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4. November 2008 deutsche bauzeitung

Magie der Ortsspuren

Archäologisches Museum und Forschungszentrum Madinat al-Zahra bei Córdoba

Es muss nicht immer der Ort selbst und ein direkter Bezug auf ihn sein, der eine besondere Architektur entstehen lässt. Unweit von Córdoba haben die Architekten in respektvoller Distanz zu den Ausgrabungsstätten Madinat al-Zahra einen Museums- und Forschungsbereich für die Funde und ihre wissenschaftliche Aufbereitung entworfen. Die Struktur der Ausgrabungsstätte, die südliche Landschaft mit ihren Lichtspielen und die sensible Herangehensweise an die Bauaufgabe ließen einen konzentrierten Ort entstehen, der seine Kraft aus den Themen »Entdecken« und »Entdeckt-werden-wollen« bezieht. Eine reduzierte Materialwahl und eine klare Formensprache unterstützen das Konzept und seine besondere Wirkung auf den Besucher.

Es ist nicht viel, was das Museum für die Palaststadt der Omayyaden Madinat al-Zahra bei Córdoba auf den ersten Blick von sich verrät. Doch das Wenige weckt Neugier: Da sind die mannshohen Wände aus weißem Beton, die sich vor der sanft gewellten Mittelgebirgslandschaft der Sierra Morena wegzuducken scheinen. In diesen sind kleine rechteckige Öffnungen ausgespart, die ein abstraktes Muster in die Wand zeichnen. Ungewöhnlich ist auch die Erschließung des Museums. Vom Parkplatz aus führen zwei parallel verlaufende Rampen hinab in das Innere des Gebäudes. Während eine Rampe auf eine weiße Wand zuläuft und verschweigt, was sich dahinter wohl anschließt, endet die andere vor einer großen Tür aus Cortenstahl. Ohnehin der Cortenstahl. Er legt sich als Dachfläche wie eine runzlige Haut auf das weiße Museum und umschließt jene beiden rostroten Kuben, die die niedrigen Museumsmauern überragen und so erahnen lassen, dass hier wohl doch eine größere architektonische Intervention stattgefunden hat.

»Wir mögen die Idee, nicht gleich auf den ersten Blick das ganze Geheimnis eines Hauses zu enthüllen«, beschreibt Enrique Sobejano, der gemeinsam mit seiner Frau Fuensanta Nieto das Madrider Architekturbüro Nieto Sobejano leitet, seine Entwurfshaltung. In Madinat al-Zahra ist ihm das trefflich gelungen. Denn das tief in die Erde eingegrabene Gebäude gibt sich von außen ebenso zurückhaltend wie verlockend, um erst im Inneren seine ganze Wirkung zu entfalten. Wer nämlich die sanft abfallenden Rampen hinabschreitet, der wird mit einem bemerkenswerten Architekturerlebnis belohnt, in dem sich der Zauber der südlichen Landschaft mit dem Geheimnis der tausendjährigen Ruinenstadt Madinat al-Zahra zu einer eindrucksvollen Synthese verbinden.

Transformierte Geschichte

Die Blüte der im Jahr 936 von Abd ar-Rahman III., dem omayyadischen Kalif von Córdoba, gegründeten Palaststadt Medinat al-Zahra dauerte nur kurz. In sanfter Hanglage auf streng orthogonalem Grundriss angelegt, wurde sie bereits 1010 von Berbertruppen wieder zerstört. Was folgte waren 900 Jahre in Vergessenheit, ehe 1911 erste archäologische Grabungen in Madinat al-Zahra stattfanden, dessen Grundfläche bis heute erst zu rund zehn Prozent freigelegt wurde. Um die archäologischen Funde angemessen restaurieren, verwahren aber natürlich auch präsentieren zu können, wurde 1999 ein offener internationaler Wettbewerb ausgelobt, bei dem Nieto Sobejano im Jahr 2000 den 1. Preis errangen. Die Realisierung des zwölf Millionen Euro Projektes dauerte von 2003 bis 2008. Derzeit wird die museale Ausstattung eingebaut, die offizielle Eröffnung des Museums ist für Ende 2008 geplant. Doch schon jetzt zeigt der Bau sein ganz eigenes, unverwechselbares Gesicht. Wer von der höher gelegenen Ausgrabungsstätte in die weite Ebene Córdobas hinabschaut, für den wirkt das rund zehntausend Quadratmeter große Museum wie eine Teppichstruktur, die sich in die Landschaft einwebt. Von Palmen und Wacholder begleitet, breiten sich davor die Mauern der malerischen Ruinenstadt aus. In jahrelanger Sisyphusarbeit setzen dort die Archäologen den in tausende Teile zerbrochenen Bauschmuck der Häuser wieder zusammen. Etliche Wege, Plätze und Patios sind für die Besucher gesperrt, weil hier die Puzzlestücke dieser Fragmente liegen. An einigen Wänden der Ruinenstadt sind die alten Naturstein-Dekorationen bereits wieder angebracht, an anderen hat sich der erbauungszeitliche Wandputz in erdigem Rot und Weiß erhalten.

Konzentrierte Kraft

Es ist charakteristisch für die Architektur von Nieto Sobejano, dass sie in die Gestaltung ihres Museums einfließen lassen, was sie am Ort vorfinden.
Ihre Haltung ist dabei weit entfernt von dem engen formalistischen Korsett architektonischer Kopien. Vielmehr ist es ein inspirierter – und damit zugleich für den Betrachter inspirierender – Übersetzungsprozess, durch den die weiß-rot verputzten mittelalterlichen Wände in weißen Beton und roten Cortenstahl transformiert werden. Und auch der räumliche Dialog der engen Gassen und offenen Patios in Madinat al-Zahra findet sich in der Grundrissstruktur des Museums wieder. Zudem haben es die Madrilenen verstanden, die sinnliche Wirkung der versunkenen Palaststadt auf ihr neues Museum zu übertragen. Das wird bereits im zentralen Foyer am Ende der Eingangsrampe deutlich. Der dunkle Raum mit seiner niedrigen Decke dient nicht nur als Verteiler, von dem es auf der einen Seite zu dem doppelgeschossig eingegrabenen Ausstellungsraum sowie dem Auditorium geht, während sich auf der anderen Seite Bibliothek, Restaurierungswerkstätten und Lagerräume sowie die Büros der wissenschaftlichen Mitarbeiter anschließen. Bereits in diesem Foyer, das sich auf zwei Seiten mit Glasfronten zu einem Patio öffnet, beginnt jenes Spiel mit Licht und Schatten, das den besonderen Zauber des Museums ausmacht. Der Patio entpuppt sich als ein Ort hemmungsloser Südlichkeit, hinterfangen von weißen Betonwänden, an denen sich das seltsame Muster aus kleinen rechteckigen Öffnungen wiederholt. Das Raster des Betonbodens wird seitlich von einem flachen Wasserbecken flankiert, während aus drei rechteckigen Beeten kleine Bäumchen wachsen. So entsteht ein Ort, der ganz in sich selbst ruht, geprägt von formaler Konzentration und Reduktion. Doch so sehr sich dieser Patio zurücknimmt, so ist er eben doch nicht ganz aus der Welt genommen: Einzelne Zweige der Olivenbäume blinzeln über die Mauern und auch die Hügelkuppen der nahen Sierra Morena sind zu sehen. Über allem aber breitet sich das unendliche Blau des spanischen Himmels aus und ergänzt den farblichen Dualismus des Hofes.

Durch enge, labyrinthisch wirkende Flure, die von der Decke natürliches Licht erhalten, gelangt man in einen weiteren Hof – vorbei an Wänden aus Glas, dunklem Irokoholz und weißem Beton. Dieser Patio ist nur ein schmaler Schlauch, der von hohen Wänden eingefasst wird und dessen eigentliche Aufgabe es ist, den angrenzenden Maisonetten der Restaurierungswerkstätten natürliches Licht zu spenden. Doch mit ihm ist Nieto Sobejano ein Ort von geradezu sakraler Aura gelungen, und das, obwohl sie lediglich das bereits bekannte Formen- und Materialvokabular verwenden. Den Höhepunkt dieses Patios bildet eine Cortenstahlwand, die eine der Schmalseiten des Hofes begrenzt und ihn zugleich deutlich überragt. Wie ein mächtiger Altar wächst sie empor und verbindet den Hof mit dem südlichen Blau des Himmels. Unbezwingbar ist der Wunsch, sich in diese raue Wand zu versenken, ihre Strukturen und Abplatzungen mit Blicken und Fingern nachzufahren.

Funktionale Überraschung

Bei aller Poesie der Räume und Materialien, der Referenzen an Ort und Geschichte haben Nieto Sobejano mit der eingegrabenen Teppichstruktur zugleich ein funktionales Museum verwirklicht. Natürlich mit einem Café – das sich zu einem weiteren, kleinen Patio öffnet, zu dem die zweite Eingangsrampe hinabführt.
Die nichtöffentlichen Bereiche des Museums umfassen neben den Restaurierungswerkstätten auch Lagerräume und eine Anlieferung für den schweren Bauschmuck der Ausgrabungsstätte. Dunkle Wände aus Irokoholz verleihen der Bibliothek und den Büros eine gediegene Atmosphäre. Hier endlich erklären sich auch die kleinen Wandöffnungen als Fenster, die die Arbeitsräume gegen die südliche Hitze abschirmen und dennoch ein gefiltertes Licht eindringen lassen. Doch noch einmal weiß der Bau zu überraschen, nämlich mit seinem großen, doppelgeschossigen Ausstellungsraum, den man in diesen Abmessungen kaum in einem Baukörper vermuten würde, der nur knapp mannshoch aus der Erde ragt. Über eine lang gestreckte Rampe verlassen die Besucher diese Museumswelt wieder, um in die Palaststadt der Omayyaden zurückzukehren. Und während sie den Hang emporsteigen, versinkt hinter ihnen das Museum in der Landschaft. So lautstark und häufig wird der Genius loci derzeit von Architekten beschworen, dass man längst misstrauisch geworden ist. Und tatsächlich wird das damit verbundene Versprechen, sich auf Vorgefundenes zu beziehen, Ort und Geschichte aufzunehmen und weiterzudenken, nur sehr selten in der gebauten Wirklichkeit auch eingelöst. Umso mehr weiß das Museum in Madinat al-Zahra zu überzeugen, da es den Bezug zum Ort respektvoll und ohne Platituden aufnimmt und in die Gegenwart übersetzt, indem es den geheimen Geist des Ortes in sich bewahrt.

13. September 2008 Neue Zürcher Zeitung

Baukünstlerische Neuerfindung

In der kanadischen Metropole Toronto am Ontariosee herrscht architektonische Aufbruchstimmung

Mit Museumserweiterungen, Universitätsbauten und Wohntürmen erfindet sich Toronto neu. Dabei kommen nicht nur die Grossen der Architekturszene wie Daniel Libeskind und Frank O. Gehry zum Zug. Auch einheimische Architekten setzen in der Stadt am Ontariosee Zeichen.

Es handelt sich um eine glanzvolle, aber späte Heimkehr für den 1929 in Toronto geborenen Frank O. Gehry. Mitte November nämlich wird in seiner Heimatstadt die von ihm entworfene Erweiterung der Art Gallery of Ontario (AGO) eröffnet. Für Gehry, der von Basel bis Boston schon in aller Welt gebaut hat, ist es erstaunlicherweise das erste in Kanada verwirklichte Grossprojekt. Dabei erscheint die Transformation der Art Gallery zumindest von aussen weniger spektakulär als einige ältere Museumsprojekte Gehrys, allen voran der Paukenschlag des Guggenheim-Museums in Bilbao. Der Bau im Zentrum von Toronto gibt sich städtisch gezähmt, aber gleichwohl prägnant mit einer Glasfassade, die sich wie eine Welle des Lake Ontario vor dem Galeriegebäude an der Dundas Street West hebt und senkt. Weniger inspiriert wirkt die hohe Box, mit der Frank Gehry das bestehende Museum auf der Rückseite ergänzt und dadurch auch den Charakter des sich gleich hinter dem Museum weitenden Grange Park verändert.

neue Entdeckungen

Die Erweiterung der Art Gallery bildet den vorläufigen Schlussstein in der gegenwärtigen baukünstlerischen Verwandlung Torontos. Seit einigen Jahren ist die Stadt dabei, sich als «design city» neu zu erfinden und dabei jenen architektonischen Grauschleier abzulegen, der manche der mittelmässigen Betonburgen umgibt, die während Torontos letztem grossem Bauschub in den siebziger Jahren entstanden sind. Für Bruce Kuwabara, Partner im renommierten kanadischen Architekturbüro Kuwabara Payne McKenna Blumberg (KPMB), befindet sich Toronto «an einem entscheidenden Punkt in seiner Geschichte». Nie sei hier das Interesse an Architektur, Städteplanung und Design grösser gewesen als heute. Die städtebauliche Entwicklung werde intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert. Tatsächlich spiegelt sich dieser Diskussionsprozess nicht nur in den traditionellen Medien wider, sondern auch auf zahlreichen Websites, die sich intensiv mit der Gestaltung Torontos auseinandersetzen und dabei Position beziehen.

Das neue Toronto gibt sich bunt und vielfältig in den architektonischen Formen – auch wenn nicht alle Projekte der letzten Jahre völlig überzeugen können. Gleichwohl ist die kulturelle Aufbruchstimmung in der quirligen Metropole unverkennbar. Dabei besitzt die «Renaissance der Städte» hier ein durchaus anderes Antlitz als in Europa. Dieses wird nicht nur durch zahlreiche neue Bauten für Kultur und Wissenschaft geprägt, sondern auch durch etliche neue Condominium-Towers, die hoch in den Himmel von Downtown Toronto ragen. Einige Protagonisten der architektonischen Neupositionierung sind alte Bekannte aus dem globalen Architekturzirkus, etwa Daniel Libeskind, von dem die Planung für einen dynamisch L-förmigen Wohnturm stammt. Er wird künftig dem ehrwürdigen, in den frühen 1960er Jahren entstandenen «Sony Centre for the Performing Arts» (von Peter Dickinson mit Page und Steele) an der prominenten Kreuzung von Yonge und Front Street bedrohlich nahe rücken.

Von Libeskind stammt auch die zweite neue Architekturikone neben Gehrys Art Gallery, mit der sich Toronto seit dem Sommer 2007 schmückt: Zwischen die Flügel des Royal Ontario Museum (ROM) hat Libeskind eine mächtige Stahlstruktur aus ineinander verschachtelten Kuben geschoben. Neben einer neuen, grosszügigen Eingangshalle entstehen so Ausstellungsräume für die natur- und kulturhistorischen Sammlungen des ROM. Die vielgelobte «kristalline» Architektur des Hauses könnte man ganz einfach auch als eckig beschreiben, bedient sich Libeskind doch beim ROM letztlich einer dem Jüdischen Museum in Berlin verwandten Formensprache. Die expressive Geste der dramatisch weit in den Strassenraum ragenden Erweiterung bleibt auch im Inneren des ROM als Leitmotiv sichtbar und besitzt dabei durchaus faszinierende Momente. Etwa wenn gewaltige Saurierskelette durch Libeskinds dekonstruierte Raumwelten mit den eingeschnittenen schmalen Fensterstreifen zu schweben scheinen. Allerdings dominiert die klobige Architektur die Exponate allzu sehr; und der eine oder andere Weg durch die Museumsräume endet für die Besucher überraschend im Nichts. Zudem zeugt Libeskinds Architektur nicht gerade von einem sensiblen Umgang mit den Schnittstellen zwischen Alt- und Neubau.

Weit weniger exaltiert, ja fast schon europäisch in seiner subtilen Gestaltung des Übergangs vom öffentlichen Strassenraum zur abgestuften Fassade erweist sich demgegenüber das Gardiner Museum of Ceramic Arts, das sich gleich neben dem ROM erhebt. Entworfen haben den Neubau Kuwabara, Payne, McKenna, Blumberg aus Toronto. Vor rund zwanzig Jahren gegründet, zählt das Büro KPMB zu den derzeit interessantesten der kanadischen Architekturszene. Wie Libeskind beim ROM gingen auch KPMB beim Gardiner Museum vom Motiv des Kubus aus, doch im Endergebnis unterscheiden sich die beiden Architekturen grundlegend: Die geometrischen Formen des Gardiner sind nicht wie bei Libeskinds ROM-Erweiterung wild ineinander verschachtelt. Vielmehr ragen die mit hellbraunem Kalkstein verkleideten Volumen unterschiedlich weit – aber wohlgeordnet – in den Stadtraum hinein. So entsteht eine angenehme Empfangssituation für die Museumsbesucher. Vor allem im Dämmerlicht bieten die grossen Glasflächen reizvolle Einblicke in das ansprechende Museum, das kürzlich mit einem internationalen Preis des Royal Institute of British Architects (RIBA) ausgezeichnet wurde.

Kulturelle Vielfalt

Wie sehr der architektonische Aufbruch Torontos vom vielfältigen kulturellen Angebot der Metropole bestimmt wird, zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Museumserweiterungen. Deutlich wird dies auch an der neuen Oper Torontos, dem Four Seasons Centre for the Performing Arts, das von Diamond & Schmitt Architects entworfen wurde. Es ist ebenfalls ein ruhiger, aber keineswegs langweiliger Bau. Mit seinem Materialdialog aus geschlossenen dunklen Ziegelflächen und weiten Glasöffnungen fügt er sich klug in das städtische Gefüge ein. Zugleich lädt er zum Blick von aussen in das grosszügige Foyer ein. Dort bietet sich eine wohlinszenierte Komposition aus umlaufenden Galerien, die mit einer spektakulären «Himmelsleiter»-Treppe verbunden werden. Als zusätzlicher Blickfang und gleichzeitig als Sichtschutz für die Zugänge zu den Besucherrängen dient eine leicht geschwungene Wand aus horizontalen Holzlamellen, die in ihrem Duktus an Arbeiten Alvar Aaltos denken lässt. Diese wirkungsvolle Kombination von Elementen der Moderne verweist auf die Wurzeln von Jack Diamond, der zu Beginn seiner Karriere im Büro von Louis Kahn gearbeitet hat.

Unweit der neuen Oper entsteht derzeit in der King Street West das neue Festivalcenter des jährlich Anfang September stattfindenden Filmfests von Toronto, das gerne als Auftakt zur Filmpreis-Saison Hollywoods bezeichnet wird. Der Bau der «Bell Lightbox» (Fertigstellung 2009) soll zu einer «senkrechten Stadt des Films» werden, wie es Bruce Kuwabara von KPMB formuliert. Das Konzept sieht einen im unteren Bereich stark gegliederten Baukörper vor, der dem Filmfestival eine architektonische Visitenkarte liefern und zudem von einem insgesamt 46-geschossigen Wohngebäude (Fertigstellung 2010) bekrönt werden soll. Während sich das im Bau befindliche Festivalcenter konsequent in die neuen innerstädtischen Hochhausprojekte einfügt, trifft man im ehemaligen Distillery District auf ein ganz anderes Toronto und zugleich auf eine ganz andere Architektursprache von KPMB.

Keine fünfzehn Minuten zu Fuss von der lärmenden Betriebsamkeit der Yonge Street entfernt, die Toronto wie eine Pulsader der Länge nach durchläuft, werden die Häuser niedriger und die Lücken zwischen ihnen grösser. Der Takt der Grossstadt verlangsamt sich merklich, und die vom legendären CN Tower, dem Wahrzeichen der Stadt, überragten Hochhäuser rücken ein Stück zurück. Doch selbst hier, am Rand der Old Town, hat der neue Bauboom seine Spuren hinterlassen, überragt ein eben fertiggestellter Wohnturm den erfolgreich wiederbelebten Distillery District. Doch der Turm hält den ziegelroten Backsteinbauten der einstigen Fabrikanlage nicht stand und entschwindet schnell aus dem Blick.

