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Profil

Raumplanungsstudium an der TU Wien, Dr. techn.; Tätigkeit als Stadtplaner und Berater, Filmemacher und Fachpublizist; schreibt u.a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Die Presse (Spectrum); mehrere Buch- und DVD-Veröffentlichungen sowie Produktionen für Fernsehen (arte, 3sat, ORF, BR, phoenix, RAI, …) und Hörfunk (Ö1, Deutschlandradio, WDR, …); Gestaltung zahlreicher Fachveranstaltungen und mehrerer Ausstellungen; internationale Lehr- und Vortragstätigkeit

Lehrtätigkeit

Bauhaus-Universität Weimar (Lehrauftrag 1998)
Kunst-Universität Linz (Lehraufträge 2005-08 und 2014/15)
Technische Universität Wien (Lehraufträger 2007/08 und 2009/10)
Akademie der bildenden Künste Wien (Lehrauftrag 2011/12)
Technische Universität Wien (Gastprofessur 2014/15)
FH Joanneum Graz (Gastvorlesungen seit 2012)

Mitgliedschaften

Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (seit 2004)
Baukulturbeirat der Österreichischen Bundesregierung (seit 2009)
Stadtplanungsbeirat von Dornbirn (seit 2019)

Publikationen

Der automobile Mensch. Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege
(Dokumentarfilm 2024, modular 90-400 min, deutsch/englisch/französisch, www.urbanplus.at/de/filme/der-automobile-mensch)

Häuser für Menschen. Humaner Wohnbau in Österreich
(Dokumentarfilm 2013, 125 min, www.urbanplus.at/de/haeuser-fuer-menschen-humaner-wohnbau-in-oesterreich)

Architektur der Erinnerung. Die Denkmäler des Bogdan Bogdanovic
(Dokumentarfilm 2008, 125 min, deusch/bosnisch-kroatisch-serbisch, www.urbanplus.at/de/architektur-der-erinnerung-denkmaeler-des-bogdan-bogdanovic)

Harry Glück. Wohnbauten
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2014/2024 - 3. Auflage, 240 S.)

Wer baut Wien?
(Verlag Anton Pustet, Salzburg 2007/2013 - 4. Auflage, 216 S.)

Veranstaltungen

Der Blick von außen (Baukulturelles Ausstellungsformat)

• Saalfelden, 2021-2023 (in Kooperation mit dem Kunsthaus Nexus)

• St. Pölten, 2018-2020 (in Kooperation mit ORTE Architekturnetzwerk Niederöster-reich und Stadtmuseum St. Pölten)

• Klagenfurt 2017-2018 (in Kooperation mit dem Architektur Haus Kärnten)

Auszeichnungen

Förderungspreis der Stadt Wien für Volksbildung (2009)
Rudolf-Wurzer-Würdigungspreis für Raumplanung (2002)

Karte

Artikel

7. Dezember 2007 Spectrum

Land der Zersiedler

Landschaftsfraß, Sterben der Ortskerne, Verkehrsflut. Niemand verlangt von der heimischen Politik, all diese Probleme zu lösen – nur sollte sie endlich aufhören, sie be- ständig zu forcieren.

Wer verschwenderisch mit seinen Ressourcen umgeht, hat entweder im Überfluss davon – oder handelt leichtsinnig, um nicht zu sagen verantwortungslos. Es obliegt der Selbsteinschätzung der politischen Entscheidungsträger, ob die heimische Siedlungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte von Überfluss oder Leichtsinn getragen war. Faktum ist jedenfalls, dass Österreichs Reichtum an intakter Natur und Landschaft, an vitalen Städten und Dörfern sowie an finanziellen Ressourcen endend – und in manchen Fällen bereits aufgezehrt ist. Dabei sind viele Probleme wie Zersiedlung, Suburbanisierung und Verkehrsbelastung, das Geschäftesterben, die Defizite im öffentlichen Verkehr oder die Krise der Kernstädte wie des ländlichen Raums keine unabänderlichen Phänomene, sondern werden durch bestehende Strukturen, Gesetze, Steuern und Förderungen verursacht oder zumindest verschärft.

