schutz durch Publizieren

Da damals eine denkmalschützerische Protektion dieser ungeliebten und in ihrem Wert völlig verkannten Bauten noch kaum bestand und auch nicht jedes Haus der Epoche zwischen 1850 und 1920 unter Schutz gestellt werden konnte, war es dringlich, sie wissenschaftlich zu erfassen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dadurch konnte jene Entwicklung eingeleitet werden, die dazu führte, dass heute die Bauten des Historismus, des Jugendstils und der klassischen Moderne als wertvolle Zeugen unserer politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung, aber auch als baukünstlerische Objekte geschätzt, gepflegt und mit viel Sensibilität den gegenwärtigen Bedürfnissen angepasst werden.

Das übergrosse architekturhistorische Erbe dieser Zeitspanne macht jedoch schon das Erfassen der bedeutenderen Bauten höchst aufwendig. Deshalb scheut man sich in vielen Ländern bis jetzt vor einer Bestandesaufnahme. Ein wichtiges Pionierprojekt war die Dokumentierung der an Meisterwerken reichen Wiener Ringstrassenarchitektur. Doch so flächendeckend wie in der Schweiz wurden die städtebaulichen und baukünstlerischen Leistungen der gründerzeitlichen Boomjahre wohl noch nirgends publiziert. Zu verdanken ist dies einer 1973 von Georg Germann initiierten Herkulesarbeit mit dem lapidaren Titel «Inventar der neueren Schweizer Architektur» (INSA).

Germann und seinen Mitstreitern, darunter vor allem Hanspeter Rebsamen, schwebte anfangs ein die klassischen Kunstdenkmäler-Bände zeitlich fortschreibendes Kurzinventar aller zwischen 1850 und 1920 in der Schweiz entstandenen Bauten vor. Doch mussten sie schon zu Beginn ihrer Feldforschung feststellen, dass eine Beschränkung nötig war, um das Vorhaben, das ins Uferlose abzudriften drohte, nicht zu gefährden. Schliesslich entschied man sich, nur die Kantonshauptorte sowie jene Gemeinden, die um 1920 mindestens 10 000 Einwohner zählten, nach ganz spezifischen Kriterien zu bearbeiten. Insgesamt 40 Städte wurden in den zehn zwischen 1982 und 2003 von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK) herausgegebenen und vom Schweizerischen Nationalfonds mitfinanzierten Bänden nach einem einheitlichen Schema erfasst: So folgt bei jeder Stadt auf einen Überblick mit Bevölkerungsstatistik, Zeittafel und Planmaterial eine spannend zu lesende Siedlungsgeschichte sowie - als architekturhistorisches Kernstück - das topographische, nach Strassen geordnete Kurzinventar ausgewählter Bauten und schliesslich ein knapper Anhang (ohne Personenregister). Diese reich bebilderten Bücher, die ursprünglich als Basis für die weitere wissenschaftliche Forschung, aber auch für die praktische Denkmalpflege gedacht waren, wurden schnell von einer breiteren Leserschaft als kultur- und stadtgeschichtlich fundierte Führer entdeckt.

Da aus Platzgründen vor allem beim Kurzinventar der grossen Städte Einschränkungen nötig waren, vermisst man hier immer wieder Bauten, die aus heutiger Sicht berücksichtigt werden müssten. Als leicht störend empfinden kann man zudem die Übergewichtung kleinerer Gemeinden. So darf der dörfliche Kantonshauptort Stans fast gleich viel Platz beanspruchen wie Genf, die Schweizer Stadt mit dem wohl grössten bauhistorischen Erbe. Hier spielten föderalistische und freundeidgenössische Überlegungen eine Rolle. Wichtig war beim Problemfall Genf aber auch die um 1980 schwierige Archivlage in der Rhonestadt. Beim Durchsehen der Inventarteile entsteht daher der Eindruck, dass es vor allem kleinere Objekte waren, die das Schweizer Baugeschehen dominierten, und weniger Monumente wie etwa die Kaserne, die ETH, das Landesmuseum oder die Universität in Zürich. Da zudem die baukünstlerische Entwicklung in Kantonshauptorten wie Altdorf, Appenzell, Delsberg und Sarnen oder in der Alpenstadt Davos eher einer von Industrialisierung oder Tourismus geprägten ländlichen Schweiz entspricht, spiegelt das INSA schon jetzt gewissermassen einen gesamtschweizerischen Durchschnitt.

