Artikel

Kunst, Pop, Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Ein Besuch bei David Adjaye in London

Innerhalb weniger Jahre ist David Adjaye zum Shootingstar der Londoner Architekturszene geworden. Der 37-Jährige gilt dank seinen vielfältigen Kontakten als «hot architect of the moment» und steht am Beginn einer internationalen Karriere.

14. Januar 2004 - Konrad Adam
Der Hoxton Square zählt seit einigen Jahren zu den «hot spots» des Londoner Nachtlebens. Die Shoreditch Electricity Showrooms und die Hoxton Square Bar, beide 1998 eröffnet, waren die ersten Anziehungspunkte, und seitdem befindet sich die Gegend im permanenten Wandel. Ständig öffnen neue Bars, Restaurants und Galerien, und anlässlich der 2003 erstmals lancierten Frieze Art Fair, der von der Kunstzeitschrift «Frieze» veranstalteten Kunstmesse im Regent's Park, warben knapp 80 Galerien, Museen und Kunstinstitutionen des Londoner East End um Besucher. Für die junge Szene bleibt die Gegend nördlich der Liverpool Street Station weiterhin attraktiv: So nutzen im «Tea House», einem Lagerhaus an der Bethnal Green Road, Galerien einige der mit Loft-Chic restaurierten Räumlichkeiten, bis sich finanziell potentere Mieter eingefunden haben.


Über die Kunst zur Architektur

Nur wenige Schritte sind es vom «Tea House» bis zur Whitby Street, und dort steht eines der ungewöhnlichsten Beispiele zeitgenössischer Architektur Londons: Ein zweigeschossiges Lagerhaus ist zu einem grossen Atelier geworden. Die Ziegelfassade blieb erhalten, wurde aber mit Bitumen gestrichen, so dass das Haus wie eine Kaaba wirkt, durchbrochen lediglich von einigen Lochfenstern, die keinen Einblick gewähren. Ein zurückgesetztes, ringsum verglastes Attikageschoss bildet einen lichten Kontrast zum dunklen Volumen und wird von einem weissen Flugdach abgeschlossen. Das «Dirty House» dient als Wohn- und Arbeitsort von Tim Noble und Sue Webster, zwei Stars der jungen Londoner Kunstszene. Entworfen wurde es von dem Architekten, dem binnen weniger Jahre ein kometenhafter Aufschwung innerhalb der britischen Architekturszene gelang und dessen Entwürfe nahezu Kultstatus geniessen: David Adjaye. Er gilt als Hoffnungsträger, als erfolgreichster Beweis dafür, dass in London eine Architektur jenseits des etablierten Hightech der Platzhirsche Norman Foster, Richard Rogers oder Nicholas Grimshaw denkbar ist. Adjayes Bauten sind vielgestaltig, lassen sich nicht auf eine einheitliche Linie festlegen. Minimalistische Elemente mischen sich mit aussergewöhnlicher Opulenz der Form.

Geboren wurde Adjaye als Sohn eines ghanesischen Diplomaten 1966 in Dar es Salaam. Die Berufstätigkeit des Vaters führte Adjaye als Kind nach Ägypten, Jemen und Libanon; 1979 übersiedelte die Familie nach London, wo er am Royal College of Art ein Studium begann. Nach einem Semester Kunst wechselte er zur Architektur und erhielt 1993 den Master-Abschluss. Sechs Jahre währte die anschliessende Partnerschaft mit dem Architekten William Russell; in dieser Zeit entstand unter anderem die Soba Noodle Bar in Soho und die Klub-Bar The Social, etwas versteckt nördlich der Oxford Street unweit von John Nashs Kirche All Souls gelegen. Mit einem Mix von Materialien - spektakulär sind die aus Ortbeton gegossenen Tische und Sitze - gelang den Architekten eine ebenso überzeugende wie überraschende Umgestaltung der sich über Keller und Erdgeschoss ausdehnenden Räume, und so hat sich das «Social» seit 1999 einen festen Platz im Nachtleben der Hauptstadt erobert.

Mit acht Mitarbeitern machte sich Adjaye im Jahr 2000 selbständig und gründete das schnell erfolgreiche Büro Adjaye Associates: Studienkollegen und Freunde aus Adjayes Akademiezeit waren im Boom der YBA, der «Young Brit Artists», zu Erfolg gekommen und übertrugen Adjaye Bauaufträge. So liest sich dessen Klientenliste wie ein Who's who der Londoner Kunstszene: der Maler Chris Ofili, die Installationskünstlerin Melanie Swarovski, der Schauspieler Alexander McQueen, der Modefotograf Juergen Teller. Adjaye realisierte Penthouses und Ateliers, baute typisch englische Reihenhäuser um und widmete sich Installationen. Für Gemälde des Turner-Preisträgers Ofili beispielsweise entwarf er eine Präsentation in der Londoner Galerie Victoria Miro und die Installation im britischen Pavillon auf der diesjährigen Biennale in Venedig.