In keinem vergleichbaren Staat Europas herrscht auf nationaler Ebene ein derartiges Vakuum an siedlungspolitischer Verantwortung wie in Österreich. Raumordnung, Umwelt- und Naturschutz, Wirtschaftsförderung und in zunehmendem Maße auch Verkehrsplanung sind in erster Linie Aufgabe der neun Bundesländer – in zentralen Standortfragen sogar Sache der 2358 Gemeinden.

Gleichwohl fallen auf Bundesebene maßgebliche Entscheidungen für die räumliche Entwicklung – sei es im Verkehrs- oder Landwirtschaftsministerium, sei es im Wirtschafts- oder Finanzministerium –, doch vielfach ohne die nötige Koordination mit den Zielen der Raumplanung. So besteht auf gesamtstaatlicher Ebene ein Nebeneinander, ja oft ein Gegeneinander verschiedenster Gesetze, Förderprogramme und Investitionen. Und auf kommunaler Ebene herrscht ein ruinöser Wettlauf um Einwohner, deren Zahl über den jeweiligen Anteil am Steuerkuchen im Rahmen des Finanzausgleichs entscheidet, sowie um Unternehmen, deren Kommunalsteuern die einzige relevante Einnahme für das Gemeindebudget bedeuten.

Die Summe egoistischer Ortsentwicklungen ergibt jedoch noch keine optimale Siedlungsstruktur für eine ganze Region – wie etwa das Beispiel Vösendorf zeigt, das dank der Shopping City Süd zu den reichsten Gemeinden Österreichs zählt. Die negativen Effekte von Europas größtem Einkaufszentrum gehen allerdings weit über die kleine Nachbargemeinde Wiens hinaus: Der Einzelhandel in den Bezirken Mödling und Baden sowie in Teilen der Bundeshauptstadt hat durch die SCS irreversiblen Schaden genommen – und die gesamte Region leidet unter der Belastung von 50.000 Autos, die täglich in das Shoppingcenter strömen. Von den Steuern der SCS entfällt auf die betroffenen Gemeinden im Umland Vösendorfs hingegen nichts. Derartige kommunalpolitische Einzelgänge können nur deshalb „erfolgreich“ verlaufen, weil die übergeordneten Landesregierungen bei der Kontrolle kommunaler Planungen oftmals politischem Druck von Gemeinden und regional bedeutsamer Investoren nachgeben – und darüber hinaus kaum effiziente regionalplanerische Vorgaben definieren.

Konkurrenz herrscht nicht nur zwischen Gemeinden – auch zwischen Bundesländern bestehen Interessenskonflikte zum Schaden der gesamträumlichen Entwicklung, für deren Lösung mangels bundespolitischer Kompetenzen keine übergeordnete Institution zuständig ist: Man denke beispielsweise an den seit Jahrzehnten währenden Wettstreit zwischen Wien und Niederösterreich um Einkaufszentren und Gewerbeparks dies- oder jenseits der gemeinsamen Grenze, der bis heute zur Suburbanisierung im Agglomerationsraum beiträgt und der Hauptstadtregion einen europäischen Spitzenwert, ja eine Überversorgung an Einzelhandelsfläche pro Einwohner beschert hat. Oder an die wechselseitige Blockade der Modernisierung der Südbahnstrecke durch die Landesregierungen von Niederösterreich und der Steiermark – wobei Graz einen Ausbau der alten Semmering-Strecke ablehnt und St. Pölten den geplanten Semmering-Tunnel naturschutzrechtlich verhindert.

Die für das hochrangige Schienennetz zuständige Bundesregierung sieht dieser landespolitischen Eigenbrötelei seit Mitte der 1990er-Jahre zu und nimmt damit immense Planungs- und Projektkosten sowie schwerwiegende verkehrs- und wirtschaftspolitische Versäumnisse in Kauf. Denn der Kapazitätsengpass auf diesem internationalen Transitkorridor führt zu weiteren Verkehrsverlagerungen auf die Straße – und schwächt wie jedes Infrastrukturdefizit den Wirtschaftsstandort Österreich.

Gesamtstaatliche Kompetenzen – im Fall des Semmering-Tunnels etwa ein Bundesnaturschutzgesetz, das einen Rahmen für die Ländergesetze bilden könnte – wären auch zur Wahrung österreichischer Interessen innerhalb der EU vonnöten. Österreich ist bei Ministerkonferenzen zu Raumordnungsthemen in Brüssel durch keinen Minister, Staatssekretär oder Sektionschef vertreten, sondern durch einen Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt sowie jenen Landeshauptmann, der gerade im Turnus der Länderkonferenz vorsteht – und sich wohl vor allem den Interessen seines Bundeslandes verpflichtet fühlt.

Offensichtlich geht der Trend aber weiter in Richtung Abbau bundespolitischer Zuständigkeit. So wurden die Autobahnen und Schnellstraßen an die Asfinag ausgelagert – und die sonstigen Bundesstraßen Anfang des Jahrzehnts den Ländern übertragen. Ähnlich verhält es sich im Schienenverkehr, wo die Verantwortung zunehmend an die privatisierten Bundesbahnen, an die EU (den transnationalen Verkehr betreffend) und an die Bundesländer (den Regionalverkehr betreffend) abgeschoben wird.

Das ist umso unverständlicher, als dem Bund nach wie vor – direkt oder über den Umweg des Finanzausgleichs – die Finanzierung der abgetretenen Aufgaben zukommt. So geben die Länder und Gemeinden Bundesgelder aus, ohne dabei an einheitliche Standards, Effizienz- oder Qualitätskriterien gebunden zu sein. Bestes Beispiel dafür sind die ausgeprägte Zersiedlung Österreichs und die damit verbundenen öffentlichen Kosten für die technische Infrastruktur. Laut Berechnungen der Österreichischen Raumordnungskonferenz aus dem Jahr 1999 (aktuellere Zahlen bestehen dazu nicht) bedeutet die weit verbreitete extensive Besiedlung durch aufgelockerte Bebauungsformen volkswirtschaftliche Mehrkosten – allein für die Errichtung und Erhaltung von Straßen, für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung – von jährlich 150 Millionen Euro im Vergleich zu einer Flächen und Infrastruktur sparenden Besiedlung. Diese Kosten entstehen in erster Linie durch die undisziplinierte Flächenwidmungsplanung sowie die fehlende Bodenpolitik der Gemeinden, werden aber – so die ÖROK-Studie – durch die kommunalen Haushalte in der Regel nur zu 16 Prozent getragen. 37 Prozent entfallen auf die Gebührenzahler – unabhängig davon, ob sie in einem dicht oder locker bebauten Teil des Gemeindegebiets leben – und 47 Prozent auf Bund und Länder.

Ähnlich verhält es sich bei den sozialen Folgekosten der Zersiedlung – etwa bei den Transportausgaben für Kindergarten- und Schulkinder, Heimhilfen, Pflegedienste oder bei der Aktion „Essen auf Rädern“: In einem stark zersiedelten Gebiet sind diese elfmal, in einem Streusiedlungsgebiet gar 23-mal so hoch wie in einem kompakten Siedlungskörper – getragen werden sie aber ohne Unterschied zu 67 Prozent vom Bund, zu 15 Prozent von den Ländern sowie zu je neun Prozent von den Gemeinden und den Leistungsempfängern.

Noch gar nicht quantifiziert wurden bisher die ökologischen Folgekosten unserer ressourcenintensiven Siedlungsentwicklung, die gemäß einer Untersuchung des Umweltbundesamtes tagtäglich 17 Hektar Boden (das entspricht 31 Fußballfeldern!) in Anspruch nimmt und von immer mehr Autoverkehr – und damit auch von immer mehr Energieverbrauch, Abgasen, Kohlendioxid und Lärm – begleitet wird. 1970 gab es in Österreich lediglich 160 Pkws pro 1000 Einwohner, bis Ende des 20. Jahrhunderts hat sich dieser Wert auf 495 mehr als verdreifacht – und seither noch weiter auf 533 erhöht.