Hilfreicher Registerband

Dennoch wäre zu wünschen, dass in einer weiteren Buchreihe auch die architektonischen Schätze der Landgebiete und Agglomerationen erfasst werden könnten. Zudem harrt die zwischen 1920 und 1970 entstandene Architektur noch der Bearbeitung. In beiden Fällen könnte der zwar bewährte, aber wegen der fehlenden Namensregister nicht immer benutzerfreundliche Aufbau der bisherigen INSA-Bände verbessert werden. Als deren Nachrüstung versteht sich nun der soeben erschienene Registerband, der dem ebenso ambitiösen wie gelungenen publizistischen Unternehmen nach 30 Jahren die wissenschaftliche Krone aufsetzt. Auch wenn die an ein handliches Telefonbuch erinnernde Publikation spröde wirkt, macht sie doch mit ihren rund 25 000 Familien- und Firmennamen das INSA «zum umfassenden Nachschlagewerk zur Bau- und Kulturgeschichte der Schweiz in der frühen Moderne». Wäre der Band zeitiger erschienen, so hätten beispielsweise die Juristen in Lugano nur unter Americo Marazzi nachschlagen müssen, um anhand der Stichwörter (1879-1963; architetto, capotecnico comunale di Lugano) und der folgenden 50 Verweise die Bedeutung dieses heute unterschätzten Architekten für die Entwicklung des Tessins zu erkennen und den vor wenigen Tagen bewilligten Abbruch eines der letzten Zeugen seiner Montarina- Gartenstadt in Lugano zu überdenken.

Der Registerband wertet aber nicht nur die INSA-Reihe aus der Sicht von Denkmalpflege und Forschung entschieden auf. Er dürfte auch bei vielen interessierten Laien den Wunsch wecken, das INSA-Nachschlagewerk integral zu besitzen. Das ist aber kaum mehr möglich, weil die Bände zwei und zehn längst vergriffen sind. Da diese wohl kaum mehr nachgedruckt werden, sollte dringend die Reihe der aus den INSA-Bänden herausgelösten Stadtmonographien - von denen bisher Bern, Luzern, Olten, Solothurn, St. Gallen, Winterthur, Zürich und Zug erschienen sind - verlängert werden. Zumal mit ihnen den Schweizer Städten ein erstklassiges, auch touristisch nutzbares Mittel der historischen Selbstdarstellung zur Verfügung steht. Im Fall von Genf wäre es zudem möglich, in einer Ergänzung den heutigen Forschungsstand zur dortigen Architektur beizufügen.

[ INSA-Register. Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK). Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2004. 319 S., Fr. 78.-. Die ebenfalls bei Orell Füssli erschienenen Inventarbände (je 464 bis 544 Seiten) kosten zwischen 108 und 128 Franken, die acht bisher erschienenen Stadtmonographien (je 112 bis 296 Seiten) kosten zwischen 43 und 49 Franken. ]

3. Dezember 2004 Neue Zürcher Zeitung

Die Ekstase der Himmelsstürmer

Eine Ausstellung über Hochhausarchitektur in Düsseldorf

Nach der Zerstörung des World Trade Center schwand für kurze Zeit die Ausstrahlung der Wolkenkratzer. Doch dann wurde aus Taipeh ein neuer Höhenrekord gemeldet; und auch die Museen entdeckten die Himmelsstürmer wieder: Im Sommer fand in New York eine grosse Schau statt, und nun feiert auch Düsseldorf die Turmbauten.