Der Distillery District ist ein abgeschlossener kleiner Bezirk, in dessen stimmungsvollem Ambiente sich in den letzten Jahren eine Kunst- und Kulturszene angesiedelt hat. Dabei wurden die historischen Backsteinhallen mit einer vorbildlich zurückhaltenden Architektur ergänzt und bieten nun viel Raum für Galerien und Designerläden. So ist ein für Kanada eher ungewöhnliches Areal entstanden, das – zumal in den Sommermonaten – zahlreiche Touristen anzieht. Mit übersichtlichen Lageplänen logistisch bestens ausgestattet, flanieren sie durch die Läden und Backsteingassen oder lassen sich in einem der Restaurants nieder. Am Rand des Distillery District haben KPMB das «Young Centre for Performing Arts» verwirklicht, ein Low-Budget-Projekt, das zu einem grossen Teil aus Spenden finanziert wurde. Dank den sensiblen Um- und Einbauten hat das Fabrikgebäude seinen Denkmalcharakter und vor allem seinen Charme bewahrt. Die roten Ziegel der Fassade werden im anheimelnden Foyer, das auch ein Café beherbergt, durch Einbauten aus warmen Holztönen ergänzt, ohne dass dabei der industrielle Charakter des Hauses verschleiert würde. Zur gelungenen Wirkung des Umbaus trägt auch die offene Dachkonstruktion mit ihren Holzbindern bei, die die alten Mauern leicht überragt. Verglichen mit den neuen innerstädtischen Millionenprojekten erweist sich das Young Centre zwar als eher unspektakulär – aber dank seiner stimmungsvollen Intimität ist es dennoch eines der schönsten und überzeugendsten Kulturzentren des neuen Toronto.

Mikado-Pixel

Dass der Umgang mit vorhandener Bausubstanz auch eine ganz andere Gestalt als beim Young Centre annehmen kann, hat der Brite Will Alsop mit seiner bereits 2004 fertiggestellten Erweiterung des Sharp Centre des Ontario College of Art and Design (OCAD) bewiesen, das gleich hinter der Ontario Art Gallery liegt. Neben dem altbekannten Postkartenmotiv des CN Tower ist der spektakuläre Alsop-Bau bereits zu einem der neuen architektonischen Wahrzeichen der Stadt aufgestiegen. Wie die auseinanderpurzelnden Stäbe eines Mikadospiels hat Alsop zwölf farbige Stahlstützen vor dem Altbau verteilt. Zusammen mit einem schwarzgestrichenen Erschliessungsturm aus Beton und einem schrägen Fluchttreppenhaus in knalligem Rot tragen sie die doppelgeschossige Box des neuen «Sharp Centre for Design». Der Neubau mit seiner schwarz-weiss gepixelten Fassade, über welche die Fenster unregelmässig verteilt sind, schwebt wie eine Bildstörung über dem Backsteinbau.

Auch beim zweiten Blick bleibt diese «Bildstörung» bestehen und verdichtet sich zur atemberaubenden Architekturikone. Sie spielt mit dem Erbe der Moderne und den Ideen der freischwebenden Wolkenbügelvisionen der russischen Konstruktivisten ebenso wie mit den Luftgeschossen eines Le Corbusier. Dabei gelingt es Alsop, unter dem weit auskragenden Baukörper einen einzigartigen öffentlichen Raum zu gestalten, der an den Grange Park anschliesst. In dem für Toronto typischen, aus niedrigen alten Backsteinbauten und neuen, höheren Wohnhäusern bestehenden Gebäudemix des Viertels setzt das Sharp Centre einen aussergewöhnlichen Akzent. Dieses freundliche Raumschiff vermittelt eine klare Botschaft: Design bietet mehr als das konventionelle Fortspinnen des Gewohnten. So wird es zu einem wirkungsvollen Markenzeichen für das OCAD. Eine ganze Stadt aus solchen Bauten wäre wohl ein Albtraum, aber ein einzelnes derartiges Zeichen in der Stadt kann zum Blickfang werden – und eine inspirierend kritische Sicht des gebauten Mainstreams fördern.

Wer in die Genese von Alsops Sharp Centre eintauchen will, der kann das bis zum 5. Oktober in Torontos ungleicher Schwesterstadt Montreal tun. Dort zeigt das Centre Canadien d'Architecture (CCA) in der Ausstellung «Will Alsop – OCAD, an Urban Manifesto» neben Entwurfszeichnungen und Collagen auch mehrere Filme, in denen man die Konstruktion und Entstehung des Gebäudes nachvollziehen kann.

Transformationsprozess

Ganz so spektakulär wie nach aussen gibt sich das Sharp Centre im Inneren nicht. Dort bleibt es eine vergleichsweise konventionelle Metall-Box, deren Stahlkonstruktion betont industriell wirkt. Das passt zwar zum Werkstattcharakter der Ausbildung, fällt aber gegenüber der Aussenwirkung ästhetisch etwas ab. Gerade Alsops Sharp Centre macht deutlich, dass der architektonische Aufbruch Torontos keineswegs allein auf die Ankurbelung des Tourismus schielt. Eine ebenso deutliche Sprache sprechen auch die zahlreichen neuen Wohntürme, die an der Hafenfront entstehen: Toronto ist als Wohnort attraktiv. Am Ufer des Ontariosees, der sich wie ein gewaltiges Binnenmeer vor der Stadt ausdehnt, liegt auch das grösste Entwicklungsgebiet der Agglomeration. Denn für die Stadt wäre es fatal, wenn das attraktive architektonische Amalgam verschwände, das das geschäftige Zentrum der Stadt rechts und links der Yonge Street rahmt – jene inspirierende Mischung, in der die Ziegelfassaden und Türmchen der kleinteiligen, manchmal etwas miefigen älteren Bebauung der Zeit um 1900 in einen krassen Dialog mit den betongrauen Bauten der Nachkriegszeit und den gläsernen Architekturen der Gegenwart treten. Dazwischen breiten sich unvermittelt Parkplätze, aber auch malerische Parks aus. Doch eine schmerzhafte Narbe zieht sich durch das Weichbild der Stadt: der Gardiner Expressway, eine breite Hochstrasse, die Toronto vom Ufer des Ontariosees abschneidet. Ein Blick hinab von den schwindelnden Höhen des CN Tower macht schnell deutlich, welche städtebauliche Katastrophe dieser breite Expressway darstellt. Ihn als Fussgänger zu unterqueren, kommt einem lärmenden Gang durch die Hölle gleich.

Im preisgekrönten Entwurf zur Neugestaltung der Hafenfront des Rotterdamer Büros West 8 findet man wohl einige putzige künstliche Inseln in Ahornblattform, die der Stadt im Ontariosee vorgelagert werden sollen – den Gardiner Expressway aber sucht man zum Glück vergebens. Dessen Zukunft wird in Toronto allerdings weiterhin kontrovers diskutiert. Der Ausgang ist offen, auch wenn man sich wünschen würde, dass der Expressway in einen Tunnel unter der Erde verlegt wird. Doch wie auch immer die Zukunft dieser Hochstrasse aussieht – die weitere Entwicklung des Hafenareals bildet den nächsten Schritt im Transformationsprozess der Stadt. Denn: Torontos Aufbruch dauert an.

[ Dr. Jürgen Tietz ist Architekturhistoriker und Publizist in Berlin ]

18. Juli 2008 Neue Zürcher Zeitung

Schlussstein ohne Esprit

Die «kritische Rekonstruktion» des Pariser Platzes in Berlin ist vollendet

Vor wenigen Tagen wurde mit dem Neubau der amerikanischen Botschaft die letzte Baulücke am Pariser Platz geschlossen. Seine «kritische Rekonstruktion» ist damit knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer vollendet. Das Resultat vermag nicht recht zu überzeugen.

Gelegentlich erweist sich die Dramaturgie der Geschichte als bestechend. Zum Beispiel am Pariser Platz in Berlin. Dort hielt Ronald Reagan 1987 jene Rede, die inzwischen zu den legendären Ansprachen amerikanischer Präsidenten in der geteilten Stadt zählt. Den Platz mit dem Brandenburger Tor in seinem Rücken, forderte Reagan seinen sowjetischen Gegenspieler auf: «Mr. Gorbatschew: open this gate.» Wohl kaum einer der Zuhörer glaubte damals ernsthaft daran, dass der Eiserne Vorhang zwei Jahre später fallen würde. Doch mit der Öffnung des Brandenburger Tors wandelte sich das Symbol der deutschen Teilung zum Symbol der deutschen Wiedervereinigung. Vor wenigen Tagen nun setzten die USA mit der Einweihung ihrer Botschaft am historischen Standort erneut ein Zeichen. Schliesst diese doch die Randbebauung des Pariser Platzes.

Berlins «gute Stube»

Im Jahre 1931 hatten die Amerikaner an der Südwestecke des Platzes für ihre Botschaft das «Palais Blücher» erworben. Ein prominenter Standort – nicht nur weil die Franzosen bereits mit ihrer Vertretung am Platz zugegen waren. Auch der Reichstag und die Ministerien an der alten «Preussischen Regierungsmeile», der Wilhelmstrasse, lagen in der Nähe. Doch noch ehe die amerikanische Botschaft die Arbeit in ihren neuen Räumen aufnehmen konnte, brannte das Palais aus. Ab 1939 diente es dann doch noch als Botschaft, allerdings nur bis zum kriegsbedingten Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Nach dem Zweiten Weltkrieg erging es der Botschaftsruine wie allen übrigen Gebäuden am Pariser Platz – sie wurden abgeräumt, denn das Gelände zu Seiten des Brandenburger Tores lag im Grenzgebiet der geteilten Stadt.

Mit der deutschen Wiedervereinigung setzte eine heftige Diskussion über die Zukunft des Pariser Platzes ein, der zum Laboratorium für die von Hans Stimmann propagierte «kritische Rekonstruktion» des steinernen Berlin aufstieg. Der Senat erliess eine kleinteilige Gestaltungssatzung für die «gute Stube» der Stadt am Ende der Strasse Unter den Linden, in der die Bauhöhen und steinernen Fassadenverkleidungen festgelegt waren. Dabei war Anfang der 1990er Jahre noch nicht einmal klar, ob das Brandenburger Tor wieder «eingebaut» werden sollte – schliesslich gab es auch Vorschläge, das Tor frei stehen zu lassen und es damit hervorzuheben. Keine ganz neue Idee, war doch im 20. Jahrhundert mehrfach erwogen worden, das Tor frei zu stellen.

Doch es kam anders: Inzwischen ist das Tor wieder wie vor dem Krieg von den Häusern Sommer und Liebermann eingefasst. Josef Paul Kleihues (1933–2004), der als Vater der «kritischen Rekonstruktion» gilt, verlieh ihnen ein frei interpretiertes, klassizistisch angehauchtes Fassadengewand, das eine entfernte Erinnerung an die zerstörten Vorgängerbauten wachhält. Im Blickpunkt aber steht vor allem das frühklassizistische Brandenburger Tor mit der es bekrönenden Quadriga, ein Nationalsymbol mit Werbekraft. Ob Silvesterparty oder Fussballfest – mit schöner Regelmässigkeit wird das Tor zur Hintergrundsfolie von Grossveranstaltungen degradiert. Denn das Brandenburger Tor überstrahlt alle anderen Bauten am Pariser Platz. Dabei wirbt Christian de Portzamparcs französische Botschaft mit betongrauem Sockel, ungewöhnlichen Fensterformaten und wehender Tricolore um Aufmerksamkeit, während die historisierende Aussenhülle des neuen alten Hotels Adlon so tut, als hätte sie das 20. Jahrhundert ohne jeden Schaden überstanden. Doch das «Adlon» ist ebenso ein Neubau wie die angrenzende Akademie der Künste von Günther Behnisch und Werner Durth, in deren dunkler Glasfassade sich die anderen Bauten des Platzes spiegeln. Die Akademie ist der einzige Bau, der sich dem Diktat der Gestaltungssatzung erfolgreich widersetzt hat. Das führte zwar nicht zu einer herausragenden Architektur, jedoch zu einer gewissen Belebung der sonst allzu steinernen Platzwelt.

Grenzen der Offenheit

Nach der Vollendung des Akademie-Neubaus wartete einzig die Südwestecke des Pariser Platzes noch auf Vollendung. Zwar hatten sich die Amerikaner schon früh dafür entschieden, den alten Botschaftsstandort wieder zu nutzen, und 1996 den Entwurf des kalifornischen Architekturbüros Moore, Ruble und Yudell für die neue Botschaft ausgewählt. Doch dann kam der 11. September, der sich auch für die neue Berliner Botschaftsarchitektur als Desaster erwies. Statt auf jene freundliche Offenheit für das Publikum, die aus manchem Botschaftsentwurf sprach, setzte man nun auf Sicherheit. Zur Verbunkerung der Botschaften kamen die Polizeiaufgebote und die Strassenpoller. Einen Steinwurf vom Pariser Platz entfernt wurde die Wilhelmstrasse vor der britischen Botschaft unpassierbar gemacht. Und auch um die amerikanische Botschaft entstand ein jahrelanges Tauziehen wegen der Sicherheitsbedenken, die letztlich nicht gerade zur Verbesserung des ohnehin schon etwas muffig-postmodern anmutenden Entwurfs der aus Santa Monica stammenden Architekten beitrugen.

Streng bewacht und umzäunt, springt der Neubau der US-Botschaft auf der Tiergarten-Seite ein Stück zurück und lässt dabei sogar vom benachbarten Haus Sommer ein Stück Brandwand frei stehen. Am Pariser Platz dagegen zeichnet sich das Bauwerk durch einen wohl als keck gemeinten Schlitz in seinem steinernen Fassadenkleid aus, vor dem sich ein albernes Glasvordach in Wellenform auf und ab schwingt. Es besitzt den gleichen vorstädtischen Charme wie der aufgepfropfte Glaszylinder des Sitzungssaals auf dem Dach, der in die nächtliche Stadt hineinleuchtet. Schon vor seiner Eröffnung hat das Botschaftsgebäude für viel Häme gesorgt – daran konnten auch die ungewöhnlichen Fensterteilungen wenig ändern. Stünde das Haus irgendwo am Rand Berlins, würde man wohl achselzuckend an ihm vorbeigehen. An diesem höchst prominenten Ort aber fragt man sich, welche Botschaft die Botschaft wohl vermitteln will – ausser jene der ausgeprägten Sicherheitsvorkehrungen. Dabei sind doch gerade in den vergangenen Jahren etliche interessante neue Botschaften in Berlin entstanden. Allen voran die nordischen Botschaften am Rand des Tiergartens mit ihrem grünen Lamellenband oder die ihnen benachbarte mexikanische Botschaft, deren marmorne Pfeilerreihen wie Dominosteine umzukippen scheinen.

Dagegen versucht die neue amerikanische Botschaft gar nicht erst, dem steinernen Mittelmass des Pariser Platzes ein architektonisches Zeichen entgegenzusetzen, worum sich die französische Botschaft so standhaft bemüht. Dieser Mangel würde wahrscheinlich gar nicht auffallen, hätte nicht gleich neben der US-Botschaft ausgerechnet ein Amerikaner bewiesen, wie man trotz engen Gestaltungsvorgaben eben doch eine interessante, längst zur Touristenattraktion avancierte Architektur verwirklichen kann. Mit ihrem strengen steinernen Raster und den grossen, sprossenlosen Fensteröffnungen beweist Frank Gehrys DZ-Bank eine gelassene, fast schon klassizistische Ruhe, um sich dann im Inneren einem exaltierten Dekonstruktivismus hinzugeben. Mit diesem einzigen Meisterwerk im Schatten des Brandenburger Tors vermag der Bau von Moore, Ruble, Yudell nicht zu konkurrieren. Zwar erhielt der Pariser Platz erst mit der amerikanischen Botschaft seinen Schlussstein. Doch die architektonische Krone hatte ihm Jahre zuvor schon Gehrys Bankneubau aufgesetzt. Manchmal neigt die Dramaturgie der Architekturgeschichte eben auch zum Treppenwitz.

17. Juli 2008 Bauwelt
26. April 2008 Neue Zürcher Zeitung

Konzept Zukunft

Wie umgehen mit den Bauten der sechziger Jahre?

Die Architektur der sechziger Jahre steht unter starkem Druck, noch bevor sie den Weg in die Denkmallisten gefunden hat. Dabei liessen sich diese Bauten mit qualitätvollen Interventionen weiterentwickeln.

Begleitet von viel Lärm und einer gewaltigen Staubwolke, wurde die Sprengung des Dortmunder «Volkswohl Bund»-Hochhauses vergangenen Februar zum medialen Grossereignis. Gerade 35 Jahre waren dem skulpturalen Betonbau von Harald Deilmann beschieden. Der jüngst verstorbene Architekt gehörte zu den wichtigen Vertretern der deutschen Nachkriegsmoderne, und sein «Volkswohl Bund»-Hochhaus hatte Eingang in Ralf Langes 2003 veröffentlichte Dokumentation zu «Architektur und Städtebau der sechziger Jahre» gefunden. Mittlerweile mutet das Buch wie ein Abgesang auf eine ungeliebte Architekturepoche an: Die Bebauung am Brühl in Leipzig verschwindet ebenso wie das Kaufhaus in Suhl oder das expressive Ahornblatt in Berlin. Trotz seiner stadtbildprägenden, markant gestaffelten Fassade stand das Dortmunder Hochhaus nicht unter Denkmalschutz. Die Architektur der sechziger Jahre, so heisst es bei der lokalen Denkmalpflege, sei halt insgesamt noch nicht aufgearbeitet. Dazu fehle es an Personal und an Kriterien. Andernorts ist man schon weiter. Schliesslich gilt in der Denkmalpflege, dass nach etwa dreissig Jahren der Abstand zu den Werken einer abgeschlossenen Epoche ausreichend gross ist, damit ihr Denkmalwert gewürdigt werden kann.

Ästhetischer Generalverdacht

Doch Denkmalwert hin oder her – in der Öffentlichkeit wird die Architektur der sechziger Jahre nicht geliebt: Architektonische Grossformen, Aluminiumverkleidungen und Sichtbeton sind nur begrenzt mehrheitsfähig. Und so widmet sich auch manch ein Denkmalpfleger lieber dem Bauerbe früherer Epochen, statt sich mit der Grossstadtarchitektur seiner eigenen Kindheit auseinanderzusetzen. Die Folge ist eine Umbau- und Abrisswelle, die das Erbe einer ganzen Generation bedroht. Eine Bedrohung, die neben der mangelnden Akzeptanz durch den architektonischen Mainstream auch handfeste Gründe hat: So haben sich die technischen Anforderungen an Büro- und Geschäftshäuser in den letzten vierzig Jahren radikal verändert, eine Nachrüstung ist daher oft teurer als der Neubau. Vor allem entpuppen sich gewisse Sechziger-Jahre-Bauten als wahre Energieschleudern, die nur aufwendig zu sanieren sind. Hinzu kommt die Materialität: Sind doch die Betonstrukturen oft geschwächt und die Wände mitunter mit Asbest verseucht. Ein weiteres Problem stellen die bei der Innenausstattung verwendeten Kunststoffe dar, die spröde werden und brechen. So steht inzwischen eine ganze Epoche unter ökologischem und ästhetischem Generalverdacht. Die Konsequenz daraus sind oft gravierende Veränderungen an den Bauten – bis hin zum Abriss, noch ehe diese überhaupt die Chance hatten, als Denkmale wahrgenommen zu werden.

Dabei gibt es durchaus Strategien, um die Bauten der späten Nachkriegsmoderne baulich und künstlerisch fortzuschreiben oder sie in ihrer Materialität zu erhalten, statt sie zu zerstören. Zu den bekanntesten Beispielen einer kreativen Umformung der letzten Jahre zählt die Münchener Rück. Dem spröden Stahlbetonskelettbau der frühen siebziger Jahre haben Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle neues Leben eingehaucht: Hinter der neuen Glasfassade verbirgt sich nun ein Bürobau mit Niedrigenergiestandard. Noch intensiver haben sich Franz Romero und Markus Schaefle in Zürich sowohl bei Wohn- als auch bei Bürobauten der Architektur der sechziger Jahre angenommen und dabei immer wieder andere Ansätze gesucht: Dem jüngst umgestalteten SIA-Hochhaus von 1970 haben sie mit dem Zitat der endlosen Säule von Constantin Brancusi ein zusätzliches Fassadenrelief verliehen. Anders sind sie dagegen bei dem 1962 von Werner Stücheli errichteten Hochhaus zur Schanze vorgegangen. Dort haben sie sich für einen Eingriff an der schmalen Grenze zwischen Reparatur und Rekonstruktion entschieden: Die Aluminiumbretter der Brüstungen wurden entsprechend den originalen Vorbildern neu hergestellt. Ebenfalls erneuert werden mussten die Fenster, deren Rahmen verzogen waren. Insgesamt aber blieb trotz der zusätzlich eingebrachten Wärmedämmung die ursprüngliche Geometrie des Hauses gewahrt.

Das Hochhaus zur Schanze steht damit gleichsam stellvertretend für die Gretchenfrage bei den Bauten der sechziger Jahre: Wie hältst du es mit der originalen Bausubstanz? Denn sowohl die oft allzu dünnen Betondecken, unter denen die Stahlbewehrung vor sich hin rostet, als auch die verzogenen Aluminiumverkleidungen sowie die hohen Energiekosten der schlecht isolierten Bauten führen dazu, dass nach der Sanierung im besten Fall noch eine optische Ähnlichkeit mit dem Original übrig bleibt. Zu den Meisterwerken, von denen nach ihrer Sanierung noch nennenswerte originale Substanz erhalten blieb, gehört das BMW-Hochhaus in München. Bei der Renovation der an einen Vierzylindermotor erinnernden Architekturikone, die der Wiener Architekt Karl Schwanzer Anfang der siebziger Jahre verwirklichte, ist es dem Hamburger Architekten Peter P. Schweger gelungen, die originalen Aluminiumguss-Elemente der Fassade zu erhalten. Zugleich blieb die Grundstruktur der Grossraumbüros in den vier Kreissegmenten der Zylinder erhalten. Völlig neu sind dagegen die technischen Einbauten, und auch der Flachtrakt mit der ehemaligen EDV-Anlage wurde umgestaltet.

Annäherung an den Bestand

Eine weitere exemplarische Erneuerung wird im unweit von Dortmund gelegenen Lünen mit Hilfe der Ludwigsburger Wüstenrot-Stiftung durchgeführt. Es handelt sich um die Geschwister-Scholl-Schule, die zwischen 1958 und 1962 von Hans Scharoun in aufgelockerter Pavillonbauweise errichtet wurde. Die Schüler verfügen dort über «Klassenwohnungen» mit viel Licht und kleinem Gartenareal. Die Restaurierung des weitgehend im Originalzustand erhaltenen Komplexes durch Oskar Spital-Frenking sieht unter anderem vor, Scharouns innovatives Luftheizungssystem wiederzubeleben, das als «technikgeschichtliches Dokument» gewertet wird. Die behutsam differenzierte Annäherung an den Bestand der Lünener Scharoun-Schule weist den Weg in ein Kapitel der Baugeschichte, mit dem auch die Denkmalpflege Neuland betritt. Es betrifft die Restaurierung einst innovativer Materialien aus Kunststoff ebenso wie die denkmalgerechte Weiterentwicklung der Bauten der späten Moderne. Denn obwohl sie derzeit nur von wenigen geschätzt werden, sind sie als Stadtbausteine und Zeitzeugen unverzichtbar.

19. Februar 2008 Neue Zürcher Zeitung

Tradition und Moderne

Eine Ausstellung über den Bauhaus-Architekten Franz Ehrlich in Dessau

Eine Retrospektive in Dessau erinnert derzeit an den Architekten Franz Ehrlich. Dieser schuf in der DDR ein umfangreiches Werk, in dem die Ideen des Bauhauses weiterwirkten.

Lediglich vierzehn Jahre hatte das Bauhaus (1919–1933) Bestand. Doch diese schmale Zeitspanne reichte aus, um die Kunstschule weltweit zum Synonym für Modernität werden zu lassen. Ihr Ansehen verdankte sie nicht zuletzt ihrem Begründer Walter Gropius und dem neuartigen Ausbildungskonzept, an dem Bauhaus-Meister wie Paul Klee, Lyonel Feininger oder Wassily Kandinsky mitwirkten. Aber ganz im Gegensatz zu ihren berühmten Lehrern sind viele Bauhaus-Absolventen heute nahezu vergessen. Zu Unrecht, denn diese erste und einzige Generation von Bauhaus-Schülern hat die Nachkriegsarchitektur in den beiden deutschen Staaten entscheidend mitgeprägt.

Moderat funktionalistisch

Zu dieser Gruppe einst einflussreicher Bauhäusler gehörten unter anderem der erste Landeskonservator im Westteil Berlins, Hinnerk Scheper, sowie der Mies-van-der-Rohe-Schüler Eduard Ludwig, der an der Hochschule der Künste lehrte. Im Ostteil Berlins arbeiteten dagegen Selman Selmanagic, der an der Kunsthochschule in Weissensee lehrte, sowie Franz Ehrlich (1907–1984). Unter dem Titel «Der moderate Funktionalist» erinnert das Bauhaus in Dessau nun mit einer kleinen Ausstellung im Meisterhaus Schlemmer an Ehrlichs 100. Geburtstag. Dabei ist keine umfassende Werkschau entstanden, die das facettenreiche Werk des Bauhäuslers angemessen ausleuchtet. Vielmehr versteht sich die von Lutz Schöbe und Wolfgang Thöner kuratierte Ausstellung als ein Impuls. Ihr soll ein Forschungsprojekt zu Ehrlichs Werk folgen, dessen Nachlass am Bauhaus verwahrt wird.

Geboren in Leipzig, kam der junge Kommunist Ehrlich 1927 ans Bauhaus. Dort absolvierte er zunächst eine Gesellenprüfung als Tischler und arbeitete später zeitweise im Büro von Gropius. Zu Beginn der dreissiger Jahre entwarf Ehrlich Titelblätter für die vom Bauhaus beeinflusste Zeitschrift «die neue linie» und stellte für Naum Gabo Plastiken nach dessen Entwürfen her. 1934 wurde Ehrlich verhaftet und kam 1937 ins KZ Buchenwald. Aus dieser Zeit zeigt die Dessauer Ausstellung einen Entwurf Ehrlichs für ein Tiergehege, dessen organisch geschwungene Formen die Qualität einer abstrakten Plastik besitzen.

Auch nach 1945 behielt Ehrlich seinen vom Bauhaus vermittelten Ansatz als Generalist bei. So arbeitete er unter anderem als Chefarchitekt der Leipziger Messe, für die er zahlreiche Stände verwirklichte und einen Messeturm entwarf, der jedoch nicht gebaut wurde. Seine Möbelserie «602», die ab 1957 von den Deutschen Werkstätten in Hellerau hergestellt wurde, erhielt Einzug in zahlreiche DDR-Wohnungen. Die ausgewählten Beispiele in der Dessauer Ausstellung zeigen, dass es wunderbar luftig leichte Regale, Kommoden und Stühle waren, die sich in ihrer bewegten Eleganz in nichts von zeitgleichen Arbeiten im Westen Deutschlands unterschieden. Kein Wunder also, dass Ehrlich auch ein gefragter Innenarchitekt war. 1954 richtete er den «Club der Kulturschaffenden Johannes R. Becher» in Berlin ein, den wir leider nur noch von Fotografien her kennen. Für das kriegszerstörte Dresden erstellt Ehrlich einen nicht realisierten Wiederaufbauplan, mit einem abstrakten Karl-Marx-Denkmal auf einer Elbbrücke, das die Form eines hohen Bogens besass.
Vielseitig und harmonisch

Zu Ehrlichs wichtigsten Grossprojekten gehörten das Zentrum des ehemaligen DDR-Rundfunks in der Berliner Nalepastrasse (1951–56, mit Gerhard Probst) und die Klinik für Herz- und Kreislaufforschung in Berlin Buch. Befreit von der Doktrin der «nationalen Tradition» des DDR-Wiederaufbaus mit ihren klassizistischen Anleihen am Werk Karl Friedrich Schinkels, schuf Ehrlich 1954–56 in Buch eine bemerkenswerte Anlage im Duktus des organischen Bauens. Die auf trapezförmigem Grundriss errichteten Bauten ordnete er unter Vermeidung rechter Winkel um einen grossen und einen kleineren Innenhof an. Grosszügige Glasflächen sorgten dafür, dass die Natur auch im Inneren des Hauses unmittelbar erfahrbar blieb. Zusammen mit dem sanft geneigten Schrägdach, den Rundpfeilern, aber auch dank der Verwendung von Schieferplatten und Bruchsteinmauerwerk entstand so ein geradezu zart anmutender Bau, der Tradition und Moderne harmonisch miteinander verband und dabei eine bemerkenswerte Raumerfahrung lieferte. Die in Buch zu beobachtende Aufnahme traditioneller Architekturelemente, denen Ehrlich gleichwohl eine eindeutig moderne Erscheinungsform verlieh, kennzeichnet auch spätere Entwürfe aus den siebziger Jahren, die die Dessauer Ausstellung mit wenigen Fotos und Skizzen vorstellt. Dazu gehören eine geplante Erweiterung des Schiller-Museums in Weimar und die 1972 verwirklichte Auslandvertretung der DDR in Brüssel.

Ehrlichs individuelle Handschrift zeigt dabei, dass er sich – anders als manch einer seiner Kollegen – nicht auf das Niveau eines «Komplexprojektanten» einer industrialisierten DDR-Architektur-Massenproduktion herabstufen liess. Stattdessen stand er als einer der Erben des Bauhauses für einen ganzheitlichen Ansatz von Gestaltung. Zwar wirft die Dessauer Ausstellung nur einen schlaglichtartigen Blick auf das facettenreiche Werk Ehrlichs. Doch sie macht dabei sehr deutlich, wie dringend es geboten ist, das Œuvre dieses Bauhaus-Schülers endlich angemessen aufzuarbeiten.

[ Bis 9. März im Meisterhaus Schlemmer in Dessau. ]

15. Januar 2008 Neue Zürcher Zeitung

Geliebte Fälschung

Rekonstruktionen historischer Bauten in Deutschland

Eine Rekonstruktionswelle überrollt derzeit Deutschland; von Braunschweig und Dresden über Berlin und Potsdam bis nach Frankfurt und Heidelberg spült sie nicht nur denkmalpflegerisch wertvolle Ruinen oder Stadtparks hinweg, sondern auch die Bauten einer ungeliebten Moderne. An ihrer Stelle hinterlässt sie bald barock, bald klassizistisch anmutende Fassadentapeten, hinter denen sich Firmenrepräsentanzen oder Shopping-Malls breitmachen und sich in Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam sogar ein Parlament einrichten wird. Erlaubt ist, was gemütlich wirkt und am Markt durchsetzbar erscheint. Ob die geforderte Nutzung und das Raumprogramm hinter der Fassadenrekonstruktion Platz finden, kümmert das Publikum wenig, solang das gebaute Ergebnis so ausschaut, als stamme es aus der Zeit vor 1900. Der konservative Zeitgeist hat sich den Tarnanzug der «europäischen Stadt» umgelegt und sich damit in der deutschen Stadtplanung festgesetzt.

Geschichtsverlorene Historie

Die Macht der gegenwärtigen Rekonstruktionswut reisst auch jene Bastion hinweg, die einst von den Vätern der europäischen Denkmalpflege wie John Ruskin und Georg Dehio mit den Worten «Rekonstruktion ist Fälschung» festgeschrieben wurde. So geht inzwischen ein Riss mitten durch die Zunft der Denkmalschützer, und manch einer singt nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand sein Loblied auf die Rekonstruktion. Dabei könnte ein Blick auf die jüngst erstellten Leitsätze der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege lehrreich sein. Diese hält Rekonstruktionen grundsätzlich für bedenklich. «Sie verwischen den Unterschied zwischen Denkmal und historisch gestaltetem Objekt. Indem sie vorgeben, das Denkmal sei leicht wieder erneuerbar, höhlen sie das notwendige gesellschaftliche Engagement für die Erhaltung historischer Substanz aus.»

Doch der Glanz des Gewesenen scheint besonders für viele Deutsche einen sehnsuchtsvollen Zauber zu besitzen. Legt sich doch jede neue Rekonstruktion – und sei sie noch so schlecht gemacht – wie ein heilender Mantel des Vergessens über die Abgründe der eigenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deren zerstörerische Spuren haben sich schliesslich bis heute ablesbar in Stadtgrundriss und Architektur eingegraben. Eine öffentliche Reflexion über das Geschichtsbild der Rekonstrukteure aber findet kaum statt oder wird mit leichter Hand hinweggewischt. Immer wieder hört man die Frage, ob man denn die Bauten für die Geschichte verantwortlich machen wolle. Architektur als Bedeutungsträger zu begreifen, wird da als überflüssige Intellektualisierung verstanden. Zwar ist die Geschichte der Rekonstruktion nicht neu, und ihre Anfänge reichen weit in die Baugeschichte zurück. Neu aber ist die Versessenheit, mit der nicht nur einzelne Bauherren, sondern ganze Stadt- und Landesparlamente sich unter der Vorgabe der Stadtreparatur mit den architektonischen Wiedergängern schmücken wollen. Und wenn die finanziellen Mittel nicht reichen, dann tragen prominente Softwareentwickler und Quizmaster medienwirksam ihr Scherflein dazu bei.

Regionaler Halt

Dabei müsste die Rekonstruktionswelle ein Alarmsignal sein. Drückt sich im angstvollen Festklammern an einer idealisierten Vergangenheit in Form von regionalen Bau-Ikonen doch mitunter gar Revisionismus aus. Mit der architektonischen Vergangenheitsbeschwörung soll dabei die Verlorenheit der Menschen in einer kalt wirkenden globalisierten Welt gemildert werden. Unter dem Dach der Rekonstruktion wird – wie bei der Dresdner Frauenkirche – Gemeinschaft gestiftet. Doch darüber hinaus erweist sich die Rekonstruktionseuphorie als Spätwirkung einer humorlos gewordenen europäischen Postmoderne, in der sich das tiefe Misstrauen gegenüber der Moderne und ihrer Architektur, ja der Zukunft insgesamt manifestiert. So tief ist dieses Misstrauen gegen Architektur und Architekten in Deutschland mancherorts geworden, dass beim Bauen erlaubt ist, was sonst in der Kunst als verboten gilt. Nirgendwo sonst nämlich wird die Fälschung so goutiert wie hier. Hingen in den Museen so hemmungslos banale Nachahmungen, wie sie sich beim Blick in die Kuppel der Dresdner Frauenkirche zeigen, alle Welt würde zu Recht aufschreien. In Dresden aber herrscht stattdessen heiliges Staunen. Original und Imitation gleichen sich im Zeitalter der virtuellen Verfügbarkeit der Architektur immer mehr an. Stadt und Stadtkopie werden austauschbar.

Und die deutschen Architekten? Sie entwerfen, sie bauen, und sie schweigen. Sie, die doch nach Vitruv eigentlich die Mutter aller Künste vertreten, machen sich gemein mit einer Zunft von Nachahmern und Fälschern, statt sich in ihrem Anspruch verletzt zu fühlen. Ein Skandal? Ach was, möchte man abwinken. Als Kunst hat die Architektur vielerorts ohnehin längst abgedankt. Zu oft ist sie nur Markt und Möglichkeit. Visionen bietet sie allzu selten. Dabei besitzt sie durchaus das Potenzial, mit einer klugen regional verankerten Baukunst den Druck einer nivellierenden Globalisierung zumindest zu kanalisieren. Doch stattdessen entstehen in den Innenstädten viele kleine Gestrigkeiten, die vorgeben, Geschichte wiederzubeleben, während sie doch nur die Substanz der Geschichte beiseiteschieben und die vielgelobte «europäische Stadt» fast nebenbei in einen banalen Themenpark verwandeln. So droht denn auch die neuste der geplanten Wiederherstellungen zu einem eigentlichen Themenpark zu werden: der Renaissancegarten des bis anhin von der schon vor hundert Jahren angedachten Rekonstruktion verschont gebliebenen Heidelberger Schlosses.

9. November 2007 Neue Zürcher Zeitung

Vorarlberger Weltsprung

Die Architekten Baumschlager Eberle in der Pinakothek der Moderne in München

Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle sind neben Coop Himmelb(l)au wohl die erfolgreichsten Architekten Österreichs. Eine Ausstellung in München dokumentiert die Erfolgsgeschichte der Vorarlberger.

Die kleinteilige Landschaft zwischen Bodensee und Alpen liegt seit einigen Jahren schon nicht mehr im Zentrum der baukünstlerischen Recherche von Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle. Mit ihren jüngsten Bauten und Projekten drängen die beiden Architekten, die einst als Heroen des Vorarlberger Regionalismus gefeiert wurden, nicht nur in die Welt hinaus, sondern auch in die Höhe. Da bleibt wenig Raum für die sinnliche Materialität ihrer frühen Werke, für die sie gerne zart ergrauende Schindeln oder Holzlamellen wählten. Stattdessen beherrschen fast nur noch Glas, Stein und Ziegel die jüngsten Arbeiten. Für Eberle ist damit kein programmatischer Wandel verbunden, sondern lediglich ein Massstabwechsel: «Bei den grossen Projekten der letzten Jahre bot es sich nicht an, Holz zu verwenden.»

Ungebremste Bauwut

Unter dem Titel «Architektur, Menschen und Ressourcen» präsentiert das Architekturmuseum der TU in der Münchner Pinakothek der Moderne einen Überblick über das neuste Schaffen von Baumschlager Eberle aus den vergangenen sechs Jahren. Die Schau verdeutlicht den Sprung der Architekten vom europäischen Regionalismus in die globalisierte Welt. Rund 70 Projekte sind derzeit im Bau oder in Planung. Neben Europa bildet dabei China einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit: Mit den modisch-marktgängig als Moma (2005) und PopMoma (2007) benannten Wohnhochhäusern haben sie in Peking eine architektonische Visitenkarte mit Fassaden im Schachbrett-Muster hinterlassen.

Weit wichtiger, als am grossen China-Kuchen der Global Players der Architekturszene zu knabbern, ist es für Baumschlager Eberle, im boomenden Reich der Mitte nachhaltige, energieoptimierte Architektur zu verwirklichen. Um den Energiebedarf für die individuelle Klimatisierung der grosszügig geschnittenen Wohnungen in den Moma-Hochhäusern zu reduzieren, setzen sie Betondecken als Wärme- und Kältespeicher ein. Zudem wird Frischluft über das Dach in die Wohnungen geleitet. Ziel von Baumschlager Eberle ist es, mit den vorhandenen baulichen Instrumenten eine für den jeweiligen Ort und seine klimatischen Voraussetzungen optimale Energiebilanz zu erzielen.

Die klar gegliederte Münchner Schau stellt die Projekte anhand von Fotos, Plänen und Modellen vor. Grosse Fotowände mit älteren Bauten unterstreichen derweil, wie sehr sich die Architektursprache der Vorarlberger gewandelt hat, die in den neunziger Jahren mitunter mit teilweise oval geschwungenen Projekten auf die postmoderne Wiener Schule um Hans Hollein anspielten. Gleichzeitig widmeten sich Baumschlager Eberle wie kaum ein anderes Büro dem Einfamilienhaus. Dabei entwickelten sie eine Leidenschaft für vollständig zu verschliessende Holzkuben aller Art. Nun zeigen ihre völlig ohne Holzfassaden auskommenden chinesischen Projekte, wie sie ihr aus dem Thema Regionalismus abgeleitetes Entwurfsprinzip zu globalisieren wussten. Indem sie nach dem Ort und seiner spezifischen klimatischen und kulturellen Voraussetzung fragen, wird ihr Ansatz zwar nicht stilistisch, aber dafür methodisch übertragbar.

Riesenbauten und eine Miniatur

Allerdings zeigt ihr Büro auch bei der architektonischen Handschrift Leitmotive. Etwa die eleganten, aber auch ein wenig manieriert wirkenden Glasfassaden aus schindelartig sich überlappenden Scheiben – bald ganz in Weiss, wie bei einem bahnhofsnah gelegenen Wohnhaus in Winterthur, bald ganz in Schwarz, wie beim neuen Flughafen in Wien, der 2009 fertig gestellt werden soll. Beim Hotel «Cube» in Savognin entschieden sie sich hingegen für eine grafische Aussenhaut, die einen strengen Akzent in der alpinen Landschaft setzt. Den räumlich spannungsvollsten Einsatz der Fassadengestaltung haben die Architekten mit dem Verwaltungsgebäude für die Weltgesundheitsorganisation und das Aids-Koordinierungsprogramm der Vereinten Nationen in Genf verwirklicht. Der Clou des Hauses ist das komplexe räumliche Vexierspiel von Innen- und Aussenräumen, von Höfen und Hallen, die durch die gläserne Architektur miteinander zu verschmelzen scheinen. Mit dem Gebäude für die Münchener Rück in München haben sie ein weiteres Zukunftsthema architektonisch besetzt: die Umnutzung und Erweiterung eines schlichten Verwaltungsgebäudes der siebziger Jahre, das nach der Transformation zum Schmuckstück avancierte.

Neben all diesen Bauten im Massstab gross bis extragross finden Baumschlager Eberle aber auch immer wieder Zeit für kleine Projekte wie das Klubhaus am Hafen von Fussach, wo sie – unweit der Mündung des Rheins in den Bodensee – bereits im Jahr 2000 ein Hafengebäude verwirklichen konnten. Beim neuen Klubhaus legen sie eine gläserne Hülle um eine sich baumartig verzweigende Betonstruktur. Das Ergebnis ist eine jener delikaten baukünstlerischen Arbeiten, mit denen Baumschlager und Eberle ihren Ruf begründet haben.

[ Bis 13. Januar 2008 im Architekturmuseum der TU in der Münchner Pinakothek der Moderne. Katalog: Architektur, Menschen und Ressourcen. Baumschlager-Eberle 2002–2007. Hrsg. Winfried Nerdinger. Springer-Verlag, Wien 2007. 231 S., € 39.–. ]

2. November 2007 Neue Zürcher Zeitung

Worthülse oder Heilsbringer?

Europa sucht nach Baukultur für alle

Baukultur hat in Europa Konjunktur, allerdings mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während in Frankreich jüngst die «Cité de l'Architecture & du Patrimoine» eingeweiht wurde, besitzt die Baukultur in Finnland bereits Verfassungsrang. Etwas bescheidener als in Paris projektiert man in Zürich, wo der Schweizer Heimatschutz 2009 ein Zentrum für Baukultur in der Villa Patumbah eröffnen will. Derweil wurde in Deutschland jüngst eine Bundesstiftung Baukultur mit Sitz in Potsdam ins Leben gerufen. Auf ihrer Gründungsveranstaltung klang eine gute Portion Stolz an, dass der Begriff «Baukultur» auf dem Weg sei, eine ähnliche internationale Sprachkarriere zu machen wie das Wort «Kindergarten».

Wahrung des kulturellen Erbes

Doch während man beim Kindergarten selbst nach dem Pisa-Schock in Deutschland noch weiss, um was es sich handelt, ist dies bei der Baukultur keineswegs sicher, denn der Begriff droht zur Worthülse zu verkommen. Was also ist Baukultur? Wer sich darüber Aufschluss bei einem Besuch auf der Homepage der Bundesstiftung Baukultur (www.bundesstiftung-baukultur.de) erhofft, wird freilich enttäuscht. Ebenso staatstragend wie beliebig heisst es dort: «Baukultur verbindet den Willen der Gesellschaft zur Wahrung des kulturellen Erbes mit dem Gestaltungsanspruch an die gebaute Umwelt und der Bereitschaft zur Modernisierung und Veränderung.» Doch hat die Gesellschaft überhaupt einen Willen zur Wahrung ihres kulturellen Erbes? Dokumentieren öde Gewerbezentren einen «Gestaltungsanspruch an die gebaute Umwelt»? Oder ist Baukultur am Ende lediglich ein grosses Wünsch-dir-was, das vom schöner Wohnen für alle bis zur Demokratisierung und Öffnung der Planungsverfahren reicht?

Vielleicht haben ja «Kindergarten» und «Baukultur» mehr miteinander gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Denn anstelle politischer Lippenbekenntnisse und endloser Debatten über Organisationsformen kann Baukultur auch ein pragmatisches Antlitz besitzen. Das legt jedenfalls die bereits seit 1966 agierende Chicago Architecture Foundation (CAF) nahe, die sich – im Gegensatz zur Stiftung Baukultur – fast ausschliesslich aus privaten Quellen finanziert. Mit ihren Führungen, Vorträgen und Auszeichnungen bereitet sie den Boden, um die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Facetten der gebauten Umwelt insgesamt zu stärken – und damit eine baukulturelle Grundbildung zu ermöglichen. Und weil bekanntlich alle Bildung in den Schulen anfängt, hat die CAF jüngst ein vorzüglich aufbereitetes «Architecture Handbook» erarbeitet, das verwandte deutschsprachige Veröffentlichungen glatt in den Schatten stellt. Doch nicht nur die ansprechende Gestaltung des Buches überzeugt. Fast noch wichtiger ist, dass die CAF unter ihrer Präsidentin Lynn Osmond im Vorfeld der Veröffentlichung den Dialog mit den Schulen gesucht hat, damit über das Handbuch baukulturelle Inhalte selbst in den Mathematikunterricht einfliessen können. Baukultur als Bildungsarbeit. Ein Ansatz, den in Deutschland die Bundesarchitektenkammer mit ihrem Programm «Architektur macht Schule» vertritt. Doch oft sind die Hürden allzu hoch, um bis in die ohnehin vollgestopften Lehrpläne zu gelangen.

Baukunst als Publikumsmagnet

Andererseits stehen Architektur und Städtebau, Denkmalschutz und Ingenieurbaukunst in der Publikumsgunst derzeit ganz oben. Überall, wo es Neubauten und Ausstellungen zu bestaunen gibt, bilden sich lange Besucherschlangen – egal, ob vor der Dresdner Frauenkirche, dem Guggenheim-Museum von Frank Gehry in Bilbao, das gerade seinen zehnten Geburtstag feierte, vor der Le-Corbusier-Schau in Weil am Rhein oder der Zumthor-Ausstellung in Bregenz. Doch auch der immer beliebter werdende Architekturtourismus ist noch kein Garant für flächendeckende Baukultur. Dafür bedarf es neben dem Staunen über Häuser auch eines intensivierten und kritischen Dialogs über die Bauten, über Orte und Qualitäten, über Materialien und nicht zuletzt über den Umgang mit dem gebauten Erbe, das eben keine beliebig reproduzierbare Massenware ist. Doch solange neu-alte Schlösser aus dem Investorenhimmel fallen und Einfamilienhaushalden die Stadtränder anfressen, steht Europa noch ein langer Weg bis hin zur Baukultur für alle bevor. Vermutlich führt er über den Kindergarten.

16. Mai 2007 Neue Zürcher Zeitung

Lebendige Moderne

Die neue Dauerausstellung im Bauhaus Dessau

Das Bauhaus Dessau bleibt in Bewegung: Ein halbes Jahr nach Abschluss seiner aufwendigen Restaurierung eröffnete nun die neue Dauerausstellung. Damit können sich die jährlich rund 80 000 Besucher der Welterbestätte künftig nicht nur einen Eindruck von dem 1926 eingeweihten Bauhausgebäude machen. Sie erhalten zudem einen Einblick in die Arbeit der Bauhausmeister und ihrer Studenten.

Und vielleicht gerät die Stiftung Bauhaus Dessau nach Wochen des medialen Blätterrauschens nun auch wieder in ruhigeres Fahrwasser. Hatte doch der ehemalige Leiter der Herzog-August- Bibliothek in Wolfenbüttel, Paul Raabe, im «Blaubuch» über die «kulturellen Leuchttürme» in Ostdeutschland, das im Auftrag der Bundesregierung erscheint, ungewöhnlich scharfe Kritik am Bauhaus geübt: «Den politisch massgeblichen Akteuren ist die Ikone ‹Bauhaus› für die aktuelle Bedeutung Deutschlands in der Welt zu wenig bewusst», heisst es dort. Zudem plädiert Raabe dafür, das kriegszerstörte Meisterhaus von Walter Gropius zu rekonstruieren. Eine Empfehlung, mit der sich Raabe über sämtliche Grundlagen denkmalpflegerischen Handelns hinwegsetzt.

Die Diskussion über das Meisterhaus bleibt dem Bauhaus erhalten - die neue Dauerausstellung selbst wird von den gegenwärtigen Störfeuern jedoch nicht beeinflusst. Kuratiert von Kirsten Baumann, legt sie den Schwerpunkt auf die Dessauer Jahre des Bauhauses und ergänzt so das Bild der beiden anderen deutschen Bauhaus- Zentren und -Sammlungen in Weimar und Berlin.

Eine Zeitleiste der Jahre 1918 bis 1933 führt einen in die kulturelle und politische Situation der Weimarer Republik ein, ehe man zu den Bauhaus-Originalen vordringt. Diese sind aus konservatorischen Gründen in einer «Black Box» in der ehemaligen Tischlerei des Werkstattflügels ausgestellt, der ja eigentlich durch seine gläserne Transparenz besticht. Doch das Bauhaus ist eben nicht als Museum errichtet worden, sondern als Schul- und Werkstattgebäude. Zugleich muss man sich in Dessau mit einer zweiten Sondersituation abfinden: Die eigene Sammlung, die heute rund 22 000 Objekte umfasst, wird erst seit 1976 aufgebaut. So lange dauerte es, bis die abstrakte Moderne des Bauhauses in der DDR akzeptiert war. Entsprechend dem späten Sammlungsbeginn liegt der Schwerpunkt der Exponate auf Arbeiten von Bauhaus-Schülern, die in der DDR gearbeitet haben. Zu ihnen zählte Marianne Brandt, die sich als Designerin von Lampen ebenso einen Namen gemacht hat wie durch ihre wunderbaren Fotografien und Collagen. Grete Reichardt fertigte in der Weberei Teppiche mit abstrakten Mustern. Zugleich stammen von ihr eine Holz-Steckpuppe und ein reizender Holzhampelmann aus geometrischen Formen, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind.

Es ist diese befruchtende Vielfalt im künstlerischen Schaffen, die bis heute die Faszination Bauhaus mit ausmacht. Dementsprechend gliedert die Ausstellung die Arbeit am Bauhaus nicht nach einzelnen Werkstätten auf, sondern legt den Schwerpunkt auf die Zusammenschau der fachübergreifenden Ausbildung. Und natürlich werden auch die drei Bauhaus-Direktoren und ihre Werke gezeigt: Walter Gropius, der Basler Hannes Mayer und Ludwig Mies van der Rohe. Zu den Highlights der Dessauer Sammlung aber gehört eine Meistermappe von 1923 - also noch aus der von 1919 bis 1925 währenden Weimarer Bauhaus- Zeit - mit grafischen Arbeiten der Bauhausmeister, darunter Blätter von Paul Klee, Lyonel Feininger, Oskar Schlemmer und Josef Albers.

Etliche der ausgestellten Objekte gehören längst zum kollektiven Bauhaus-Gedächtnis. Doch im Anblick der Originale wirkt ihr Bann stets aufs Neue. So vermittelt Lucia Moholys Porträtfoto von Nina Kandinsky eine geradezu atemberaubende Lebensnähe und Unmittelbarkeit. Zugleich wird darin deutlich, wie sehr das Bauhaus die ästhetische Wahrnehmung verändert und geprägt hat. Für Omar Akbar, Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, bedeutet die Eröffnung der Dauerausstellung allerdings nur einen Zwischenschritt. Sein Ziel ist es, auch das Sockelgeschoss des Werkstattflügels künftig für Ausstellungen zu nutzen, in dem sich derzeit das Archiv der Sammlung befindet. Mit dieser Umnutzung würde das Bauhaus Dessau wieder über einen dringend benötigten Raum für Wechselausstellungen verfügen. Und vielleicht liegt bis dahin auch ein eigener Katalog zur Dauerausstellung vor. Er könnte dann den jüngst erschienenen Fotoband über das Bauhaus nach seiner Sanierung, das immer das Hauptexponat bleiben wird, ergänzen.

[ Kirsten Baumann: Bauhaus Dessau. Architektur. Gestaltung. Idee. Jovis-Verlag, Berlin 2007. 144 S., Fr. 42.50. ]

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- Bauhaus Dessau

5. April 2007 Neue Zürcher Zeitung

Nachhaltige Städte

Vittorio Magnago Lampugnanis urbanistische Visionen

Als Vorreiter der gegenwärtigen Renaissance der Städte in Europa spielt der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani seit langem eine wichtige Rolle. Dabei bezieht er immer wieder grundsätzlich Position. So forderte er in der Zeitschrift «Die Denkmalpflege» vor einigen Jahren, «Architektur und Stadt können keine Wegwerfprodukte sein; sie müssen dauern». Unter dem Titel «Stadtarchitekturen» legt der Luzerner Quart-Verlag nun einen schmalen Band mit Arbeiten Lampugnanis aus den letzten Jahren vor. Sie reichen von der betont zurückhaltenden österreichischen Wohnsiedlung in Maria Lankowitz (1995-99) über den Masterplan des aus dem Bestand entwickelten und seit 2003 realisierten Novartis-Campus in Basel bis hin zum Entwurf für das «Färbiareal» in Schlieren (2004).

Mit der Einleitung seines Buches liefert Lampugnani, der Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich lehrt, erneut eine grundsätzliche Positionsbestimmung, die sich zugleich als Kritik am Städtebau der Moderne erweist. So wendet er sich gegen die anhaltende Einzonung von Bauland, durch welche die «Ressource Landschaft» unwiederbringlich zerstört wird - eine fatale Fehlentwicklung angesichts der Schrumpfungsprozesse, von denen verschiedene Regionen Europas betroffen sind. «Dem demographischen Paradigmenwechsel muss der städtebauliche folgen», schlussfolgert Lampugnani. Die Konsequenz daraus bedeutet für Europa, Städte in Zukunft vermehrt aus dem gebauten Bestand heraus zu entwickeln, etwa - wie in Basel oder Zürich - durch die Konversion von Industriearealen. Doch dazu bedarf es nicht nur der Achtsamkeit der Städtebauer, sondern vor allem verbesserter politischer Rahmenbedingungen.

Städtebau ist für den Autor weniger «der geniale Wurf als das geduldige Aufbauen auf Grundlagen, die teilweise bestehen und teilweise geschaffen werden müssen». Eine Formel, in die sich freilich ganz unterschiedliche städtebauliche Konzepte einpassen lassen. Die als «Zwischenstadt» bezeichnete «diffuse Zerfransung» städtischer Strukturen ist jedenfalls Lampugnanis Sache nicht. Vielmehr plädiert er für eine «Verpflichtung gegenüber der Geschichte», die er vom «Modernisierungsvandalismus» abgrenzt. Der «schier hemmungslose Landschaftsverbrauch setzte erst im sträflich unbekümmerten 20. Jahrhundert ein». Das ist gewiss richtig - und doch nur die halbe Wahrheit. Verdeckt dieser Blick auf die Geschichte doch, dass es jene Epoche des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit ihrem gründerzeitlichen Kapitalismus war, in der eine extreme innerstädtische Verdichtung zu steinernen Städten mit zahllosen Hinterhöfen führte. Gerade diese einst kritisierten Gebäude der Gründerzeit aber sind es, die heute vielfach als Leitbauten einer städtischen Architektur gelobt werden.

In seinem Wunsch nach einer vermeintlichen Objektivierbarkeit des städtebaulichen Entwurfsprozesses erweist sich für Lampugnani die Geschichte der Stadtarchitektur als «ein Gedächtnis von Strategien, das auf aktuelle Ansprüche durchsucht werden muss» - mit dem Ziel, «ohne rückwärtsgewandte Nostalgie, aber auch ohne futuristische Verbissenheit» Städtebau zu betreiben. Ein Leitmotiv dieses Ansatzes ist der behutsame Umgang mit unseren Städten, die Lampugnani als Kulturgüter begreift. Ob man diese aber bewahrt, indem man sie verändert, wie der Autor schreibt, erscheint fraglich. Mit der von Lampugnani beschworenen «Verpflichtung gegenüber der Geschichte» lässt sich diese Haltung jedenfalls nur schwer vereinbaren.

[ Vittorio Magnago Lampugnani: Stadtarchitekturen. De Aedibus 11. Quart-Verlag, Luzern 2006. 72 S., Fr. 48.-. ]

verknüpfte Publikationen
- Stadtarchitekturen - Vittorio Magnago Lampugnani

17. Februar 2007 Neue Zürcher Zeitung

Perfekte Städte

Zur Konstruktion urbaner Identität

Wer heute vor der Dresdner Frauenkirche steht, der wird sich nur noch mühsam daran erinnern können, wie der sie umgebende Neumarkt vor zehn Jahren ausgesehen hat. Denn zu Seiten der hellen Sandsteinkirche mit ihren dunklen Einschlüssen an originalen Bauteilen sind Neubauten emporgewachsen. Vom Cosel-Palais über das Quartier an der Frauenkirche bis zum «Hotel de Saxe» lassen sie den Betrachter ins Schwanken kommen, aus welcher Epoche sie stammen. Die Dresdner Kulisse gewinnt an Perfektion. Oder handelt es sich gar nicht mehr um eine Kulisse?

Symbolische Korrekturen

In seinem Beitrag «Dresdner Imitationen im Schatten der Frauenkirche», der in dem lesenswerten Sammelband «Konstruktion urbaner Identitäten» erschienen ist, arbeitet der Kunsthistoriker Gilbert Lupfer die Zwiespältigkeit des derzeitigen Dresdner Historismus heraus: «Die bisweilen suggerierte Vorstellung eines eindeutig definierbaren, mit einem Zeitschnitt als historische Schicht herauspräparierbaren Neumarktes, der ein Ensemble von höchster Qualität und Dichte ist, erweist sich als Fiktion.» So lehnt sich der Betonskelettbau des neuen «Hotel de Saxe» formal zwar an einen Barockbau an. Der wurde allerdings bereits 1880 abgerissen, um einem 1945 zerstörten Postgebäude Platz zu machen.

Eine solche «gebaute Geschichtsfiktion», um mit dem Titel des Beitrags von Arnold Bartetzky zu sprechen, erweist sich als verbreitetes Phänomen in Mittelosteuropa nach 1945. Sei es als «ein Pasticcio aus frei nachgeahmten Renaissance- und Barockmotiven, durchsetzt mit Originalfragmenten» wie in Danzig oder als Rekonstruktion einzelner Bauten. Besonders drastisch führt Bartetzky dies am Beispiel der Rekonstruktion der Unteren Burg in Vilnius vor Augen. Deren Reste waren 1795 abgerissen worden, um nun seit 2002 wiederaufgebaut zu werden. Dabei handelt es sich nicht nur um die Wiedergewinnung eines städtebaulich bedeutenden Leitbaus. Wie bei zahlreichen Rekonstruktionen der vergangenen Jahre geht es vor allem um das «starke Bedürfnis nach symbolischer Korrektur der Geschichte».

Der Rückgriff auf historische Bauformen ist dabei durchaus konsensfähig, auch wenn postmoderne Zitate und Doppelcodierungen angesichts der erfolgreichen Heimeligkeit des New Urbanism längst ihre ironische Brechung verloren haben. Dahinter steht die Abkehr von der Moderne und ihrem Bauwirtschaftsfunktionalismus. Eine Haltung, die freilich von einer «unzulässigen Verkürzung des Modernebegriffs ausgeht», wie Paul Sigel in seinem einleitenden Text «Konstruktion urbaner Identitäten» erläutert. Ist die reflexive Moderne doch keine Erfindung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist die kritische Haltung der Moderne sich selbst gegenüber geradezu konstituierend für die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts gewesen.

