Artikel

Das vergessene Gesamtkunstwerk
Neue Zürcher Zeitung

Schauplatz St. Petersburg

Was Peter gross plante, hat die Geschichte klein gemacht

19. Januar 2004 - Tomas Veser
Als Peter der Grosse 1703 im Norden Russlands die neue Hauptstadt St. Petersburg realisieren liess, liess der Fürst auch gleichzeitig die gesamte Landschaft nach barockem Geschmack umgestalten. Mit der nach wenigen Jahren fertiggestellten «Petergofskaja Doroga», die heute in weiten Abschnitten kaum noch bekannt ist, verfolgte der Zar vor allem reformpädagogische Absichten.

Eingeweihte lassen sich von Metallzaun und Verbotsschildern schon lange nicht mehr beeindrucken. Wenn kein Wachsoldat in Sichtweite ist, gelangen sie durch grosse Löcher im militärischen Sperrriegel ungehindert in den einstmals bestgehüteten Marinestützpunkt der Sowjetunion. Mitten im Zentrum der früheren Garnisonsstadt Kronstadt auf der Halbinsel Kotlin im Finnischen Meerbusen erstrecken sich Trockendocks und Werkhallen, in denen bis vor einigen Jahren die Schiffe der baltischen Flotte überholt wurden. Manche der baufälligen Anlagen stammen noch aus der Zeit Peters des Grossen. Er hatte dem schwedischen Erzrivalen 1704 die vorgelagerte Festung Kronslott abgenommen und zum Schutz des entstehenden Sankt Petersburg Kronstadt erbauen lassen. Wurde die neue Hauptstadt zu «Russlands Fenster zum Westen» verklärt, diente das befestigte Kronstadt als Eingangstür zum Reich. Bis 1996 gehörte der Ort zum militärischen Sperrgebiet, das kein Aussenstehender betreten durfte. Verblüfft stellen die Besucher aus dem knapp 30 Kilometer entfernten Sankt Petersburg fest, dass die 45 000 Einwohner zählende Stadt mit ihren breiten Boulevards, grosszügig bemessenen Plätzen und repräsentativen Baudenkmälern ihrer eigenen Stadt stark ähnelt.


Bis ins Detail durchgeplant

Wie seine Hauptstadt hatte Peter auch Kronstadt bis ins Detail durchgeplant. «Er nahm einen Felsen, dann einen anderen und schmiedete so die ganze Stadt in der Luft zusammen. Erst dann stellt er sie auf die Erde», verklärte Fürst Wladimir Odojewski in einem romantischen Märchen die Entstehungsgeschichte. Peter der Grosse betrieb jedoch nicht nur Stadtplanung, er liess die gesamte Landschaft um die Neugründungen zügig umgestalten: Kronstadt bildet den Endpunkt einer Kulturlandschaft, die sich westlich der ehemaligen Hauptstadt über eine Distanz von nahezu 40 Kilometern bis an die finnische Bucht erstreckt. Sie besteht aus einer Abfolge von kaiserlichen Palästen, Landsitzen und Parks, die sich wie ein grüner Gürtel um Sankt Petersburg legen.

Peter liess diese Kulturlandschaft, die von Strelna über Peterhof nach Kolomna und dann bis Oranienbaum verläuft, seit 1710 anlegen. Nur 15 Jahre später war die nach seiner Hauptresidenz Peterhof genannte und harmonisch in sich abgeschlossene «Petergofskaja Doroga» (Strasse) weitgehend vollendet. Seine Nachfolger ergänzten Peters Schöpfungen durch weitere Residenzen und Parklandschaften, darunter die berühmten Schlösser von Zarskoje Selo, Gatschina und Pavlowsk. Als die Unesco 1990 Sankt Petersburg auf die Unesco-Welterbeliste aufnahm, beschränkte sie sich nicht auf das historische Zentrum, sondern bezog ausdrücklich «dazugehörige Baudenkmäler» mit ein. Gemeint waren neben den Schlössern und Parks mit Vorzeigecharakter weniger bekannte Schöpfungen aus der Zeit Peters I.

Etliche der frühen Werke sind dem Zweiten Weltkrieg, Vernachlässigung, Raumplanung oder Neubauprojekten zum Opfer gefallen. Welchen Zwecken die verschonten Baudenkmäler dienten, wissen oft nicht einmal die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Menschen. Wie die Petergofskaja Doroga ursprünglich aussah, hat der Petersburger Architekturhistoriker Sergei Gorbatenko erforscht und mit zeitgenössischen Darstellungen versehen. Diese erste umfassende Bestandsaufnahme des «historisch-landschaftlichen Komplexes» ist bis anhin leider nur auf Russisch verfügbar.