Kleiner und grosser Massstab

Aus acht sind nach drei Jahren achtundzwanzig Mitarbeiter geworden, angeführt von einem Leitungsteam, dem neben Adjaye auch eine Büromanagerin, ein Finanzchef und zwei Projektleiter angehören. Ansässig ist das Büro im nördlichen Hoxton, weit entfernt vom hippen Hoxton Square. Das Taxi kurvt zwischen Wohnsiedlungen der Wiederaufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg und verwahrlostem Abstandsgrün, um dann vor einem ehemaligen Lagerhaus zu halten. Hier haben sich Adjaye Associates eine grosszügige Etage angemietet. Strahlend weiss, beinahe minimalistisch wirkt die Einrichtung. Ein fast endloser Raumteiler: darauf eine Unzahl von Modellen verschiedener Projekte, davor Materialproben aller Arten - eine Bibliothek des Stofflichen. Auf der anderen Seite des lang gestreckten Hauptstudios stehen grosse Arbeitstische. Nur die Computer fallen zunächst nicht ins Auge: Sie stehen, etwas verschämt, auf der Rückseite des Raumteilers. Selbstverständlich wird heute am PC entworfen, aber der Euphorie digitalen Entwerfens pflichtet Adjaye nicht bei. Im Gespräch betont er, dass für ihn Handzeichnung und Material der eigentliche Ausgangspunkt der Architektur sind. Und Architektur ist für David Adjaye auch Kunst. Tatsächlich gibt es nur wenige zeitgenössische Architekten, welche im vergleichbaren Masse die Seiten wechseln, nicht nur mit Künstlern kooperieren oder für Künstler bauen, sondern auch im freien Bereich tätig werden. Jüngstes Beispiel: die hölzerne Rauminstallation «Asymmetric Chamber», die der Architekt im letzten Herbst in der Galerie Cube in Manchester eingerichtet hat.

Die Positionierung in der Kunstszene entspricht nicht nur Adjayes Selbstverständnis, sie sicherte ihm auch die Aufmerksamkeit der Medien. «Prince Charming», wie der 37-Jährige mitunter genannt wird, ist zu einer Ikone des multikulturellen, erfolgreichen London geworden. Die Wochenendbeilagen der grossen englischen Tageszeitungen widmen sich dem sympathischen Shootingstar ebenso wie Designmagazine oder Modejournale. Adjaye schätzt Lifestyle durchaus: Eben erst konnte er Inneneinrichtungen für die Selfridge's-Warenhäuser in Manchester und an der Londoner Oxford Street abschliessen.

Die kleinen Arbeiten im Kunstbereich, so erklärt Adjaye bei einem Rundgang durch die Räume seines Büros, seien für ihn Experimente. Hier liessen sich Ideen entwickeln und erproben, die dann in den grösseren Massstab umgesetzt werden könnten. Und tatsächlich ist das Büro mit einer Reihe umfangreicher Entwurfsaufgaben beschäftigt. Den Anfang machte 2001 der Wettbewerb für sechs neue Bibliotheken im Ostlondoner Tower Hamlets, von denen zwei im kommenden Jahr eröffnet werden. Die auf die jeweilige Situation reagierenden gläsernen Gebäude bieten entsprechend dem komplexen Nutzungsprogramm unterschiedliche Raumbereiche, und so spricht Adjaye auch lieber von «Idea Stores» als von Bibliotheken. Es geht bei begrenztem Budget zunächst einmal um die Aufwertung des vernachlässigten Londoner Ostens und um Lernangebote für die hier lebenden Immigranten. Ähnliche Effekte erhofft man sich vom ebenfalls 2001 entworfenen Bernie Grant Centre in Tottenham, dessen Theatersaal und dessen Bildungseinrichtungen universitären Bedürfnissen dienen, aber auch der Nachbarschaft offen stehen sollen. Inzwischen hat Adjaye den Sprung ins Ausland geschafft: In New York entsteht ein Museum für zeitgenössische Kunst, in Boston ein Medienlabor und in Oslo das prestigeträchtige Nobelpreiszentrum in und hinter der alten Vestbanen-Station im Stadtzentrum.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: