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Nur sparsam salzen!
Nur sparsam salzen!, Foto: Gerald Zugmann
Spectrum

Architektonisch war sie nur ordentlicher Durchschnitt, aber dennoch so etwas wie ein urbanes Merkobjekt: eine leer stehende Gummifabrik in Wien-Breitensee. Rüdiger Lainer hat sie revitalisiert und ergänzt, ohne dabei den Altbestand zu deklassieren.

7. Februar 2004 - Walter Zschokke
Die Ausfallstraßen nach Westen tangieren und durchstoßen im 14. Wiener Gemeindebezirk auf ihrem Weg zur Stadtgrenze da und dort verbliebene Industriezonen, deren ursprüngliche Nutzung aber oft schon vor Jahren aufgelassen oder verlegt wurde und deren Gebäude, meist nur notdürftig unterhalten, mit Zwischennutzungen belegt sind oder schon länger leer stehen. Obwohl nicht selten dem Verfall nahe, zeugt manch beachtliches Bauwerk vom unternehmerischen Stolz seiner ursprünglichen Bauherrschaft. Bekanntestes Beispiel sind wohl die ehemaligen Zeiss-Werke von Robert Oerley, deren Baukörper deutlich aus der umgebenden Wohnbebauung herausragt und deren Observatoriumskuppel von der Gloriette aus gut zu erkennen ist.

Andere sind im städtebaulichen Gefüge stärker integriert, doch bilden sie wegen der Größenordnung ihrer Bauvolumen eine Ausnahme im Kontext der umgebenden Stadthäuser. Wenn sie sogar eine besondere städtebauliche Stellung einnehmen und von ihren Entwerfern auch darauf hin konzipiert wurden, bilden sie bis heute wichtige Elemente im urbanen Gemenge baulicher Zeichen. Sie setzen sich in der Erinnerung fest und dienen damit der Orientierung. Beispielsweise geben sie Passagieren in der Straßenbahn beiläufig rasch Antwort auf die Frage „Wo bin ich gerade, lohnt es sich, noch eine weitere Seite zu lesen anzufangen, oder muss ich mich zum Aussteigen bereit machen?“.

Diese urbanen Merkobjekte sind wesentlich an der visuellen Qualität des öffentlichen Raums beteiligt und bilden darin eine Art Kontinuum als Knoten in einem großmaschig geknüpften Netz. Zusammen mit anderen sowie mit den ähnlich wichtigen öffentlichen Räumen bestimmen sie den schnell erfassbaren städtebaulichen Grundcharakter eines Quartiers oder Stadtbezirks. Es ist daher durchaus gerechtfertigt, sie unter Denkmalschutz zu stellen.

Ein derartiges Objekt ist mir vor längerem bei gelegentlichen Fahrten durch die Hütteldorfer Straße aufgefallen, und man
wundert sich kaum, dass es selbstverständlich in Friedrich Achleitners zweitem Wiener Band seiner „Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“ zu finden ist. Es ist die Nummer 130 an der langen Straße. Das Gebäude wurde als Gummifabrik erbaut; seit 1889 war es im Besitz der Semperit, unter deren Regie 1909/10 der Kopfbau, entworfen von Franz Sobotka, am heutigen Lotte-Lenya-Platz als letzter Bauabschnitt entstand. Ab 1926 diente es nur mehr als Magazin, in letzter Zeit stand es leer.

Die vertikal betonten Pfeiler der gemauerten Ziegelfassade entsprechen damaliger Praxis im Industrie- und Warenhausbau. Der Gebäudekopf wurde mit einem kleinen flachen Giebelelement ausgezeichnet. Die Betonrippendecken nach System Hennébique im Inneren sind extrem ausgemagert, und die minimal armierten Pfeiler mussten im Zuge der Sanierung sogar verstärkt werden. Man hatte zur Bauzeit also extrem gespart. Auch die Architektur ist bloß ordentlicher Durchschnitt, jedoch die Größenordnung des Baukörpers und seine Stellung in der Gabelung von Hütteldorfer und Heinrich-Collin-Straße, kurz nach der wichtigen Kreuzung mit Ameisgasse und Leyserstraße, sowie das Vorfeld des Lotte-Lenya-Platzes werteten den Bau städtebaulich so stark auf, dass es richtig war, seine Revitalisierung anzustreben.

Rüdiger Lainer, der mit der erst auf den zweiten Blick anspruchsvollen Aufgabe befasst wurde, sicherte und sanierte behutsam den Altbestand und fügte nordseitig, an der Heinrich-Collin-Straße, einen niedrigeren Baukörper an. Vor allem aber wurde dem Dach ein langes Bauvolumen aus zwei zurückspringenden Geschoßen aufgesetzt. Ohne diese Steigerung des Flächenangebots wäre eine Erhaltung des signifikanten Bauwerks wirtschaftlich kaum tragbar gewesen.

Als Nutzungen sind in den unteren beiden Hauptgeschoßen ein Fitness-Center und darüber Büros untergebracht. Obwohl schon sehr weit draußen gelegen, oder vielleicht gerade deshalb, hat sich im Umfeld der Station Breitenlee der Vorortelinie, der Straßenbahn und der kreuzenden Busstrecke sowie der Ausstrahlung der wenige hundert Meter entfernt vorbei führenden U3 eine gewisse Urbanität aus verbliebenen Resten früherer Zeiten und neuen Initiativen entwickelt. Diese - bescheidene - Zukunftshoffnung bot sich als Überlebenschance für das Gebäude an.

Nun galt es aber die neuen Teile zum alten Baukörper in eine vernünftige, zugleich zurückhaltende Beziehung zu setzen. Dies gelingt, indem den neuen Teilbaukörpern eine Fassade aus reliefierten Aluminiumguss-Elementen vorgeblendet wird. Das mittlere, matte Grau des Aluminiums ist unaufdringlich, das Relief aus Pflanzenmustern lässt ein spiegelndes Glänzen nicht zu, eher schluckt es das Licht. Damit behält die betonte Materialität der Ziegelmauer die Vorherrschaft. Es besteht jedoch ein subtiler Zusammenhang zwischen den beiden Oberflächen, der struktureller Natur ist.

Während die Ziegel lagerhaft gemauert sind, sodass eine Textur aus vielen kleinen langen Rechteckformaten entsteht, sind die Aluminiumguss-Elemente als zirka fünf mal größere Hochformate ähnlicher Proportion mit dünnen Fugen vertikal montiert. Beide weisen eine ihrer Größenordnung entsprechende raue Oberfläche auf. Obwohl einerseits Backstein, andererseits Aluminum als Material vorliegt (wobei das Aluminium aus Erde, aus Bauxit gewonnen wird), gibt es die Strukturverwandtschaften der Oberflächenbeschaffenheit und der Proportion. Damit gelingt es dem Architekten, Alt und Neu erkennbar, doch nicht feindlich nebeneinander zu stellen. Unregelmäßige Rankgerüste auf der Attika des Hauptbaukörpers schaffen zudem eine weiche Übergangszone zum Dachaufbau.

Dieser gefühlvolle Umgang, der das im Detail nicht besonders wertvolle Alte nicht deklassiert, sondern seine vorhandenen Werte zu verstärken weiß, sodass es mit dem zurückhaltend auftretenden Neuen mitzuhalten vermag, verlangt nicht nur von den Entwerfenden, sondern auch von den ausführenden Handwerkern und der Bauleitung ein entsprechendes Bewusstsein. Dabei geht es beispielsweise um das nötige Gespür für einen nicht zu perfekten Fugenmörtel. Ein Zuviel würde sofort lächerlich wirken, und die sorgsam gehütete Aura des Alten wäre zerstört und damit das ganze Bemühen, die prekäre Qualität fast unmerklich anzuheben, um der städtebaulichen Rolle des Gebäudes Genüge zu tun, zum Scheitern verurteilt. Es ist wie beim Salzen eines Gerichts: ein Zuviel lässt sich nicht rückgängig machen. Da nützen all die schönen CAD-Darstellungen nichts: Ohne Erfahrung und Gespür für die realen Materialwirkungen und deren Kombination sowie für eine adäquate Ausführung wird daraus nicht Architektur.

Mit Kostendruck müssen heute fast alle Architekten bewusst umgehen. Dabei aber den Einsatz der Mittel so klug zu steuern, dass die architektonische Wirkung bei der Ausführung nicht auf der Strecke bleibt, gelingt jeweils nur wenigen. An der Hütteldorfer Straße 130 wurde dies in positiver Weise wieder einmal bewiesen.

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