Ingermanland, wie die dünn besiedelte Landschaft am Finnischen Meerbusen genannt wurde, wies damals überwiegend morastigen und unfruchtbaren Boden mit Wäldern und Gebüsch auf. Bevor sich der Zar ans Werk machte, hatte er sich bei Aufenthalten in Mittel- und Westeuropa inspirieren lassen. Und so liess er nach dem Vorbild holländischer Grachten zunächst Kanäle zur Ostsee hin anlegen. Von den vielen Windmühlen, die damals gebaut wurden, ist keine einzige erhalten. Amsterdam hat ihn stets stark fasziniert, und so befahl Peter in der Siedlung Kolomna den Bau einer Werft, die er «Nowaja Gollandia» taufen liess. Seinen einstigen Charme hat das Baudenkmal im ältesten und architektonisch reichsten Stadtviertel von St. Petersburg längst eingebüsst; seine zerfallenen, von Gestrüpp überwachsenen Ziegelsteinmauern spiegeln sich heute im Wasser eines städtischen Kanals.

Holländische Vorbilder standen auch beim Bau von Schloss Oranienbaum Pate. Sein Besitzer war Fürst Menschikow, Peters engster Vertrauter, der nach dem Tod des Zaren enteignet wurde. Während der gewaltige Barockpalast seit Jahren geschlossen ist, bedroht Regenwasser, das durch das schadhafte Dach eindringt, den einzigartigen Chinesischen Palast im Landschaftspark. Dieses Baudenkmal mit seinen feinen Sammlungen hatte die Oktoberrevolution und sogar die deutsche Besatzung überstanden. Schritte zur Rettung des Kleinods wurden angekündigt, als zähes Haupthindernis hat sich bisher die Finanzierung erwiesen.


Wald und Meer

Mit Vorbedacht hat Peter I. für Oranienbaum, Strelna und Peterhof meeresnahe Standorte ausgewählt: Seine Landsleute sollten durch den permanenten Sichtkontakt zur Seefahrernation werden, so lautete seine reformpädagogische Vorgabe. Bekanntlich konnte sich sein Hofstaat für die neue Hauptstadt im rauen Norden lange Zeit nicht erwärmen. Um ihnen den erzwungenen Aufenthalt angenehmer zu gestalten, liess Peter für die Elite Landsitze ausserhalb von Sankt Petersburg errichten. Waldschutz war dem Herrscher stets ein wichtiges Anliegen, und so pflanzte er in den Parks seiner Residenzen eigenhändig Eichenbäume. Nach und nach entstanden an Kanälen und Strassen linear angeordnete Gebäude mit Grünflächen. Diese Methode, die der Stadtplanung entlehnt war, hatte Peter ebenfalls in Holland kennen gelernt.

In wenigen Jahren wuchs eine aus unterschiedlich grossen Landhäusern und Parkanlagen geschaffene Kulturlandschaft, die durch eine Hauptverkehrsachse entlang des Küstenverlaufs zusammengehalten wurde. Diese Achse einte Wasserflächen, Gärten und verstreut angeordnete Monumente perspektivisch zu einem optisch abwechslungsreichen Gesamtkunstwerk, die dem Betrachter nach dem Geschmack des Barockzeitalters ständig neue Szenerien bot. Um die Bewohner dieser Güter, auf denen sie sich ausschliesslich entspannen und vergnügen sollten, zum Meinungsaustausch zu ermutigen, verzichtete Peter auf trennende Zäune. Sein Hofstaat sollte mit den russischen Sitten brechen und sich künftig nach europäischen Gepflogenheiten gegenseitig Höflichkeitsbesuche abstatten.

Rund 150 Jahre lang hielten die Arbeiten zur weiteren Ausgestaltung der Peterhofer Strasse an, die Regierungszeit Katharinas II. wird allgemein als ihr goldenes Zeitalter betrachtet. Nach einer Phase der Lethargie Anfang des 19. Jahrhunderts fügte Zar Nikolaus I. mehrere Residenzen für die Angehörigen der kaiserlichen Familie hinzu, schuf ein Dutzend weitere Landschaftsparks und modernisierte das Strassennetz. Nach der Oktoberrevolution begann die allmähliche Zerstörung der Kulturlandschaft, die nicht nur architektonische und landschaftsgestalterische Entwicklungen, sondern auch den sozialen und ökonomischen Wandel über einen längeren Zeitraum widerspiegelt. Ganze Wälder wurden damals gefällt, neue Siedlungen entstanden. Oft nutzte man die leeren Herrschaftssitze als Kinderheime oder richtete Museen ein. Andere Ensembles wurden geplündert und anschliessend in Brand gesteckt.

Obwohl die Petergofskaja Doroga bis zum Ende des Kommunismus unter Schutz gestellt war, setzten die Behörden dort in einigen Abschnitten Fabrikgebäude, landwirtschaftliche Grossbetriebe und Viehzuchtanlagen mit manchmal gewaltigen Dimensionen in die Landschaft und beeinträchtigten damit die Integrität. Seit einigen Jahren haben die «neuen Russen» die nordeuropäische Kulturlandschaft für sich entdeckt. Ihre protzigen Landsitze, die oft an stilistischer Geschmacksverirrung kaum noch zu überbieten sind, schieben sich immer näher an die Parks heran und bilden einen seltsamen Kontrast zu den historischen Gebäuden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: