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Der Kulturhunger ist gross
Neue Zürcher Zeitung

Die Museumsstadt Melbourne und ihre Pläne

Melbourne hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dank Goldrausch und europäischer Emigration zur inoffiziellen Hauptstadt des fünften Kontinents entwickelt und galt noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als finanzieller und kultureller Leader. Nun hat Sydney der Rivalin im Süden in vielen Bereichen den ersten Rang abgelaufen. Der Wettstreit aber ist damit noch längst nicht beendet.

16. Januar 2004 - Jörg Zutter
Lange Zeit galt Melbourne als Kulturhauptstadt Australiens. 1956 fanden dort die Olympischen Spiele statt. 1968 erhielt die Sammlung der National Gallery of Victoria (NGV) ein nach Plänen des Architekten Sir Roy Grounds errichtetes Haus an der St Kilda Road, in einem städtebaulich neu erschlossenen Kulturbezirk auf der Südseite des Yarra River mit Theater, Oper und Konzertsälen. Dann jedoch strebte Sydney 1973 mit der Eröffnung des von Jœrn Utzon entworfenen Opernhauses den ersten Platz an. Schliesslich fanden im September 2000 die Olympischen Spiele in Sydney statt und verbreiteten das Traumbild einer erfolgreichen und sonnengebadeten Metropole am Pazifik. Sydney ist inzwischen nicht nur erster Finanzplatz des fünften Kontinents, sondern auch Ort eines vielfältigen und qualitativ hochstehenden Kulturangebotes, mit einem dank Simone Youngs ehrgeizigem Spielplan aufstrebenden Opernhaus, einem mehrwöchigen Kulturfestival und einer internationalen Kunstbiennale, die über Australien hinaus in den asiatischen Raum ausstrahlen. Melbourne hingegen hat seine eigene Operngesellschaft aus, wie offiziell verlautete, Kostengründen aufgegeben und lässt seine Opernbühne von der Kompanie aus Sydney bespielen.


Das Ruder herumreissen

Nun versucht Melbourne das Ruder wieder herumzureissen. Unter Victorias Premier Jeffrey Kennett wurden in den neunziger Jahren zahlreiche Grossprojekte in die Wege geleitet. 2000 erhielt die Stadt mit dem Melbourne Museum ein postmodernes Gebäude aus Glas und Aluminium für die anthropologische Sammlung, das am nördlichen Stadtrand errichtet wurde. Für ein ganz neues Kulturzentrum wurden 1996 konkrete Pläne gefasst, ein Industriegebiet am Südrand der City zu überbauen, das schon 1920 von Städteplanern als Tor zur City erkannt wurde. Ein Ideenwettbewerb für diesen sogenannten Federation Square wurde ausgeschrieben, den die Partner Donald Bates (Amerika) und Peter Davidson (Australien) der Londoner Firma Lab architecture gewannen. Programmatisches Ziel war es, das Zentrum durch den Einbezug des Australian Centre for the Moving Image (ACMI) auf aktuelle Kunst auszurichten. 1997 wurde die NGV in die Planung einbezogen mit der Absicht, einen Komplex für australische Kunst zu schaffen, womit einerseits an den historischen Zusammenschluss der früheren britischen Kolonien zum australischen Bundesstaat in Melbourne im Jahre 1901 erinnert und andererseits der Ausdehnung auf zwei Häuser der Londoner Tate Gallery gefolgt wird. In Melbourne soll fortan internationale Kunst im Museum an der St Kilda Road, australische Kunst jedoch in einem neuen Zentrum am Federation Square gezeigt werden. Der Weg dahin sollte länger und komplizierter sein als ursprünglich geplant - erst Ende 2002 wurde das neue Museum eröffnet. Die Landesregierung zog, nachdem sich das veranschlagte Budget von 150 Millionen australischen Dollar verdreifacht hatte, harsche Kritik auf sich. Eine Parallele zu der Kontroverse um den Bau von Utzons Sydney Opera, deren Baukosten ebenfalls in astronomische Höhen stiegen, war unübersehbar.

Das neue Museumsgebäude am Federation Square, das den Titel «Ian Potter Centre: NGV Australia» trägt, ist aussen mit einer wabenförmigen Netzstruktur aus Metall und Glas bezogen und erinnert in Volumen und Masse an Bauwerke von Buckminster Fuller oder Rudolf Steiner. Das bewegte Erscheinungsbild ist einerseits eine Anspielung auf den industriellen Charakter des Ortes, auf die Rangieranlagen, die ehemaligen Gas- und Benzindepots, andererseits spiegelt es aktuelle Positionen der Architektur der Gegenwart, etwa die dekonstruktivistische Handschrift des Daniel Libeskind oder die skulpturale Monumentalität von Frank Gehry. Der Kulturkomplex, der neben dem ACMI und der NGV Australia auch Radio- und Fernsehstudios sowie zahlreiche Geschäfte, Restaurants, öffentliche Plätze und die Tourismusinformation beherbergt, wirkt als Publikumsmagnet und wird von Politikern und Kunstfachleuten als Aushängeschild von Melbournes Kulturleben bewertet.

Die Sammlung der NGV Australia ist im grössten zusammenhängenden Gebäudeteil untergebracht, der aus zwei parallel laufenden Flügeln auf dem Grundriss eines verschobenen Andreaskreuzes besteht. Der grosszügige Treppen- und Aufzugsschacht im Zentrum erschliesst alle drei Ebenen und bietet eine wichtige Orientierungshilfe für den Besucher. Die innere Raumgestaltung folgt einem dekonstruktivistischen Prinzip mit spitzen Winkeln und unregelmässigen Einschnitten in die metallene Aussenhaut, die als Fenster mit skulpturalem Eigenwert stehen. Spannungsvolle Lichteffekte und dramatische Engpässe sind der Präsentation von Kunstwerken aber nicht unbedingt förderlich. Donald Bates und Peter Davidson betonen die Unvoreingenommenheit, mit der sie an den Entwurf herangegangen sind. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Dialog zwischen statischen Gemälden und expressionistischer Architektur in ein Streitgespräch versteigt.

Die spannungsvolle Harmonie von Raumgestaltung und Kunst beeindruckt vor allem im Erdgeschoss, wo die kraftvolle Kunst der Aborigines von der verschachtelten Architektur profitiert. Problematischer wird das Verhältnis vom Kunstwerk zu seiner Umgebung in dem räumlich sehr unruhig gestalteten zweiten Geschoss, das der australischen Kunst seit der Kolonialzeit gewidmet ist. Hier wird eine kohärente Hängung dem in spektakulären Durchbrüchen demonstrierten Willen zur architektonischen Modernität geopfert. Die Rhythmisierung des Raumgefüges wird während des Rundgangs nicht neutralisiert, sondern gesteigert und riesigen Ruhehallen gegenübergestellt.

Das dritte Geschoss, mit den grössten und höchsten Sälen, beherbergt Wechselausstellungen australischer Gegenwartskunst, Design und Mode und wurde mit der Ausstellung Fieldwork eingeweiht, einem Kommentar zur Lage der Gegenwartskunst zwischen Abstraktion und Figuration. Zahlreiche Events wie Performances und Videoprojektionen auf den Plätzen und Innenhöfen sowie die Cafés und Restaurants im und um das Kulturzentrum bringen viele Leute ins Museum. Anziehend wirkt auch die Kombination von Kunst- und Filmmuseum. Das ACMI bietet neben dem ständigen Kinoprogramm zahlreiche Ausstellungen, die Beziehungen zwischen bildender Kunst und neuen Medien ausloten. Die unterirdischen Ausstellungssäle eignen sich gut für die Präsentation von Videoarbeiten, sei es als Grossprojektionen oder auf Plasmabildschirmen. Nach der Eröffnungsausstellung «Space Odysseys: Sensation & Immersion» mit Vertretern der internationalen Videokunst umfasst die gegenwärtige Ausstellung «Rememberance + the moving image» Werke aus der eigenen Sammlung.


In neuem Glanz

Flaut der erste Besucheransturm auf das neu eröffnete Museumsquartier ab, richtet sich die Aufmerksamkeit wieder mehr auf die Kunst und das Ausstellungsprogramm. Vieles wird in Zukunft von der Komplementarität der beiden Häuser abhängen. Während das ACMI ein vielseitiges Programm mit wichtigen Vertretern der Medienkunst, einschliesslich der Stars Bill Viola, Gary Hill und Jenny Holzer, bietet, konzentriert sich die NGV Australia in diesem Jahr auf Retrospektiven berühmter Maler wie Sidney Nolan und des Neuseeländers Colin McCahon und untersucht die Zusammenhänge zwischen australischer Kunst und der Bildwelt des Kindes.

Auch der seit 1997 geschlossene Museumsbau der NGV an der St Kilda Road wird erweitert und neu gestaltet. Den Auftrag erhielt der italienische Designer Mario Bellini. Im November soll das Haus im neuen Glanz unter der Bezeichnung NGV International mit einem Projekt zur internationalen Gegenwartskunst und mit der Ausstellung «Caravaggio und seine Zeit» eröffnet werden.

Seit Ende 2002 hat Melbourne ein Museum für Gegenwartskunst. Der mit 11 Millionen Dollar veranschlagte Bau für das Australian Centre for Contemporary Art (ACCA) von dem gefeierten Melbourner Atelier Wood Marsh Architects besteht aus einem rostigen Stahlgehäuse, das sich wie ein riesiger Monolith aus dem monotonen Industriegebiet an der Sturt Street am Südrand der Stadt erhebt. Es ist das grösste moderne Museumsgebäude in Australien, das ausschliesslich der Gegenwartskunst gewidmet ist. Zwar muss sich erst noch weisen, ob es dem Museum of Contemporary Art (MCA) in Sydney, das mit internationalem Programm Aufsehen erregt, den Rang als führende Institution in Sachen Gegenwartskunst abzusprechen vermag. Die ersten Ausstellungen sind einem Querschnitt der jüngsten australischen Gegenwartskunst und der Bildhauerin Patricia Piccinini gewidmet, die Australien an der diesjährigen Biennale von Venedig vertritt.

Unterdessen führt der Kulturkonkurrenzkampf zwischen den beiden grössten Städten Australiens zu interessanten Resultaten. Noch werben die beiden Metropolen einander weder Chefdirigenten, Intendanten, Sammler noch Museumsdirektoren ab, aber das kann sich ändern, denn der Hunger nach Kultur in dem von ungebändigter Natur dominierten Kontinent ist gross. Nachdem in Canberra vor zwei Jahren unweit der National Gallery of Australia das postmoderne National Museum of Australia eröffnet worden ist, das sich wie ein Monument am Nordufer des Lake Burley Griffin erhebt, sprechen Insider bereits von Plänen eines riesigen Museum of Aboriginal Art, das irgendwo in der Wüste zwischen Alice Springs und Darwin entstehen soll.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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