Kulissenschwindel

Ausgehend von der «Kritischen Rekonstruktion» der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 erlebte die «europäische Stadt» als historisches Konstrukt eine Blüte. Mit dem Büro Hilmer Sattler Abrecht widmet sich Klaus Jan Philipp einem der führenden Vertreter dieser «Kritischen Rekonstruktion», deren siegreicher Entwurf für die städtebauliche Ordnung des Potsdamer Platzes in Berlin vom Strassenraster des 19. Jahrhunderts ausging. Philipp konstatiert, dass die hohe bauliche Dichte, die rund um den Platz entstanden ist, zwar nicht typisch für Berlin sei, «aber für andere europäische Stadtbezirke der Gründerzeit, etwa in Paris oder Madrid». Eine kritische Analyse dieses Vorgehens lässt Philipp jedoch vermissen. Dabei ist es doch gerade diese Austauschbarkeit, die eigentlich der modernen Architektur von ihren Kritikern vorgehalten wird. Stattdessen lobt Philipp die langatmige Konventionalität von Hilmer Sattler Albrecht als eine «zwischen Tradition und Moderne oszillierende» Baukultur.

Ernst Seidl geht dagegen der Frage nach, ob «urbane Identität durch skulpturale Bauten» entstehen kann. Zwar gesteht der Autor gebauten Skulpturen durchaus zu, Identität zu stiften. Gegenüber dem «anything goes» allzu exaltierter architektonischer Landmarken bleibt er jedoch skeptisch. Mit der Frauenkirche jedenfalls, so lässt sich mit dem Denkmalpfleger Hans-Rudolf Meier abschliessend feststellen, besitzt Dresdens Stadtsilhouette wieder eine Landmarke. Doch gerade der vielbeschworene Canaletto-Blick ist entlarvend. Zeigt er am Elbufer doch weit mehr Bauten des 19. und 20. Jahrhunderts als originale Bausubstanz des Barock. Dem touristischen Wohlfülambiente inmitten des Dresdner Kulissenschwindels tut dies keinen Abbruch. Doch trotz der Marktgängigkeit solcher konstruierter Identitäten bleibt die Herausforderung bestehen, «sich der Reduktion der Komplexität unserer Städte auf einfache Bilder entgegenzustellen, insbesondere dem Bestreben, den Baubestand diesen anzupassen», schlussfolgert Meier. Besteht doch sonst die Gefahr, dass sich Imitation und Denkmalbestand in nicht mehr nachvollziehbarer Weise vermischen.

[ Konstruktion urbaner Identitäten. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart. Hrsg. von Paul Sigel und Bruno Klein. Lukas-Verlag, Berlin 2006. 176 S., Fr 43.80. ]

2. Februar 2007 Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch im Süden

Neues Interesse an regionaler Architektur in Deutschland

Anders als in Graubünden, in Vorarlberg oder in Südtirol spielte die regionale Kultur in der deutschen Architektur lange kaum eine Rolle. Doch jetzt keimt vor allem in Süddeutschland ein neuer architektonischer Regionalismus auf, der Tradition und Moderne verbindet.

Beim Begriff Regionalismus dachten die Deutschen lange Zeit an etwas Miefiges, Spiessig- Kleinkariertes, dem es zu entfliehen galt. Der fade Geschmack von Dorf und Kleinstadt wollte sich nicht zum verlockenden Duft der grossen weiten Welt fügen. Doch in den Zeiten der Globalisierung hat die einst als provinziell abgelehnte überschaubare Kleinheit von Heimat eine neue Qualität gewonnen. Regionalismen sind im «Europa der Regionen» längst zum Identitäts- und Marktfaktor aufgestiegen. Das reicht von den Reizen einer Küche mit regionalen Produkten bis zum marktgängigen Krimi mit Lokalkolorit.

Deutsche Befindlichkeiten

Regionale Spielarten der Baukunst prägten über Jahrhunderte hinweg das Erscheinungsbild der Kulturlandschaften. Doch während schon in den 1970er Jahren im Tessin, danach in Graubünden, in Vorarlberg und jüngst auch in Südtirol eine schulbildende Auseinandersetzung mit der Region zeigte, dass Regionalismus viel innovatives Potenzial besitzt, begegnete man dem Thema in Deutschland mit Misstrauen. Das lag freilich nicht nur am lautstark propagierten Internationalitätsanspruch der Nachkriegsmoderne, hinter dem sich allerdings bei näherer Betrachtung sehr individuelle - und oft auch regionale - Idiome verbargen. Das regionale Bauen war in Deutschland vor allem durch den «Heimatschutz» in Misskredit geraten. Dessen wichtigste Protagonisten aus der Zeit um 1900 liessen sich später willig für die «Blut und Boden»-Ideologie der Nationalsozialisten einspannen. Gleichwohl lohnt sich ein Blick zurück auf die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts. Damals gelang es vielerorts, lokale Stilelemente und Baumaterialien mit einer modernen Architektur zu verbinden und so zeitgemässe Lösungen für neue Bauaufgaben zu liefern - vom Massenwohnungsbau über die Fabrikanlage bis zur städtischen Verwaltung.

Erst mit der Postmoderne kam auch in Deutschland die Geschichte zurück in die Entwurfszeichnungen - häufig in der Form des mitunter peinlichen Retrodesigns der Berliner Schule und des europäischen New Urbanism, der in Form einer «Kritischen Rekonstruktion» manchmal seltsame Blüten treibt. Erinnert sei nur an den Kulissenschwindel des Dresdner Neumarkts.

Weit entfernt davon bewegt sich jener Regionalismus, welcher derzeit vor allem in Süddeutschland zu beobachten ist und der sich aus der räumlichen Nähe zur Vorarlberger Architektur nährt. Erst kürzlich legte das «Architekturforum Kempten» eine Zwischenbilanz der «Architektur im Allgäu» der letzten fünfzehn Jahre vor (Verlag Josef Fink; Fr. 34.80), in der rund 50 Gebäude vorgestellt werden. Es sind Lösungen, die sich in einen Dialog mit ihrer Umgebung begeben. Vielfach aus Holz errichtete Bauten, welche die traditionelle Materialverwendung reflektieren, aber auch die Typologie der örtlichen Architektur aufnehmen, die zumeist in eine zeitgemässe Formensprache übersetzt wird. Doch trotz diesem bemerkenswerten Ansatz befindet sich die Entwicklung im Allgäu im Vergleich zu Vorarlberg «erst am Anfang», wie der Augsburger Architekt Titus Bernhard in der Einführung des Architekturführers feststellt.

Die Auseinandersetzung mit der Region erweist sich auch als ein - architektonischer - Selbstfindungsprozess, häufig verbunden mit dem Generationswechsel unter den Architekten. So begibt sich der «Treffpunkt Architektur Schwaben» auf die Suche nach dem, was die Identität Schwabens ausmacht. Für den Architekten Frank Lattke bedeutet dies nicht nur, über Neubauten nachzudenken, sondern sich vor allem auch damit auseinanderzusetzen, wie man in einer «kleinteilig zersiedelten Landschaft die Strukturprobleme der Dorfkerne» lösen kann.

Wie kleinstädtische Strukturen im Wettbewerb zukunftsfähig gemacht werden können, beschäftigt auch die Architekten Christian und Peter Brückner in der bayrischen Oberpfalz. Die Verschiebung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der letzten Jahre, die Abwanderung der Industrie in Billiglohnländer und die veränderte Altersstruktur lassen sich auch dort häufig am Stadtbild ablesen. Das reicht vom fehlenden Bauunterhalt bis zur Vernachlässigung des öffentlichen Strassenraums. Umso wichtiger sind gezielte Eingriffe, um die kleinen Städte für die Bewohner - und Investoren - attraktiv zu machen. Für Peter Brückner gilt es, in enger Kooperation mit Politik, Wirtschaft und Investoren städtebauliche Leitbilder zu formulieren. So entsteht ein aktives Standortmarketing, getragen vom architektonischen Bewusstsein für die Region, das die Tradition als wichtige Quelle für ihre weitere Entwicklung begreift. Dass bei Investoren die Bereitschaft vorhanden ist, sich vor Ort zu engagieren, beweist das Logistikunternehmen IGZ im Oberpfälzer Falkenberg, für das Brückner & Brückner ein neues Betriebsgebäude geschaffen haben. Es spielt mit der Typologie jener väterlichen Scheune, in der die jungen Unternehmer der IGZ vor ein paar Jahren ihre Karriere begonnen hatten.

Oberpfälzer Vorbild

Die Entscheidung für Falkenberg besitzt Signalwirkung für die Region, denn Arbeitsplätze für junge IT-Fachleute sind auch in der Oberpfalz rar. Mit dem neuen Betriebsgebäude hat die Firma einen gleichermassen repräsentativ modernen wie regionalen Rahmen gefunden: Der geböschte Sockel des Hauses aus Flossenbürger Granit, der noch die Bearbeitungsspuren zeigt, stammt aus dem nahen Steinbruch und nimmt die Gestaltung der Scheunen aus der Umgebung auf. Das gilt auch für die silbrig schimmernde Holzkonstruktion des Obergeschosses, dessen abwechslungsreicher Ausdruck den Baukörper in die Dorfstruktur einbindet und ihm doch eine besondere Wirkung verleiht. Im Inneren dieser «Denkscheune» flankieren zwei seitliche Riegel mit Arbeits- und Besprechungsräumen einen grosszügigen zentralen Mittelgang. Helles Eichenholz, Glas und dunkler Stahl bestimmen den Raumeindruck. Anstelle einzelner Bürozellen sind Grossraumbüros für die Projektgruppen des Unternehmens entstanden. Und das Essen für die Angestellten der IGZ wird im wöchentlichen Wechsel von zwei Restaurants aus der Umgebung angeliefert, darunter der «Rote Ochse» - mit 500 Jahren das älteste Wirtshaus der Oberpfalz.

Die Falkenberger Denkscheune steht exemplarisch für einen neuen Regionalismus, der sich nicht auf das Bekenntnis zu einem Ort und seinen Traditionen beschränkt. Er bezieht vor allem auch die Menschen und deren Zukunft mit ein. Indem er die unmittelbare Umgebung stärkt, trägt er dazu bei, dass die einzelnen regionalen Bausteine nicht eines Tages aus dem grossen Globalisierungspuzzle herausfallen.

4. Dezember 2006 Neue Zürcher Zeitung

Bunte Moderne

Das frisch sanierte Dessauer Bauhaus feiert sich in einer Ausstellung

Nach zehnjährigen Sanierungsarbeiten erstrahlt das Bauhaus in Dessau zum Achtzigjahrjubiläum in neuem Glanz. Das Schlüsselwerk der Bauhausarchitektur, dem derzeit eine Ausstellung gewidmet wird, belegt, wie farbig die «weisse» Moderne eigentlich gewesen ist.

Die Revision der Moderne ist in vollem Gang. Längst hat die architekturgeschichtliche Forschung offenbart, dass das Neue Bauen der zwanziger Jahre weitaus vielschichtiger war, als es die wortgewaltigen Propagandisten des Internationalen Stils glauben machen wollten. Nicht nur programmatisch unterschied man sich in den Zentren der Avantgarde in Paris, Berlin, Moskau und Amsterdam voneinander. Auch die architektonische Praxis der Jahre zwischen 1918 und 1940 war durch höchst unterschiedliche Charaktere und Konzepte geprägt. Vor allem war die «weisse» Moderne keineswegs jene strahlende Heldin im weissen Gewand, als die sie uns in zahllosen Schwarzweissfotografien entgegentritt.

Farbige Ikone

Die ursprüngliche Farbigkeit, die an den rekonstruierten Meisterhäusern in Dessau bereits seit einigen Jahren zu sehen ist, hat nun auch die Ikone der Bauhausarchitektur erreicht, das von Walter Gropius entworfene Dessauer Bauhaus, dessen Sanierung rechtzeitig zum Achtzigjahrjubiläum abgeschlossen werden konnte. Zusammen mit der Geschichte und der Rezeption des Hauses wird sie in der Ausstellung «Ikone der Moderne» vorgestellt, die sich in die Kapitel Erinnerung, Architektur, Sanierung und Erlebnis gliedert. In einem leichten Winkel zum Gebäude verschoben, stellt sich die Ausstellungsarchitektur dabei wie ein Duplikat des Bauhauses in den Ausstellungsraum, die ehemalige Tischlerwerkstatt. So entsteht für die Besucher eine Distanz zum Gebäude, die neue Blicke auf die Architektur ermöglicht, aber auch auf die Ausstellungsstücke: Fotografien aus der Bauhausgeschichte und einige wie Devotionalien inszenierte Bauhausobjekte, die auf verspiegelten Sockeln stehen. Ganz in Schwarz und Weiss gehalten, spielt die Ausstellungsarchitektur dabei mit den Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten einer weissen Moderne, deren neue alte Farbigkeit es ja am Bauhaus gerade erst zu entdecken gilt. Denn das wichtigste Exponat ist dabei das Haus selbst, dessen Kuben sich zu einem städtebaulichen Mikrokosmos mit revolutionärer Wirkung fügen: der berühmte Werkstattflügel mit seiner Stahl-Glas- Fassade, das hohe Ateliergebäude, in dem Jungmeister und Studierende wohnten, sowie der dreigeschossige Nordflügel. Ein Brückenbauwerk, in dem sich Gropius' Direktorenzimmer befand, verbindet ihn mit den übrigen Bauteilen.

Mit der nun abgeschlossenen Sanierung hat sich das Bild des Bauhauses verändert. Wer hätte sich eine hellrosa Eingangswand zum Festsaal vorstellen können oder silbrig schimmernde Decken? Ob leuchtend rote Treppenwangen oder blaue und gelbe Unterzüge, das Bauhaus war bunter und damit auch weit dekorativer als gedacht. Diese überraschende Farbigkeit geht vor allem auf den Entwurf von Hinnerk Scheper (1897 bis 1957) zurück, der die Bauhauswerkstatt für Wandmalerei leitete. Aufgrund von Befunden und einer Graustufenanalyse von Schwarzweissfotografien wurden die Farben nun rekonstruiert.

Archäologie der Moderne

Doch das Bauhaus ist nicht nur ein Schauhaus seiner selbst, sondern auch ein Dokument für den schwierigen Umgang mit dem Erbe der Moderne in Deutschland. Nach seiner Schliessung 1932 auf Betreiben der NSDAP nutzten verschiedene Schuleinrichtungen das Gebäude. Noch 1945 wurde das markante Aushängeschild des Bauhauses, die freihängende Stahl-Glas-Fassade des Werkstattflügels, schwer beschädigt und später durch eine provisorische Lochfassade ersetzt, ehe 1960 an ihre Stelle langgestreckte Fensterbänder traten. Mit der Aufnahme des Bauhauses in die DDR-Denkmalliste ging 1964 eine erste Bestandsaufnahme einher, doch erst in den Jahren 1975/76 folgte eine Sanierung. An die Stelle der Fensterbänder trat dabei eine Rekonstruktion der Glasfront, allerdings aus Aluminium und nicht mehr aus Stahl.

Die jüngste Sanierung nun, die auf einem Konzept von Hans-Otto Brambach aus Halle an der Saale und Ruggero Tropeano aus Zürich beruht, versteht sich laut Projektleiterin Monika Markgraf vom Bauhaus als eine «Archäologie der Moderne», für die eine umfangreiche Bauforschung notwendig war. Je nach Erhaltungszustand und Bedeutung wurden unterschiedliche Bereiche definiert, in denen drei Zeitschichten ablesbar sein sollen: die Bauzeit 1926, die Restaurierung 1976 und die Gegenwart. Doch trotz diesem Bemühen, die Zeitschichten des Bauhauses erkennbar bleiben zu lassen, war die Hauptzielrichtung, ein Bild des Zustandes von 1926 zurückzugewinnen. Das betraf nicht nur die Rekonstruktion der Farbigkeit, sondern auch die Entfernung von Veränderungen, die während der Ursprungsnutzung des Bauhauses eingebracht worden waren. Müssen künftig Bauteile der Rekonstruktion von 1976 ersetzt werden, dann soll dies in Form von Nachbauten des Zustandes von 1926 geschehen.

Schleichende Rekonstruktion

So durchläuft das Denkmal einen Jungbrunnen, wird zur ewig schönen Diva der Architektur mit Schaueffekt, ganz so, als wäre nicht die Wechselhaftigkeit das Leitmotiv der ersten 80 Jahre Bauhaus gewesen. Doch nach der 17 Millionen Euro teuren Sanierung sieht man dem Haus sein wirkliches Alter höchstens noch an den reparierten Fussböden und Treppenstufen an. Wer das Bauhaus heute besucht und nicht um seine Geschichte weiss, der wird mit einer erstaunlich heilen Welt konfrontiert. Doch so heil, wie sie hier inszeniert wird, ist die Welt der Moderne keineswegs, steht die Architektur der Avantgarde doch vielerorts unter Beschuss: Gerade erst wurde in Berlin Oberschöneweide die denkmalgeschützte Fernmeldekabelfabrik abgerissen, ein Meisterwerk der Neuen Sachlichkeit, das Ernst Ziesel 1927/28 verwirklicht hatte. In Dessau dagegen lockt die Ikone Bauhaus Jahr für Jahr Tausende Besucher an, Tendenz steigend. Unabdingbar wird es daher sein, mit einem Pflegeplan auf die touristische Dauerbelastung des Denkmals zu reagieren.

Die Revision der Moderne geht beim Bauhaus, das seit 1996 zum Welterbe der Unesco zählt, mit einer schleichenden Rekonstruktion einher, die das Bild einer vermeintlichen Originalität erzeugt. Nicht verraten wird dabei freilich, dass das Ergebnis einer solchen auf die Bildwirkung fixierten «Rückgewinnung» bestenfalls eine Annäherung an das überformte Original bedeutet, jedoch keinesfalls das Original selbst.

[ Die Ausstellung «Ikone der Moderne» dauert bis 11. März 2007. Begleitpublikationen: Ikone der Moderne. Das Bauhausgebäude in Dessau. Hrsg. Walter Prigge, Edition Bauhaus, Band 24. Jovis- Verlag, Berlin 2006, Fr. 42.80. - Archäologie der Moderne. Sanierung Bauhaus Dessau. Hrsg. Monika Markgraf. Edition Bauhaus, Band 23. Jovis-Verlag, Berlin 2006, Fr. 50.-. ]

18. November 2006 Neue Zürcher Zeitung

Gebauter Kanon

Zwei Übersichtswerke zur abendländischen Baukunst

Bis in die Gegenwart hinein spiegelt die Architektur die Kraft der abendländischen Geschichte wider. Und während sich der Takt der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen zunehmend aus dem Einflusskreis des alten Europa hinüber nach Asien und Indien verlagert, bleiben die Bauten von der Antike bis zum Barock spürbare Zeugnisse vergangener Grösse. Ist es da Zufall, dass sich unter den aktuellen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt mit Klaus Jan Philipps «Reclam-Buch der Architektur» sowie mit Francesca Prinas und Elena Demartinis «Atlas Architektur» gleich zwei Bücher der Architekturgeschichte annehmen? Während in Literatur und Musik längst die Kanonbildung vorangeschritten ist und sogar dünnblütige abendliche Fernsehshows «Unsere Besten» bestimmen wollen, eilt die Architektur hinterher. Dabei ist die Baukunst ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit wegen hervorragend dazu geeignet, uns vor Augen zu führen, was überdauern kann, während um uns herum die Fundamente unseres abendländischen Selbstverständnisses brüchiger werden.

Dabei müssen beide Bücher, denen jeweils Handbuchcharakter zukommt, mit einem grundsätzlichen Problem fertigwerden: der schier unüberschaubaren Vielfalt der abendländischen Baukunst. Denn nicht nur ihre zeitlichen, sondern auch ihre regionalen Ausprägungen gilt es zu berücksichtigen, ebenso wie künstlerische Handschriften. Hinzu kommt, dass die Fachbegriffe der Architektur, von den Säulenordnungen bis zum Aufbau einer gotischen Kathedrale, kaum allen Lesern gegenwärtig sind. Somit ist Grundlagenarbeit gefordert. Da hilft es, dass beide Bücher übersichtlich nach Epochen gegliedert sind. Hier besitzt Klaus Jan Philipps Buch einen umfassenderen Blickwinkel, steigt er doch bereits in der Antike ein, während Prina und Demartini nach einem kurzen Vorspann erst im 10. Jahrhundert beginnen.

Dann aber entfalten sie ein Feuerwerk an Abbildungen bedeutender Bauten. Der grosse Vorteil ihres Buches ist die Vielzahl von Objekten, die sie nicht nur in der Beschreibung, sondern auch im Bild vorstellen. Das trägt erheblich zur Anschaulichkeit bei. Dabei werden mal einzelne Bauwerke in den Mittelpunkt gerückt, mal spezielle Bauaufgaben oder Architekten, zumeist aber ganze Regionen. Langsam über die Epochen wachsend, entfaltet sich so der Horizont der Baukunst bis in die Gegenwart. Zugleich gelingt es den Autorinnen, ihrem Buch eine besondere Note zu verleihen, indem sie weniger vertraute Aspekte mit einfliessen lassen, etwa das barocke Sizilien oder den Kolonialbarock des 18. Jahrhunderts. Architektenbiografien, ein kleines Glossar sowie ein Register schliessen den Band ab. Ein Atlas der Baukunst, wie der Titel nahelegt, ist das Buch jedoch nicht, verzichtet es doch auf Karten zur Verortung der vorgestellten Bauten. Und leider gibt es auch keine Literaturliste, die für ein Handbuch unabdingbar ist.

Nach ganz ähnlichem Prinzip ist auch das Buch von Klaus Jan Philipp aufgebaut. Und es liegt in der Natur eines architektonischen Kanons, dass eine grosse Zahl von Bauten in beiden Büchern Erwähnung findet. Vergleichbar ist auch das farbliche Ordnungssystem, das einen schnellen Zugriff auf die Epochen ermöglicht. Einleitungstexten zu den Zeitabschnitten folgen bei Philipp Beiträge über bedeutende Zentren, die wichtigsten Bauaufgaben, Architekten und Gebäude. Der grosse Vorteil seines Buches ist, dass er tatsächlich bei den Anfängen des europäischen Architekturwollens einsetzt und damit die grosse Geschichte der abendländischen Baukunst in ihrer Vollständigkeit präsentiert.

Ganz bewusst ist dennoch ein Drittel des Buches der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vorbehalten. Anstelle eines Glossars sind einzelne Themen wie Säulenordnungen oder die Struktur der gotischen Kathedralen in die jeweiligen Kapitel eingefügt. Doch leider verfügt das Reclam-Buch über weit weniger Abbildungen, werden zahlreiche Objekte zwar beschrieben oder zum Vergleich herangezogen, aber nicht abgebildet, worunter die Anschaulichkeit gelegentlich leidet. Gleichwohl bereiten beide Bücher für die Leser einen beeindruckenden Fundus an architekturhistorischem Wissen auf, in den einzutauchen bedeutet, sich auf faszinierende Weise mit den Wurzeln und Zeugnissen der abendländischen Baukultur vertraut zu machen.

[ Klaus Jan Philipp: Das Reclam-Buch der Architektur. Reclam- Verlag, Stuttgart 2006. 463 S., Fr. 69.40. - Francesca Prina und Elena Demartini: Atlas Architektur. Geschichte der Architektur. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 432 S., Fr. 52.-. ]

7. August 2006 Neue Zürcher Zeitung

Konstruktivistisches Elend

Eine Architekturausstellung in Dessau

Für das Haus des Centrosojus in Moskau, das Le Corbusier 1928 entwarf, stehen die Chancen einer denkmalgerechten Restaurierung in den nächsten Jahren nicht schlecht. Doch viele andere Moskauer Bauten der Moderne sind dem endgültigen Untergang geweiht - wenn nicht ganz schnell etwas geschieht. So lautet das Fazit der Ausstellung «Avantgarde - Diffamierung - Welterbe?», die derzeit im Dessauer Meisterhaus Schlemmer zu sehen ist. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt sie den Umgang mit dem Bauerbe der Moderne in Deutschland und Russland. Dem euphorischen Aufbruch der zwanziger Jahre folgte in beiden Ländern eine Phase der Diffamierung der Avantgarde, im NS-Regime ebenso wie unter der Stalin-Diktatur.

Inzwischen sind die Bauten der klassischen Moderne in ihrer Denkmalwürdigkeit in Deutschland weitgehend akzeptiert, und das Bauhaus in Dessau geniesst sogar den Welterbe-Status. Die nicht minder bedeutenden Bauten der Konstruktivisten in Moskau sind dagegen nach wie vor ungeliebt und harren ihrer Wiederentdeckung im eigenen Land. Doch aufgrund ihrer «schlichten Fassadengestaltung werden sie bis heute als unrussisch empfunden», so Anke Zalivako, eine der Kuratorinnen der Ausstellung. Gleichgültigkeit und mangelnder Bauunterhalt sorgen dafür, dass wegweisenden Bauten der Moderne der Untergang droht. Dazu zählen das Norkofim Kommunehaus (1928/30) von Moissej Ginsburg oder das Verlagshaus der Prawda aus den dreissiger Jahren, das im Februar 2006 ausbrannte. Weit über Russland hinaus bedeutet dies einen unersetzlichen Verlust.

[ Die Ausstellung «Avantgarde - Diffamierung - Welterbe?» im Meisterhaus Schlemmer in Dessau dauert bis zum 27. August. ]

29. Juli 2006 Neue Zürcher Zeitung

Vergessene Avantgarde

Der Architekt Richard Paulick

Deutlich in die Jahre gekommen, unterscheidet sich die Grossgarage an der Berliner Kantstrasse heute kaum von den typischen Parkhäusern andernorts. Wer ahnt schon, dass sich hinter ihrer Glasfassade eine Inkunabel der modernen Architektur der Stadt verbirgt? So unbekannt wie die 1928/29 errichtete Kant-Garage ist auch ihr Architekt Richard Paulick (1903-1979). Ein lesenswerter Sammelband ermöglicht nun seine überfällige Wiederentdeckung. Wolfgang Thöner zeichnet in seinem Beitrag die Begegnung Paulicks mit dem Bauhaus in Dessau nach, wo der gebürtige Rosslauer zum Leiter des Büros von Walter Gropius aufstieg. Doch im Juni 1933 sah sich Paulick zur Emigration gezwungen. Die aufreibende Zeit des Exils in Schanghai, die für Paulick bis 1949 dauern sollte, schildert Eduard Kögel.

Mit der Rückkehr in die DDR erlangte Paulick grössere Bekanntheit, wie aus den Beiträgen von Jörn Düwel und Peter Müller hervorgeht. In Ostberlin hatte er mit seiner «Meisterwerkstatt» die Organisation der Grossbaustelle Stalinallee inne, wo er auch selbst einen Komplex verwirklichte. Die Ambivalenz zwischen der von ihm gewollten Moderne und der staatlich verordneten Tradition im Sinne Moskaus wird bei Paulicks «Deutscher Sporthalle» (1951) anschaulich: Dem monumentalen Portal antwortete an den Seiten ein sachlich durchgebildeter Baukörper.

Der Wiederaufbau der Staatsoper Unter den Linden begründete Paulicks Ruf als «Roter Schinkel». Treffender aber wäre die Bezeichnung als «Roter Knobelsdorff» gewesen, wie Uwe Schwartz mit Blick auf den eigentlichen Architekten der Oper Friedrichs des Grossen verdeutlicht. Nachdem der Stil der «nationalen Tradition» in der DDR ausgedient hatte, knüpfte auch Paulick mit seinen rationalisierten Plattenbauten wieder an die Wurzeln der Vorkriegsmoderne an. Trotz seiner etwas überambitionierten Gestaltung macht das Buch neugierig auf die Arbeit dieses Architekten zwischen Moderne und Tradition.

[ Bauhaus-Tradition und DDR-Moderne. Der Architekt Richard Paulick. Hrsg. Wolfgang Thöner, Peter Müller. Deutscher Kunstverlag, München 2006. 192 S., 80 Abb., Fr 43.70. ]

21. Juli 2006 Neue Zürcher Zeitung

Bewegte Farbwelten

Die Berliner Architekten Sauerbruch Hutton in München

Die Architektur von Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton setzt durch ihre farbigen Fassaden und die oftmals organisch geschwungenen Gebäudeformen Akzente. Eine Münchner Ausstellung gibt nun einen Überblick über das Werk der Wahlberliner, die zu den wichtigsten Vertretern der mittleren Architektengeneration in Deutschland zählen.

Sind runde Gebäude besser als eckige? Für den Architekten Matthias Sauerbruch ist die Antwort einfach: «Wenn ich zu wählen hätte, würde ich vermutlich intuitiv ‹rund› wählen», schreibt er im ausgezeichneten, erstmals einen Gesamtüberblick über das Œuvre des Berliner Büros vermittelnden Katalog zur Ausstellung «1 2 3 4. Die Architektur von Sauerbruch Hutton», die das Architekturmuseum der TU München derzeit in der Pinakothek der Moderne zeigt. Zwei Grundzüge kennzeichnen die Architektur von Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch: Die kräftige Farbigkeit ihrer Bauten geht mit einer organischen Grundstruktur einher. Dabei verzichten die beiden Wahlberliner keineswegs bei allen Bauten auf rechte Winkel, die geschwungene Form erweist sich somit keineswegs als Dogma. Auch das Expressive einer allzu aufgeregt plastischen Architektur liegt ihnen nicht. Vielmehr stehen ihre Bauten in der Traditionslinie der organischen Architektur der Moderne. Folgerichtig interessieren sie sich «für Räume, die Bewegung suggerieren», wie bei Hans Scharoun und Alvar Aalto.

Eigenständige Sprache

Das zweite dominierende Gestaltungsmotiv ihrer Architektur ist die intensive Farbigkeit. Mit ihr sorgten sie schon bei ihren ersten beiden bedeutenden Berliner Projekten für Furore, dem Kreuzberger GSW-Hochhaus (1991-99) mit seinem Sonnenschutz, der in unterschiedlichen Rottönen changiert, sowie beim amöbenförmigen Photonic Centre (1995-98) in Adlershof. Inzwischen gehören Sauerbruch Hutton zu den renommierten deutschen Architekturbüros, die dank ihrer eigenständigen Sprache international Anerkennung erfahren. In Deutschland freilich müssen sie sich auch kritischer Stimmen erwehren. Bilden die geschwungenen Formen und leuchtenden Farben ihrer Bauten doch einen Gegenpol zum kubischen Minimalismus, der gleichsam das andere Ende der heutigen Architektur beschreibt. Und mit dem historisierenden Retro- Schick, wie er das deutsche Baugeschehen zwischen Dresden, Frankfurt und Berlin dominiert, haben Sauerbruch Hutton nichts am Hut.

Ein drittes Leitmotiv ihrer Architektur tritt dagegen weniger offensichtlich zutage: das ökologische Konzept. Exemplarisch haben sie es im 2005 fertig gestellten Bundesumweltamt in Dessau verwirklicht, das neben einer Photovoltaikanlage und thermischen Sonnenkollektoren auch über einen grossen Luft-Erdwärme-Tauscher verfügt. Mit seiner Fassade aus farbigem Glas und Holzelementen schlängelt sich der Bau einer ehemaligen Industriebrache entlang und macht in seiner dynamischen Form fast vergessen, dass er immerhin 800 Mitarbeitern Platz bietet.

Der Ausstellungstitel «1 2 3 4» bezieht sich auf die vier Kapitel der Münchner Schau: Form, Inhalt, Oberfläche und Mittel, denen jeweils ein eigener Raum gewidmet ist. Den Auftakt machen rund zwanzig Modelle von Bauten und Projekten. So entsteht eine Stadt im Kleinformat, in welcher die Besucher umherwandeln können. Und vielleicht fragen sie sich ja insgeheim, wie es sich wohl in einer solchen Stadt leben würde, deren Farbigkeit nicht allein von grellen Werbeflächen und Neonlichtern bestimmt wird, sondern von farblich wohltemperierten Fassaden. Eine Stadt, in der sich neben den klassischen Blockrandbebauungen zunehmend auch organisch geschwungene Räume entwickeln dürfen? Anstelle des rechtwinkligen Strassenrasters würden sich luftige Stadtlandschaften entfalten, die ein Wechselspiel mit ihren kubischen Nachbarn entfachen.

Farbiges Mikado

Eine Ahnung von diesen städtischen Qualitäten zeigt der Entwurf für die neue ADAC-Zentrale in München, die 2009 fertig gestellt werden soll. Neben einem Hochhaus modelliert dort ein flacherer, fünfgeschossiger Bauteil fliessende Stadträume, die unmittelbar auf die umgebende Bebauung reagieren. Platzartige Weitungen wechseln sich mit Bereichen ab, an denen der Neubau dicht an den gebauten Bestand herangeführt wird. Sauerbruch Hutton verfügen über die Fähigkeit, starke Orte zu schaffen, die sich nicht nur aus einer ebenso eigenwilligen wie eigenständigen Architektur heraus definieren, sondern vor allem aus einem sensiblen Gefühl für den städtischen Raum. So auch bei dem Entwurf für ein Bürogebäude am Kölner Rheinufer (1999). Jenseits von Blob-Strukturen und Nierentisch-Romantik sollen die geschwungenen Fassadenfronten der einzelnen Baukörper auch dort eine spannungsvolle Raumwirkung erzeugen. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass sich Stadt nicht allein aus dem Aneinanderreihen streng rechtwinkliger Geometrien und geschlossener Blockränder konstituieren muss - die Projekte von Sauerbruch Hutton liefern ihn.

Allenthalben herrscht eine lustvolle Leichtigkeit vor, eine spielerische Eleganz, die sich schon in den Entwurfszeichnungen widerspiegelt, die gelegentlich den Charme der fünfziger Jahre in sich bergen. Entscheidend geprägt wird diese Wirkung durch die farbigen Fassaden. Ihnen ist in der Ausstellung ein eigener Raum gewidmet, in dem vier grossformatige Fotos des finnischen Künstlers Ola Kolehmainen mit Detailansichten gezeigt werden. Seit Bruno Tauts revolutionären farbigen Bauten in Magdeburg und Berlin, die in den 1920er Jahren entstanden sind, hat die Farbe wohl bei keinen anderen Architekten eine so zentrale Rolle gespielt wie bei Sauerbruch Hutton.

Das zeigt sich auch im letzten Kapitel der Ausstellung. Es ist dem Neubau des Brandhorst-Museums vorbehalten, das derzeit gleich neben der Pinakothek der Moderne entsteht. Ab 2007 wird es eine grosse Privatsammlung zeitgenössischer und moderner Kunst beherbergen. Und so bietet der letzte Ausstellungsraum den Blick in eine Architekturwerkstatt mit Modellen, Skizzen und Plänen, die deutlich machen, wie viel Aufwand und Detailarbeit in einem Gebäude stecken. Das gilt auch für die Suche nach der Fassadenfarbe bei der Sammlung Brandhorst, die in einem 1:1-Ausschnitt vorgestellt wird. Glasierte Terrakottastäbe fügen sich dort zu einer bunt schillernden Oberfläche zusammen. So entsteht ein Fassaden- Mikado mit Überraschungseffekt, das auf der Münchner Museumsmeile eine ganz eigenständige Wirkung entfalten wird.

[ Bis 22. Oktober in der Pinakothek der Moderne in München. Katalog: Sauerbruch Hutton. Archiv. Lars Müller Publishers, Baden 2006. 342 S., Fr. 89.90 (Euro 38.- in der Ausstellung). ]

24. Juni 2006 Neue Zürcher Zeitung

Zwischen den Welten

Das Exil des Architekten Adolf Rading

Er gehört zu den bekannten Unbekannten des Neuen Bauens: der Berliner Architekt Adolf Rading (1888-1957). Dabei zählte er als Büropartner von Hans Scharoun und Hochschullehrer in Breslau zu den erfolgreichen Architekten der zwanziger Jahre in Deutschland. So war er unter anderem an den beiden Werkbundausstellungen 1927 in Stuttgart Weissenhof und 1929 in Breslau beteiligt. Seine Emigration vor den Nationalsozialisten, die ihn nach Frankreich und später nach Palästina und England führte, bedeutete für Rading einen existenziellen Einschnitt. Diesem Bruch widmet sich die Arbeit der Kunsthistorikerin Regina Göckede, die anhand der bisher unveröffentlichten Schriften Radings aufzeigt, wie der Architekt das Exil reflektierte und sich die Exilerfahrung in seinem Werk widerspiegelte. Göckedes aufwendig recherchierte Arbeit bezieht dabei nicht nur Radings Nachlass in der Berliner Akademie der Künste ein, sondern wertet auch Archivalien aus der Entstehungszeit Israels aus. In einem ihrer ausführlichen Exkurse erläutert die Autorin die Architekturentwicklung in Palästina und die identitätsstiftende Rolle der Moderne im Vorfeld der Staatsgründung Israels und bemüht sich darum, Radings Exilarbeiten in einen grösseren bau- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang einzubetten.

Doch auch der «Genese der Architektenkarriere» widmet sich Göckede. In Berlin und Breslau war Rading zunächst Mitarbeiter im Büro des Jugendstil-Architekten August Endell, ehe er in Breslau eine eigene Professur erhielt. Dort verwirklichte er auch seine ersten bedeutenden Bauten: die «Odd-Fellow-Loge» (1926) und den Umbau der Mohrenapotheke (1928). Radings Bauten dieser Zeit zeigen den reduzierten Duktus der «weissen Moderne», angereichert durch Motive aus der Schiffsarchitektur, mit denen er etwa seinem Gemeinschaftswohnhaus auf der Breslauer Werkbundausstellung Dynamik verlieh.

Nach dem Verlust seiner Professur wanderte Rading zusammen mit seiner jüdischen Frau 1933 zunächst nach Frankreich aus, ehe er 1936 nach Palästina weiterzog. Dort trat er 1943 in die Stadtverwaltung von Haifa ein. Neben grösseren Entwürfen entstanden kleinere Wohnbauten in Naharia, nördlich von Haifa, bei denen er sich mit der regionalen Architekturtradition auseinandersetzte. 1950 endete seine Zeit in Palästina. Es war «nicht primär das Ende des Zweiten Weltkrieges, das Rading (. . .) zur Zukunftsplanung zwingt, sondern die veränderten politischen Verhältnisse in Palästina-Israel selbst», konstatiert Göckede. «Die ohnehin vorhandene Vereinsamung Radings verstärkt sich nochmals.» Der Architekt kehrte nicht nach Deutschland zurück, sondern versuchte in England einen erneuten beruflichen Anfang. Mit dem Emigranten Frederick Herrmann ging er eine Büropartnerschaft ein. Es entstanden mehrere kleinere Häuser und das grosse Projekt für die «Marine Parade» in Dover 1953. Brieflich hielt Rading zwar bis zu seinem Tod 1957 den Kontakt zu seinen Kollegen aus den zwanziger Jahren, allen voran zu Richard Döcker und Hans Scharoun, in seine Heimatstadt Berlin kehrte er jedoch nicht mehr zurück.

Erst mit dem 1970 von Peter Pfankuch herausgegebenen Katalog der Berliner Akademie der Künste setzte die späte Erforschung von Radings Werk in Deutschland ein, zu der Göckede nun einen umfangreichen Beitrag liefert. Doch leider bedient sich die Autorin im theoretischen Teil ihrer Arbeit, der sich mit der Exilforschung auseinandersetzt, einer verquasten Wissenschaftssprache, die die Lektüre des Buches unnötig erschwert. Das ist schade, denn die materialreiche Arbeit trägt viel zum Verständnis des Exils eines bedeutenden Vertreters des Neuen Bauens bei.

[ Regina Göckede: Adolf Rading (1888-1957). Exodus des Neuen Bauens und Überschreitungen des Exils. Gebr.-Mann-Verlag, Berlin 2005. 504 S., Fr. 115.-. ]

9. Juni 2006 Neue Zürcher Zeitung

Lob der Bescheidenheit

Godber Nissen auf dem Hamburger Architektursommer

Bis in den Oktober lockt der «Hamburger Architektursommer» mit zahlreichen Veranstaltungen Architekturinteressierte in die Hansestadt. Neben dem gegenwärtigen Baugeschehen in der «Hafen-City» werden dabei auch mehrere Ausstellungen präsentiert: Eine Schau über Godber Nissen (1906-1997) in der Freien Akademie der Künste bildet den Auftakt.

Fast menschenleer liegen die im vergangenen Jahr fertig gestellten Magellan-Terrassen von EMBT Arquitectes aus Barcelona in der Nachmittagssonne am Hamburger Hafen. Begleitet von kuriosen Klinkerreliefs, wuchern dort seltsam exaltierte Metallgestänge in die Luft, ganz so, als wollten sie den Kränen Konkurrenz bereiten, die gleich nebenan auf dem Dalmannkai das Geschehen bestimmen. Die verdrehten Laternen beleuchten den ersten Abschnitt von Hamburgs Prestigeprojekt: der «Hafen-City». Deren medienwirksam propagiertes Flaggschiff soll mit der «Elbphilharmonie» am Ende des Dalmannkais entstehen. Dafür haben die Basler Architekten Herzog & de Meuron einen zeltartig expressiven Aufbau entworfen, den sie dem mächtigen Kaispeicher A von Werner Kallmorgen aufsetzen wollen. Bereits fertig gestellt worden sind gegenüber an der Wasserkante des Sandtorkais die ersten Solitäre. In Ziegel und Glas stehen sie da und schaffen mit ihren aufgebrochenen Kanten und gegeneinander versetzten Balkonen eine freundliche, aber antiseptische Atmosphäre, die auf Belebung wartet. Derweil wird weiter heftig an der Zukunft der Hafen-City gebaut und geplant.

Aufbruch an der Elbe

Kein Wunder also, dass die Hafen-City auch im diesjährigen «Hamburger Architektursommer» eine zentrale Rolle einnimmt. Bis in den Oktober kreisen über 270 Veranstaltungen in Hamburg um das Thema Architektur. Galt in den neunziger Jahren Berlin auf dem Sektor Architektur als Mass aller Dinge in Deutschland, so haben inzwischen Städte wie Stuttgart, München und nicht zuletzt Hamburg die bauliche Regie übernommen. Wie vielfältig und teilweise höchst qualitätvoll die Hamburger Architektur-Renaissance ist, dokumentiert ein von der Behörde für Stadtentwicklung jüngst herausgegebener Architekturführer im Taschenformat (Hamburg: Bauen für die wachsende Stadt. Jovis-Verlag, Berlin 2006. 312 S. Fr. 8.90). Als ebenso vielfältig erweist sich der sommerliche Hamburger Architekturmarathon, auch wenn sich in diesem Jahr einige der grossen Ausstellungshäuser der Stadt bei dem Architekturfest dezent zurückhalten. Zu den Höhepunkten gehört neben den Ausstellungen über die «Hamburger Stadtbaumeister 1841-1933» (Kunsthaus, ab 23. Juni) und über Franz Gustav Forsmann (1795-1878) im Jenisch-Haus (ab 13. Juni) auch eine Vortragsreihe, die um das nach wie vor aktuelle Thema «Architektur und Politik» kreist.

Hanseatische Zurückhaltung

Zum Auftakt des Architektursommers wirft die Freie Akademie der Künste allerdings erst einmal einen Blick zurück auf Godber Nissen, einen Hauptvertreter der Hamburger Nachkriegsmoderne. 1906 in Wladiwostok als Sohn eines deutschen Kaufmanns geboren, wurde er in seiner architektonischen Haltung vor allem durch seinen Berliner Hochschullehrer Heinrich Tessenow (1876-1950) geprägt. In schönen historischen Schwarzweissfotografien aus dem Bestand des Hamburgischen Architekturarchivs sowie mit einigen Modellen stellt die Ausstellung die Arbeiten dieses «Virtuosen der Einfachheit» in Werkgruppen gegliedert vor. Leider fehlen jedoch Hinweise über den gegenwärtigen Zustand der Bauten. Anstelle eines Kataloges wird in der Akademie der noch immer aktuelle Band «Godber Nissen. Ein Meister der Nachkriegsmoderne» angeboten, der auch ein Werkverzeichnis des langjährigen Präsidenten der Hamburger Freien Akademie der Künste enthält.

Bereits Nissens frühe Flugmotorenwerke für die Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten in Arnimswalde bei Stettin (1937-1945) und bei Prag (1941-1945) zeigen jene sachlich reduzierte Formensprache, die auch sein Nachkriegswerk bestimmte. Keine Architektur ohne Eigenschaften - aber doch eine von betonter Zurückhaltung, ganz im Sinne seines Lehrers Tessenow. Zu den bestimmenden Elementen von Nissens Arbeit gehörte die «Suche nach der kleinsten städtebaulichen Einheit», wie es sein Schüler und späterer Mitarbeiter Bernhard Winking formuliert. Das Bestreben, Architektur für den Menschen und in ihrem Umfeld zu denken, spiegelt sich in den zahlreichen Krankenhausentwürfen der Jahre nach 1950 ebenso wider wie in den Bauten, die für die Zigarettenfirma Philipp Reemtsma entstanden. Darunter das luftig filigrane Verwaltungsgebäude von 1952-1954 oder das mit lichten hellgrünen Glasplatten verkleidete Zigaretten-Werk in Berlin (1957-1960), das leider noch immer nicht unter Denkmalschutz steht.

Obwohl Wohnbauten nicht den Schwerpunkt im Werk Nissens bildeten, gehören sie doch zu seinen schönsten Arbeiten. An ihrem unkompliziert freundlichen Duktus ist der gelegentlich unterschätzte Einfluss der skandinavischen Baukunst auf die Nachkriegsarchitektur in Norddeutschland ablesbar. Es sind Ziegelbauten mit sanft geneigten Dächern und knappem Dachüberstand, harmonisch gegeneinander gestaffelte Baukuben, deren plastische Durchbildung durch die kluge Placierung der Schornsteine häufig einen zurückhaltenden Akzent erfährt. Zweifelsfrei modern in der Ausführung, sind sie zugleich der Region und ihrer Tradition verhaftet. In ihrer unspektakulären Selbstverständlichkeit erweisen sich diese Bauten als kleine Meisterwerke. Das gilt auch für seinen Entwurf der Sonderschule in Böttelkamp mit ihren geschlossenen Ziegelwänden. Es ist dieses hanseatisch anmutende Understatement, das sich in Nissens Bauten der Nachkriegszeit ausdrückte und das sich bis heute an den besten Beispielen der Hamburger Architektur zeigt. Etwas mehr von dieser unaufgeregten Selbstverständlichkeit hätte man sich auch als Korrektiv für die Hochglanzarchitektur der ersten Bauten in der Hafen-City gewünscht, in denen immer wieder der Wunsch der Architekten aufkeimt, sich mit Aufgeregtheiten aus Glas und Stahl gegenseitig zu übertrumpfen.

20. Mai 2006 Neue Zürcher Zeitung

Architektur im Dialog

Ein Buch über das Bauen im Bestand in Südtirol

Südtirol erfährt als Architekturlandschaft derzeit viel Aufmerksamkeit. Eine Ergänzung zur Meraner Ausstellung «Neue Architektur in Südtirol», die den architektonischen «Aufbruch an Etsch und Eisach» (NZZ 17. 2. 06) thematisiert, stellt das Buch «Auf gebautem Bauen» dar, das die Architektin Susanne Waiz herausgegeben hat. Statt auf reine Neubauten lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Bauen im Bestand. Ein heikles Thema, schliesslich tun sich viele Architekten noch immer schwer im Umgang mit vorhandener Bausubstanz. Daher ist der Titel des Buches ganz programmatisch zu verstehen: Waiz geht es - zusammen mit den vier weiteren Südtiroler Architekten, die die 19 vorgestellten Projekte ausgewählt haben - gleichermassen um einen «bewussten Umgang mit dem Bestand» wie auch um ein selbstbewusstes Weiterbauen. Reine Restaurierungen fanden daher ebenso wenig Berücksichtigung wie Ergänzungen, die den Bestand weitgehend unberührt lassen. Damit fehlen im Buch die beiden interessantesten neuen Architekturen in Südtirol: die Erweiterung der alten Pfarrkirche in Leifers von Höllner & Klotzner und die neuen Kellereianlagen des historischen Weinguts Manincor beim Kalterersee von Walter Angonese, Silvia Boday und Rainer Köberl.

Sehr deutlich stellt Waiz in der Einführung ihres Buches fest, dass Architektur und Denkmalpflege «zwei Disziplinen sind, die sich heute oft verständnislos gegenüberstehen», ja mitunter sogar «gegeneinander arbeiten». Doch mit ihrer Veröffentlichung zeigt sie Lösungsansätze zu diesem Dilemma auf. Nach den drei Kapiteln Burg, Dorf und Stadt gegliedert werden die Projekte vorgestellt. Für die Anschaulichkeit sorgen neben kurzen einführenden Texten in Deutsch und Italienisch die vorzüglichen Abbildungen, ergänzt um die notwendigen Grundrisse und Schnitte. Das Ergebnis ist ein ästhetisch reizvolles Architekturbuch, das Lust darauf macht, sich den Gebäuden anzunähern.

Besonders wohltuend ist es, dass sich die meisten der vorgestellten Arbeiten weder im lärmenden Rekonstruktionseinerlei ergehen noch dass sie sich in Radikalkontrasten zwischen Alt und Neu verlieren. Schliesslich ist laut Waiz «die grosse architektonische Geste gerade im Umgang mit historischer Bausubstanz fragwürdig». Stattdessen werden Bauten vorgestellt, die angenehm leise Töne anschlagen und so die grossartige Kulturlandschaft Südtirols weiterbauen. Das gilt für die Umgestaltung von Schloss Tirol über Meran zum Landesmuseum durch Walter Angonese, Markus Scherer und Klaus Hellweger ebenso wie für die Restaurierung des Hotels «zum Grünen Baum» in Glurns durch Andreas Flora und Christian Kapeller oder des Gasthauses «zur Krone» in Laas durch Walter Dietl und Jörg Hofer. Alt und Neu geben sich in schöner Selbstverständlichkeit die Hand.

Gerade auf dem Land ist es besonders schwierig, aus der Nutzung gefallene Bauten langfristig zu erhalten, ohne sie durch eine Umnutzung ihrer Denkmaleigenschaft zu berauben. Sowohl beim Haus Tasser in Steinhaus, einem von Mutschlechner & Mahlknecht zum Ferienhaus umgewidmeten ehemaligen Stall, ist dies gelungen als auch beim Haus Knoll in Galsaun von Werner Tscholl, das einst als Speicher diente. Die Herausgeberin Susanne Waiz selbst hat in Steinhaus mit den beiden Architekten Walter Angonese und Markus Scherer in einem einstigen Speichergebäude das «Bergbaumuseum im Kornkasten» verwirklicht. Auch hier gehen der behutsam behandelte Bestand und die notwendige zeitgenössische Nutzungsschicht in sympathisch respektvollem Gleichklang und auf gleicher architektonischer Augenhöhe miteinander einher.

[ Susanne Waiz: Auf gebautem Bauen. Im Dialog mit historischer Bausubstanz. Eine Recherche in Südtirol. Folio-Verlag, Bozen und Wien 2005. 190 S., Fr. 62.10. ]

verknüpfte Publikationen
- Auf Gebautem bauen/Costruire sul costruito

3. Februar 2006 Neue Zürcher Zeitung

Zerbrechliche Avantgarde

Der ambivalente Umgang mit dem Erbe der Moderne

Die Bauten der klassischen Moderne waren schon zu ihrer Entstehungszeit umstritten. Und noch heute besitzt der Umgang mit ihnen zwei Gesichter: Während Le Corbusiers berühmtes Doppelhaus in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart jüngst restauriert wurde, droht von Moskau über Tel Aviv bis Zürich der Verlust bedeutender Denkmäler.

Das Neue Bauen der zwanziger Jahre fand zwar schnell den Weg in die Architekturgeschichte, aber nur langsam in den Blickwinkel der Denkmalpflege. Erst Ende der siebziger Jahre begann man damit, genauer auf die Pionierbauten der klassischen Moderne zu schauen. Zu einer Zeit also, als sie langsam die Farbe ihres Anstrichs und ihr ursprüngliches Gesicht verloren. Vielleicht brauchte es diesen Zeitabstand, um die Werke der Avantgarde angemessen würdigen zu können. Doch fand diese Wiederentdeckung erst statt, als die architektonischen und städtebaulichen Konzepte der Moderne ausgedient hatten. Mit der Krise des Funktionalismus und der Rückkehr von Säule oder Walmdach in das postmoderne Stadtbild setzte eine seltsame Doppelbewegung ein: Einerseits fanden die Gründungsbauten der Moderne Eingang in die Denkmallisten, andererseits aber gerieten sie unter einen wachsenden Umnutzungs- und Abrissdruck.

Zu den Meilensteinen beim denkmalgerechten Umgang mit dem Neuen Bauen gehörte die detaillierte Untersuchung, die Ende der siebziger Jahre an Bruno Tauts Berliner Grosssiedlung «Onkel Toms Hütte» mit ihrer einzigartigen Farbigkeit durchgeführt wurde. Auf der Liste jener Siedlungen der Moderne, die Berlin heute gerne als Teil des Weltkulturerbes sehen würde, sucht man «Onkel Toms Hütte» allerdings vergeblich. Eine ähnliche Pionierleistung stellte auch die erste Sanierung der Stuttgarter Weissenhofsiedlung zwischen 1981 und 1987 dar. So verdienstvoll diese Intervention war, so zwiespältig ist rückblickend das Vorgehen. Denn einerseits wurde an den berühmten Bauten der Werkbundausstellung von 1927 eifrig rekonstruiert, andererseits opferte man für eine neue Wärmedämmung originale Bausubstanz.

Farbiger Aufbruch

Jetzt stand die erneute Restaurierung des Doppelhauses von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in Stuttgart an. Von der Wüstenrot-Stiftung unterstützt, wurde sie vom ortsansässigen Büro «Architektur 109» durchgeführt. Künftig soll das Haus einer Doppelfunktion nachkommen: als Ausstellungsgebäude, das die Besucher mit der Geschichte der Weissenhofsiedlung vertraut macht, sowie als Exponat seiner selbst. Denn das 1927 in nur wenigen Monaten unter der Leitung von Alfred Roth errichtete Haus gilt als programmatischer Bau. Mit ihm verwirklichte Le Corbusier seine Vision vom modernen Wohnen. Dem Weiss der Fassade, die von einem dynamischen Flugdach bekrönt wurde, antwortete im Inneren des Hauses eine starke Farbigkeit.

Doch ausgerechnet dieses Corbusier-Gebäude war das einzige in der Weissenhofsiedlung, das nach dem Ausstellungsende keinen Nutzer fand. Daher baute man es 1933 tiefgreifend um. Die Einbauschränke verschwanden, das Haus wurde unterkellert, und die Dachterrasse wurde zum Dachgeschoss. Bei der Restaurierung 1983/84 bemühte man sich, den Ursprungsbau wieder herauszuschälen. Zudem wurden die Einbaumöbel rekonstruiert, die tagsüber die Betten verbergen sollten. Freilich nicht mit ihrem - ursprünglichen - Betonrahmen, das trug der zu dünne Boden nicht. Bei der jetzigen Restaurierung hat man eine neue Version dieser Bettmöbel rekonstruiert, statt jene aus den achtziger Jahren als Dokument der Restaurierungsgeschichte zu bewahren.

Ideologische Verblendungen

Das Stuttgarter Doppelhaus stand lange Zeit für den schwierigen Umgang mit der Moderne in Deutschland. Die aufgrund der weissen Flachdachkuben schon bei ihrer Entstehung als «Araberdorf» diffamierte Weissenhofsiedlung hatte einen schweren Stand. Im Dritten Reich sollte an ihrer Stelle gar das «Generalkommando V» des Heeres entstehen: Den Mietern der Weissenhofsiedlung wurde zum 1. April 1939 gekündigt.

Wie tief die Aversion gegen die Moderne sass, zeigt sich nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Dessau. In einem systemübergreifenden Hass der deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf die Avantgarde wurden das Bauhaus und die Meisterhäuser von Walter Gropius überformt und den gängigen Architekturvorstellungen angepasst. Ganz so, als gälte es, das Bauhaus einer «damnatio memoriae» zu unterziehen. Diese doppelte ideologische Verblendung im Dritten Reich und in der DDR erfuhr durch die Kriegszerstörungen noch eine zusätzliche Dimension. Wer heute vor den Dessauer Meisterhäusern steht, der wird von den Veränderungen der Bauten kaum noch etwas erkennen - sofern er nicht von ihnen weiss. Denn sie präsentieren sich wieder im lichten Glanz der Avantgarde, ganz so, als hätte es in den letzten siebzig Jahren nicht zahlreiche Bemühungen gegeben, sie auszulöschen.

Derweil dauert die unheilige Allianz aus Ablehnung und Gleichmut gegenüber der Moderne andernorts bis heute an. In Russland droht zahlreichen Bauten des Konstruktivismus der Untergang. So dem «Narkowim»-Haus, das Moissej Ginzburg 1928/30 für die Beamten des Finanzvolkskommissariates der Sowjetunion verwirklicht hatte. Von seinen einst 50 Wohnungen sind heute nur mehr 20 bewohnt. Im Übrigen beherrschen Rost und zerbrochene Fensterscheiben das Bild. Der Zustand des Baudenkmals ist kein Einzelfall. Insgesamt 15 bedrohte Moskauer Beispiele des Konstruktivismus hat die Berliner Bauhistorikerin Anke Zalivako auf einer Webseite der Baugeschichte an der TU Berlin dokumentiert. Darunter gleich mehrere Arbeiten von Konstantin Melnikow und Alexander Wesnin. Eine unter anderem von der Russischen Akademie für Architektur und Bauwissenschaften initiierte Tagung wird sich Mitte April unter dem Titel «Heritage at risk. Preservation of 20th Century Architecture and World Heritage» der Moskauer Problemfälle annehmen - aber nicht nur ihrer. Denn wer meint, dass die Zerstörung der Moderne nur ein Problem Russlands sei, der irrt.

Zwar gibt es herausragende Beispiele für die behutsame Restaurierung moderner Bauten. Dazu gehört das von Pitz und Hoh hergerichtete Haus Schminke von Hans Scharoun im sächsischen Löbau ebenso wie die Rotterdamer Van- Nelle-Fabrik. Von Jan Brinkman und Lee van der Vlugt zwischen 1925 und 1931 errichtet, wurde sie jüngst durch den Rotterdamer Architekten Wessel de Jonge umgenutzt. Doch der Umgang mit den Bauten der Moderne bleibt ambivalent. Während sie an manchen Orten sehnsuchtsvoll rekonstruiert werden, dienen sie andernorts als Spielball von Ablehnung und kommerziellen Interessen. Mit dem Abriss der denkmalgeschützten Siedlung Blumlägerfeld (1930/31) von Otto Haesler ist im norddeutschen Celle erst vor wenigen Jahren ein Meilenstein des «Bauens für das Existenzminimum» zerstört worden.

Auch in der Schweiz droht der Verlust eines herausragenden Baudenkmals der Moderne: das Zürcher Kongresshaus des Architekturbüros von Max Ernst Haefeli, Werner Max Moser und Rudolf Steiger. Zeitgleich mit den Bauten der Landi 1939 verwirklicht, greift es dem architektonischen Duktus der fünfziger Jahre voraus. Der freie Grundriss und die kunstvoll gestaffelten Bauglieder gehen mit einer Wiederentdeckung des lange von der Moderne geschmähten Ornaments bei der Behandlung von Wänden und Böden einher. Selbst eine missglückte Ergänzung aus den achtziger Jahren vermag der einzigartigen Qualität des Kongresshauses kaum etwas anzuhaben. Die gegenwärtigen Planungen für das neue Kongresszentrum gehen jedoch derzeit von einem Abbruch des Denkmals aus. Der Vorschlag des Basler Architekten Roger Diener, den Bau in die neue Nutzung einzubeziehen, wird nicht weiterverfolgt. So droht auch Zürich ein schmerzlicher Denkmalverlust. Qualität und Bedeutung der architektonischen Avantgarde, so scheint es, sind im Bewusstsein der Gegenwart noch immer erst bruchstückhaft angekommen.

30. Januar 2006 Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Zeichen

Welche Bedeutung haben Architektur-Ikonen?

Ist es eine gläserne Zigarre im Rauten-Look? Oder doch eher eine Rakete, die gleich zum intergalaktischen Raumflug abheben wird? Norman Fosters Londoner Swiss-Re-Gebäude lässt Platz für Interpretationen. Egal ob gläsern kühl oder betongrau, ob geschwungen oder spitz, zeichenhafte Architektur ist dank dem Bilbao-Effekt von Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum auf dem ungebremsten Vormarsch. Mit seiner medien- und marktgerechten Architekturplastik hat Gehry jenen Impuls gegeben, der sich seitdem in einer Art Dominoeffekt um die ganze Welt fortsetzt. Erst schwappte er von Metropole zu Metropole, um sich dann in immer feineren Verästelungen auch in kleineren Städten zu verlieren, bis nach Graz oder Malmö - ja zuletzt gar bis nach Herford und Wolfsburg. Jeder, so scheint es, will ein Haus der Happy Few der Architektenszene, will seinen Gehry, seine Zaha Hadid oder seinen Daniel Libeskind. Zur Not auch nur als Light- Version oder gar als Surrogat.

Identität durch Architektur

Neben ihrem dreidimensionalen Alltag als Museum, Bibliothek, Bürohaus oder Einkaufszentrum führen diese gebauten Landmarken eine zweite Existenz als zweidimensionale Architekturbilder. Dabei gilt: Je signifikanter ein Gebäude ist, je unverwechselbarer es erscheint, umso besser ist es um seine Vermarktbarkeit bestellt. Diese Sehnsucht nach Einzigartigkeit ist kein neues Phänomen. Sie steht mit dem Turm zu Babel sogar ganz am Anfang allen Bauens. Und mit ihr jene Hybris, die als ewige Versuchung allen Bauwerken innewohnt. Das Haus selbst und das Bild vom Haus bilden von jeher ein untrennbar miteinander verwobenes Gespann, das seinen Platz im individuellen wie im kollektiven Bildgedächtnis besitzt. Denn neben der vertrauten Umgebung, dem Haus an der Ecke, gibt es auch jene übergreifenden kulturellen Festlegungen, die an bekannte Gebäude gebunden sind - und die dafür sorgen, dass einzelne Orte sofort erkennbar sind, egal ob wir sie je besucht haben oder nicht: Der Eiffelturm steht für Paris, der schiefe Turm für Pisa, das Kolosseum für Rom, die Akropolis für Athen. Doch was stand für Herford, ehe dort Gehrys MARTa-Museum eröffnet wurde?

Jahrhundertelang definierten die vertrauten Häuser der näheren Umgebung ein Stück Heimat, eine Identität, die von Generation zu Generation nur einem allmählichen Veränderungsprozess unterworfen war. Seit der industriellen Revolution ist dieser Prozess durch das Wachstum der Metropolen und die Verstädterung der Landschaft beschleunigt worden und aus den Fugen geraten. Heimat- und Denkmalschutz stellten den verzweifelten Versuch dar, das Vertraute zumindest partiell zu bewahren, es über den nächsten Tag zu retten. Und damit jenen kulturellen Architekturkanon, der seit der Renaissance in den Veduten eines Canaletto oder Gaspar van Wittel verbreitet worden war.

In den Zeiten einer fortschreitenden Globalisierung besitzen die Ikonen der Architektur, denen sich jüngst der Vorreiter der Postmoderne, Charles Jencks, ausführlich widmete (Iconic Building, Frances Lincoln, London 2005, £ 19,99), eine ganz neue Dimension. Längst entfalten sie ihre eigentliche Wirkung als virtuell verbreitete Markenzeichen, mit denen im Hinblick auf Investoren und Touristen der Wettstreit der Metropolen angeheizt wird. Ein Milliarden-Markt mit Imagefaktor. Kein Wunder also, wenn durch die neuen Architekturbilder weder Heimat noch Vertrautheit geschaffen werden. Wer würde schon den neuen Potsdamer Platz als Heimat bezeichnen? Höchstens einige Zweitwohnungsbesitzer, die dank gut gepolstertem Bankkonto hier ihren Koffer in Berlin abstellten. Doch wenn der Bezug zum Ort nicht mehr eingefordert, der Rückbezug zur gewachsenen Stadtstruktur in ihrer Einzigartigkeit ebenso wie in ihrer Widersprüchlichkeit zur Nebensache wird, dann verwundert es nicht, dass sich manche Architektur- Ikonen wie Aliens gebärden, welche die Kommunikation mit ihrer Umwelt verweigern. Sie bilden eine eigene, den Bezug zur Geschichte des Ortes negierende Matrix.

Zugleich droht die wachsende Inflation auf dem Catwalk der Architekturbilder zur allgemeinen Verwirrung beizutragen. Stand dieses Haus in Hamburg, Tokio oder Paris? War es das Museum in Bern, Manchester oder Seoul? Hiess der Architekt Eisenman, Koolhaas oder Piano? Wer hat wann wo was gebaut? Schon purzeln die Bauten durcheinander. Im Zeitalter des Global Village rücken die Architekturbilder nebeneinander wie die Gemälde in einem Museum. Ganz so, als könne man sie alle paar Jahre neu hängen.

Das Dilemma einer im Zeitalter des Iconic Turn primär auf ihre Bildwirkung hin ausgerichteten Architektur liegt darin, dass sie auf den schnellen, flüchtigen Blick vertrauen muss. Auf ein möglichst leicht konsumierbares architektonisches Fast Food, das von emotionalen Stimmungswerten dominiert wird. Es ist kaum zu verhindern, dass dabei oft all das aus dem Blick gerät, was die eigentliche Qualität von Architektur ausmacht und über die Zeit trägt: ihre Materialität, ihre Substanz, ihre Details und ihre Raumwirkung. Ihre haptische und sinnliche Dimension. Die sind nämlich nur vor Ort und nur nach und nach am einzelnen Bauwerk erfahrbar.

Von hypermodern bis erzkonservativ

Das Überraschende aber ist, dass diese Bild-Bauten ganz unterschiedliche Formen annehmen können, je nachdem, welches Marktsegment mit ihnen bedient werden soll. Die Variationsbreite liegt zwischen hypermodern und erzkonservativ. Doch eines eint die neuen Bildstrategien - sie vermitteln ihrem Publikum eine klare Sicht auf die Welt. Zwischentöne, gleichsam der «architektonische Autorenfilm», gehören nicht zu ihren starken Seiten. Stattdessen dominiert die baukünstlerische Schwarzweissmalerei des Mainstreams.

Charakteristisch für die derzeit besonders beliebten konservativen Architekturbilder sind Wohnsiedlungen, die pseudotraditionelle Stadtstrukturen reproduzieren. Dem entspricht, dass gerade in Deutschland seit der Wiedervereinigung der geschichtlichen Dimension der Städte eine wachsende Bedeutung beigemessen wird. Und so positionieren sich Städte wie Dresden oder Berlin über historische Architekturbilder, auch wenn diese Bauten dafür erst wieder neu erfunden oder rekonstruiert werden müssen. Doch Zweifel sind angebracht, ob diese dünne Eisschicht über dem tiefen Meer von über 2000 Jahren europäischer Baukultur lange tragen wird. Kritische Nachfragen jedenfalls, was sich hinter den nivellierenden Architekturbildern eigentlich für ein Geschichtsverständnis verbirgt, erscheinen angesichts des allgemein verbreiteten öffentlichen Jubels höchst störend.

Doch auch der Baukasten der Moderne generiert laufend neue Bilder für die weltweite Vermarktung im Architekturzirkus: ökologisch ambitioniert bei Foster, elegant expressiv bei Gehry, zackig dekonstruiert bei Libeskind. Am Computer entworfen, vermischen sich die weltweit verfügbaren Ikonen miteinander. Virtuelle und wirkliche Welten überlagern sich längst, um sich zu einem Bild von Stadt zusammenzufügen, das wir für die eigentliche Stadt halten, obwohl es sich bestenfalls um die gebaute Hülle einer gelungenen Marketingstrategie handelt. Die Architektur, sie droht zum Klischee zu erstarren, während Potemkinsche Dörfer weiter unsere Alltagswelten erobern.

24. Dezember 2005 Neue Zürcher Zeitung

An der Schnittstelle

Architektonische Glaswelten zwischen Ein- und Ausblick

In unregelmässigem Rhythmus drücken die nächtlichen Sturmböen die grosse Fensterscheibe der Terrassentüre nach innen. Mit jedem Windstoss verzerren sich die Spiegelungen auf der Glasfläche wie in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt. Unheimlich quillt das Licht der Schreibtischlampe auf, nur um im nächsten Augenblick wieder von der planen Fensterscheibe zurückgeworfen zu werden, ganz so, als habe es nie eine Sturmböe gegeben, die uns das Fürchten lehrte. Dabei ist es nur eine dünne Glashaut, die uns vor Regen, Wind und Kälte schützt, dahinter tobt weiter der Sturm.

Das Glas hat die Architektur und mit ihr unsere Welt verändert. Längst gehört das Haus aus Glas zu den sich wiederholenden Motiven der modernen Architektur. Das gilt für Mies van der Rohes Farnsworth House ebenso wie für Werner Sobeks würfelförmiges Haus R 128 in Stuttgart. Denn Glas verwandelt abgeschlossene Innenräume in geschützte Aussenräume, indem es den Gegensatz von innen und aussen optisch aufhebt. Der Blick wandert ungehindert durch die Scheiben hinaus in die Natur und von dort zurück. So vermischen sich die private und die öffentliche Welt miteinander, bis die Dämmerung hereinbricht. Dann lässt es sich gut in das hell erleuchtete Glashaus schauen. Doch von dort sieht man nur noch die Spiegelung der Innenwelt. Dahinter breitet sich die geheimnisvolle Dunkelheit der Nacht aus. Das Glashaus bezieht sich nur noch auf sich selbst. Bis die Vorhänge zugezogen werden.

Gläserne Geschichten

Die Erfolgsgeschichte des Glases setzte nicht erst mit der industriellen Revolution ein, als es zusammen mit Stahl und Beton zur Trias der neuen Baustoffe aufstieg. Schon der Gotik war das Glas Triebfeder für eine andere Architektur, eine neue Weltsicht. Immer feingliedriger wurden die Kathedralen, immer mutiger die zarten Konstruktionen aus Pfeilern, die die Gewölbebögen trugen und die steinernen Wände ablösten. Die Zwischenräume, die das filigrane Masswerk liess, füllten die Künstler mit farbigen Glasfenstern, welche die magische Strahlkraft von Edelsteinen verströmten. Es entstanden Räume eines geradezu überirdischen Lichts. Noch heute gehört die Magie der farbigen Glaswände zu den Leitmotiven des Sakralbaus, wie der Lichtraum von Egon Eiermanns Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zeigt.

Ahnte Joseph Paxton, welche Wege das Bauen mit Glas gehen würde, als er vor gut 150 Jahren den Londoner Crystal Palace verwirklichte, der am Beginn der Geschichte des modernen Glasbaus steht? Immer wieder erlagen Architekten und Ingenieure der Faszination des Glases, seiner Ambivalenz zwischen Einblick und Ausblick, zwischen Spiegelung und Durchlässigkeit. Wie die gotischen Kathedralen bargen auch die ersten Glashäuser des 19. Jahrhunderts das Versprechen einer befreiten Leichtigkeit. Immer weiter wurden die massiven Wandflächen zurückgedrängt, bis hin zu ihrer vollständigen Auflösung in Glas.

Die gläsernen Häuser liessen nicht nur möglichst viel Licht in das Innere. Sie stehen auch für eine neue Ästhetik, wie etwa das Bauhaus von Walter Gropius (1925/26) in Dessau zeigt. Selbstbewusst setzt es sich über die tradierten Formen von Dekoration hinweg. Damit erweist es sich als Erbe jenes expressionistischen Aufschreis, der mit Bruno Tauts «Alpiner Architektur» eine filigrane Glasbaukunst gefordert hatte. Kristallin in der Form, aber vor allem farbig glänzend und wie von innen heraus leuchtend sollte sie sein. Eine gebaute Märchenwelt, die Taut bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf der Kölner Werkbundausstellung mit seinem Glashaus formuliert hatte. Ein Juwel, von «lockender Schönheit», so schwärmten die Kritiker voller Begeisterung von diesem Bau. «Das Glas bringt uns die neue Zeit, Backsteinkultur tut uns nur leid», verkündeten die frechen Verse des Dichters Paul Scheerbart von der Fassade des Glashauses herab.

Vor allem die Warenhauswelten waren ohne Glas nicht denkbar. Immer kühner wurden die Abmessungen der Vitrinen. Dabei nahmen sie Vorbilder aus den Vereinigten Staaten auf, wie bei Bernhard Sehrings Warenhaus Tietz in der Leipziger Strasse in Berlin. Damals flankierten noch üppige Karyatiden wie steinerne Fleischberge die zarte Stahl-Glas-Konstruktion der Schaufenster, hinter denen sich - gut einsehbar für die Passanten - die Verlockungen des Konsums offenbarten. Wer den Eingang dieser prächtigen Einkaufstempel durchschritt, der fand sich in mehrgeschossigen, von farbig leuchtenden Glasdecken überwölbten Lichthöfen wieder. Hier tauchte er ein in eine verheissungsvolle Zauberwelt, deren Waren sich beileibe nicht jeder leisten konnte.

In den zwanziger Jahren stieg das Glas endgültig zum Baustoff der Grossstadt auf. Kunstvoll spielte Erich Mendelsohn auf der Klaviatur der Moderne. Mit den langgestreckten Fensterbändern seiner Geschäftshäuser formulierte er das Symbol einer transparenten Avantgarde. Dank den farbigen Leuchtschriften und den taghell erleuchteten Auslagen verlor die Nacht ihren Schrecken, trug der Rhythmus der Grossstadt ihre Bewohner bis in den nächsten Tag hinein. Plötzlich schien sie da zu sein, die neue, kristalline Welt der Glasarchitektur, transparent bei Tage, verzaubert bei Nacht, wenn sich auf den regennassen Strassen das Scheinwerferlicht der Automobile mit den Lichtern der Reklamen und der Vitrinen zu einer einzigen schillernden Farbkaskade vermischte.

So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Architektur ganz von ihrer steinernen Vergangenheit befreien wollte. Ludwig Mies van der Rohe träumte bereits 1921 von jenen gläsernen Hochhäusern, die er nach dem Zweiten Weltkrieg bauen sollte. Und Frits Peutz errichtete 1934/35 mit dem Glaspalast in Heerlen auf sechs Geschossen eine vollständig in Glas aufgelöste Fassade, hinter der sich bis heute der Raster der pilzförmigen Stahlbetonstützen abzeichnet. Gläser aller Arten, vom transparenten Fahrstuhlzylinder bis zur geschwungenen Gebäudeecke, wurden zu ästhetischen Markenzeichen einer dynamischen Grossstadtarchitektur, lange bevor nach dem Zweiten Weltkrieg das Glas mit den «curtain walls», den Vorhangfassaden, im wahrsten Sinne des Wortes zum austauschbaren Verkleidungsmaterial für die Gebäudekonstruktion wurde.

Transparenz und Spiegelungen

Doch während die gläsernen Hallen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ungläubiges Staunen auslösten, sind sie heute längst zum Alltag geworden. Das kunstvolle Spiel zwischen innen und aussen wurde durch eine geradezu exhibitionistische Transparenz ersetzt. Seine Unschuld aber hat das Bauen mit Glas spätestens in den siebziger Jahren verloren, als die spiegelnden Glaskuben, die zwar Ausblicke gewährten, Einblicke aber verwehrten, die Idee gläserner Architektur auf den Kopf stellten.

Wie riesige Spiegel stehen die schwarz, braun oder blau glitzernden Hochhäuser zu Hunderten in den Metropolen. Durch den Raster ihrer Fassadenplatten zersplittern sie das Abbild der Stadt wie in einem Kaleidoskop. Grobschlächtig fragmentieren sie so die Zusammenhänge der Umgebung und vertrauen darauf, dass der Betrachter diese Bilder in seinem Kopf schon wieder zur bekannten Gesamtkomposition zusammensetzen wird. Spiegelnd lenken sie von sich ab, werden zur Nicht-Architektur, zum Brennglas architektonischen Versagens. Doch den Blick auf die Möglichkeiten einer offenen, weil transparenten Architektur sollten diese Fehlschläge nicht verstellen. Gerade in einer neu erwachten Auseinandersetzung zwischen geschlossener Wand und transparenter Öffnung, im Spiel zwischen durchscheinendem Glas und farbigen Fenstern bietet sich - wie etwa das neue Novartis-Gebäude von Roger Diener in Basel zeigt - ein ganzer Kosmos von Möglichkeiten, die Schnittstellen zwischen Innenwelt und Aussenwelt neu zu definieren. Dort wird noch heute jenes Versprechen spürbar, das Paul Scheerbart vor hundert Jahren mit der Gewissheit eines Visionärs verkündete: «Ohne einen Glaspalast wird das Leben eine Last.»

[ Der Kunsthistoriker Jürgen Tietz lebt als Publizist in Berlin und schreibt regelmässig in der NZZ über Architektur und Denkmalpflege. Im Frühjahr 2006 erscheint sein neustes Buch, «Was ist gute Architektur», in der Deutschen Verlags-Anstalt. ]

Publikationen

2021

Münchner Volkstheater
Lederer Ragnarsdóttir Oei

Wie baut man eigentlich ein Volkstheater? So einfach wie nötig, um beim Publikum keine Schwellenangst aufkommen zu lassen, und so schick wie möglich, weil Theater nicht nur auf der Bühne Inszenierung bedeutet. So lautet die Antwort des Architekturbüros Lederer, Ragnarsdóttir, Oei (Stuttgart) und des
Hrsg: Hans-Jörg Reisch, Andreas Reisch
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: avedition GmbH

2021

Essenz
Winking · Froh Architekten

Seit 20 Jahren bearbeiten Bernhard Winking und Martin Froh in Europa und China das gesamte Spektrum architektonischer und städtebaulicher Aufgaben. Mit ihrer preisgekrönten Sanierung der Spiegel-Insel sowie der Ergänzung der Esplanade in Hamburg zeigen Winking · Froh Architekten vorbildlich, wie es gelingt,
Hrsg: Jürgen Tietz
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

TXL. Berlin Tegel Airport

Berlin-Tegel TXL ist der Flughafen der kurzen Wege, eine Ikone der modernen Architektur. Mit seiner markanten sechseckigen Form und dem Prinzip des Gate-Check-in hat Tegel Luftfahrtgeschichte geschrieben. Tegel, das war das heiss geliebte Fenster der ummauerten Inselstadt Berlin (West) in die weite Welt.
Hrsg: Jürgen Tietz, Detlef Jessen-Klingenberg
Verlag: Park Books

2015

Meinhard von Gerkan – Biografie in Bauten 1965–2015
Die autorisierte Biografie

Über 200 Projekte hat Meinhard von Gerkan als Mitgründer des Architekturbüros gmp – von Gerkan, Marg und Partner realisiert, angefangen vom berühmten Drive-to-your-gate-Flughafen Berlin-Tegel über den Berliner Hauptbahnhof bis hin zum Chinesischen Nationalmuseum in Peking. Weniger bekannt, doch nicht
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: JOVIS

2015

Meinhard von Gerkan - Vielfalt in der Einheit
Die autorisierte Biografie

Die Biografie Meinhard von Gerkans beschreibt eine beeindruckende deutsche Nachkriegskarriere, die vom Flüchtlingswaisen bis zum internationalen Stararchitekten geführt hat. Zusammen mit seinem Partner Volkwin Marg, mit dem er 1965 in Hamburg das Architekturbüro gmp gründete, zählt Meinhard von Gerkan
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: JOVIS

2004

Botschaften in Berlin

Die zweite, aktualisierte Auflage präsentiert auch die jüngst fertiggestellten Gebäude des Oman und der Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Botschaft der Niederlande von Rem Kohlhaas. Mit dem Umzug von Bundesregierung und Parlament nach Berlin verlegten die meisten ausländischen Vertretungen ihre
Hrsg: Jürgen Tietz, Kerstin Englert
Verlag: Gebr. Mann Verlag