Unmittelbar nach den Attentaten auf das World Trade Center in New York schien sich die Hochhauseuphorie zu verflüchtigen, die in den neunziger Jahren noch gigantische Visionen von «vertikalen Invasoren» wie Harry Seidlers 650 Meter hohem Grollo Tower für Melbourne oder Norman Fosters 840 Meter hohem Millennium Tower für Tokio hervorgebracht hatte. Doch die von hitzigen Debatten begleitete Idee vom Wiederaufbau der Zwillingstürme stachelte die Phantasie der Architekten erneut an und brachte einige der formal eigenwilligsten und spannendsten Hochhausentwürfe überhaupt - allen voran die futuristische Sky-Stadt von United Architects. Schon zuvor waren auf der Architekturbiennale 2002 in Venedig Vorschläge wie die in den Himmel züngelnden Schlangentürme von Lars Spuybroek für Ground Zero heftig diskutiert und eine aus Riesenmodellen bestehende, von Science-Fiction-Romantik durchwehte «Strada Novissima» mit Hochhäusern von Stars wie Zaha Hadid oder Toyo Ito gefeiert worden. Seither konnte in der gebauten Realität mit dem 508 Meter hohen «101 Tower» in Taipeh die magische Grenze von einem halben Kilometer Höhe durchbrochen werden; und in Dubai soll Adrian D. Smith vom Grossbüro Skidmore Owings Merrill (SOM) mit dem Burj Dubai bis 2009 das welthöchste Bauwerk realisieren, dessen definitive Masse aus Konkurrenzgründen noch geheim gehalten werden (NZZ 5. 3. 04). Demnach dürfte der Freedom Tower auf Ground Zero, der nun nach einem von SOM-Partner David Childs stark überarbeiteten Entwurf Daniel Libeskinds ebenfalls im Jahr 2009 vollendet sein soll, mit seiner symbolträchtigen, auf die amerikanische Unabhängigkeit anspielenden Höhe von 1776 Fuss oder 541 Metern den angestrebten Rekord verfehlen.
Wettstreit der Giganten

Angesichts dieses neuen Höhenrausches wundert es nicht, dass jüngst das MoMA in New York der Architektur der Wolkenkratzer eine Schau widmete (NZZ 31. 7. 04). Zur Aktualität, welche den Turmbauten als Symbolen wirtschaftlicher Potenz und politischer Macht in der globalisierten Welt zukommt, gesellt sich ihre jahrtausendealte Faszination. Denn seit Menschen bauen, träumen sie von der Eroberung des Himmels - angefangen bei der Zikkurat von Babel, die wir dank der Bibel als Inbegriff menschlicher Hybris verinnerlicht haben. Dabei erfüllte sie eine ähnliche religiöse Funktion wie die mittelalterlichen Kirchtürme. Weil diese bis in die Moderne auch städtisches Selbstbewusstsein verkörperten, empfahlen sie sich - nach anfänglichen Versuchen mit hohen Häusern in der Art des modern anmutenden Reliance Building in Chicago oder des Flat Iron Building in New York - als Vorbilder für die frühen, in ihrer typologischen Ausformung noch nicht festgelegten Wolkenkratzer. Um diese Entstehungsgeschichte kommen auch die neusten Arbeiten zum Thema Hochhaus nicht herum: die schön bebilderte Monographie von Andres Lepik und der handliche Katalog zur Düsseldorfer Hochhaus-Ausstellung «Der Traum vom Turm» mit seinen lesenswerten Essays zu gesellschaftlichen, ästhetischen und vor allem zu ingenieurtechnischen Aspekten. Waren letztlich doch Erfindungen wie der Lift, der Stahlbeton oder das Röhrentragwerk für den Hochhausbau entscheidend.

Während Lepik, ein Kenner der Materie, nach einer kunsthistorischen Analyse der Hochhausarchitektur eine Auswahl bekannter Wolkenkratzer in attraktiven Abbildungen bietet, setzt die didaktisch gut gemachte Schau im NWR-Forum in Düsseldorf ganz auf die Verführungskraft grosser Modelle, die in lockerer Chronologie von Babylon bis hin zu formal und technologisch gleichermassen raffinierten Zukunftsprojekten reichen. Da die Maquetten für die Ausstellung alle eigens im Massstab 1:200 gefertigt wurden, erlauben sie einen einmaligen Höhenvergleich. So schweift denn der Blick, inspiriert von Giorgio de Chiricos metaphysischer «Torre» aus dem Zürcher Kunsthaus, im ersten Raum über Kirchtürme und Minarette hinweg, um erstaunt die Grösse des kathedralartigen Woolworth Building und anderer früher Hochhäuser zu erfassen, die 1931 in der 381 Meter hohen Art-déco-Zikkurat des Empire State Building kulminierten. Fotos von Berenice Abbott und Alfred Stieglitz sowie Bücher von Erich Mendelsohn und Hugh Ferris feiern diese Meisterleistungen und leiten über zu den Zukunftsvisionen von Antonio Sant'Elias «Città Futurista», Le Corbusiers «Plan Voisin» oder Frank Lloyd Wrights «Mile-High-Tower». Sie alle aber werden überstrahlt vom Modell des 400 Meter hohen Internationale-Monuments, das Wladimir Tatlin 1919 als Verschnitt von Eiffelturm und Samarra-Minarett konzipierte.

Nach Wirtschaftsdepression und Krieg beeindruckte Amerika die Welt mit minimalistischen Schöpfungen wie dem Lever House von SOM oder Mies van der Rohes Seagram Building. Ihnen folgten bald Giganten wie der Sears Tower, mit dem Chicago seine einstige Leaderposition zurückeroberte. Europa hingegen setzte mit der Torre Velasca von BBPR und dem Pirelli-Hochhaus von Gio Ponti in Mailand auf kontextbezogene Hochhaustypen, die William Pereira 1972 in San Franciscos Transamerica Pyramide zu einem der ersten «Signature Building» weiterentwickeln sollte. Diesen werbewirksamen «Icons» antworten nun in Südostasien Türme, die bald an Kriegsschiffe, an riesige Pagoden oder an Flaschenöffner erinnern. Die Düsseldorfer Schau schliesst mit Hochhäusern wie dem Freedom Tower, dem Burj Dubai, der CCTV-Hochhausschlaufe von Rem Koolhaas in Peking oder dem Turning Torso von Calatrava in Malmö, die bald Realität sein dürften, aber auch mit technologisch und formal innovativen Entwürfen wie dem Al Ghorfa Tower in Kuwait von Hamzah & Yeang, dem Soho Forum in Peking von Zaha Hadid, dem Bundle Tower von Foreign Office Architects und dem Skin Tower von Werner Sobek.
Deutsche Hochhaustradition

Bei diesem Ausblick vermisst man den Schatzalp-Turm von Herzog & de Meuron in Davos. Das 105 Meter hohe, an einen gläsernen Tannzapfen erinnernde Bauwerk, welches nach seiner Realisierung der höchstgelegene Wolkenkratzer Europas sein wird, hat hierzulande der bisher vor allem in Basel und Zürich geführten Hochhausdebatte Auftrieb verliehen. Gleiches erhofft sich nun die Düsseldorfer Ausstellung wohl auch für Deutschland. Denn nachdem vor wenigen Tagen das Münchner Stimmvolk Hochhäuser, welche die Türme der Frauenkirche überragen, verboten und damit demonstriert hat, dass sich selbstbewusste europäische Kulturstädte nicht unbedingt am zwanghaften Höhenwettstreit junger Metropolen beteiligen müssen, wird sich vermutlich auch am Niederrhein die Kritik an den neuen, nicht unumstrittenen Hochhäusern verstärken. Deshalb verweist die Schau in einer eigenen Abteilung auf die lokale Hochhaustradition, die 1925 im legendären Kölner Brückenkopf-Wettbewerb einen kreativen Höhenflug erlebte, von welchem in der Ausstellung nicht weniger als 121 Entwürfe zeugen. Ihm vorausgegangen war 1921 Wilhelm Kreis' Projekt für ein 160 Meter hohes Säulenhaus am Düsseldorfer Graf-Adolf-Platz. An dieses erinnert nun am gleichen Ort der banale Investorenturm des lokalen Büros JSK. Ein Vergleich dieses elliptischen Glasbaus mit dem Wilhelm-Marx-Haus, das Wilhelm Kreis 1924 als expressionistisches Wahrzeichen im Zentrum Düsseldorfs erstellte, veranschaulicht nicht zuletzt den Niedergang von Qualitäts- und Formbewusstsein im weitgehend zum Designproblem verkommenen Hochhausbau von heute.

[ Bis 20. Februar im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf. Katalog: Der Traum vom Turm. Hrsg. NRW- Forum. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern 2004. 272 S., Fr 39.- (Euro 22.80 in der Ausstellung). - Andres Lepik: Skyscrapers. Englisch. Prestel-Verlag, München 2004. 160 S., Fr. 52.30. ]