Diese Entwicklung wird von der Politik nicht nur unzureichend bekämpft – sie wird durch Förderungen, Steuern und Gesetze geradezu forciert. An vorderer Stelle steht dabei die Wohnbauförderung in Höhe von derzeit 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, die vom Bund den Ländern zugewiesen und von diesen vergeben wird. Zwar bestehen heute in einigen Bundesländern, etwa in Vorarlberg, erste Ansätze zur Koppelung der Förderhöhe an die Standorteignung oder den Flächenverbrauch eines Wohnbaus, doch reichen die marginalen Zu- oder Abschläge bei Weitem noch nicht aus, um eine steuernde Wirkung zu erzielen. In Wien, Oberösterreich und Kärnten werden frei stehende Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese nach wie vor im selben Ausmaß unterstützt wie von öffentlichem Verkehr erschlossene Mehrfamilienhäuser. Angesichts der großen Bodenpreisdifferenzen zwischen zentralen und peripheren Lagen fungiert die Wohnbauförderung so schon seit Jahrzehnten als Motor von Zersiedlung und Suburbanisierung.

Zur Verdeutlichung: Während sich die Einwohnerzahl Wiens im Zeitraum 1971 bis 2001 um rund viereinhalb Prozent respektive um 70.000 Bürger verringert hat, nahm die Bevölkerungszahl in Umlandgemeinden wie Biedermannsdorf, Laxenburg, Münchendorf, Wiener Neudorf, Mauerbach oder Wolfsgraben um weit über 100 Prozent zu.

Noch schwerer wiegende Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur hat die direkte wie indirekte Subventionierung des Autoverkehrs, die das suburbane Wohnen, Einkaufen und Arbeiten in der heutigen Dimension überhaupt erst ermöglicht. Trotz Kfz- und Benzinsteuern, trotz Vignette, einzelnen Mautstrecken und innerstädtischen Parkgebührzonen werden die Kosten des motorisierten Individualverkehrs zu einem großen Teil von der Allgemeinheit getragen – zumal nicht nur die Ausgaben für Straßenausbau und -sanierung zu Buche schlagen, sondern beispielsweise auch die Personalkosten für die polizeiliche Straßenüberwachung, die Folgekosten von Autounfällen oder das viel zu günstige, großteils aber kostenlose Parken im öffentlichen Raum. Immens ist allein der öffentlich finanzierte Flächenverbrauch für die Verkehrsinfrastruktur: Einer Studie des Verkehrsclubs Österreich zufolge entfallen auf jeden Österreicher 238 Quadratmeter Verkehrsfläche – und täglich werden für unsere Mobilität insgesamt 2,7 Hektar Boden neu versiegelt. In Wien wird bereits ein Fünftel des gesamten Siedlungsraums von Straßen und Parkplätzen eingenommen. Sollte die österreichische Bundeshymne je einen neuen Text erhalten, müsste eine Zeile „Land der Häuschen, Land der Straßen“ lauten.

Der Substanzverlust der Kernstädte in den vergangenen beiden Jahrzehnten ist zum einen durch die Mechanismen der Suburbanisierung bedingt – zum anderen verstärken die Städte mit ihrer Planungspolitik aber auch selbst viele Fehlentwicklungen. Am Beispiel Wien ist zu beobachten, dass die übergeordneten Ziele aus den Stadtentwicklungsplänen, Verkehrskonzepten, Grüngürtel- und Klimaschutzprogrammen für eine lebenswerte, kompakte und funktional durchmischte Stadt – mit attraktiven öffentlichen Räumen, einer fußläufigen Nahversorgung und einem flächendeckenden Netz an leistungsfähigen öffentlichen Verkehrsmitteln – durch die faktische Stadtentwicklungspolitik konterkariert werden: durch subventionierte Einfamilienhaussiedlungen im Grüngürtel der Stadt, durch Wohn- und Büroviertel von enormer Dichte aber ohne entsprechende Nutzungsvielfalt, durch Einkaufszentren an der Peripherie sowie durch die Omnipräsenz des Autos im gesamten Stadtgebiet.

So hat sich Wien inzwischen einen eigenen „Speckgürtel“ innerhalb seiner Stadtgrenzen geschaffen, was sich auch an der Bevölkerungsbewegung ablesen lässt: Während die fünf großen Stadterweiterungsbezirke 10, 11, 21, 22 und 23 im Zeitraum 1991 bis 2001 um rund 59.000 Einwohner gewachsen sind, haben alle anderen Bezirke (bis auf die Brigittenau mit ihrem hohen Zuwandereranteil) Bewohner verloren – insgesamt knapp 49.000. Das Auseinanderklaffen von stadtplanerischen Zielen und planungspolitischen Entscheidungen hat selbst den österreichischen Rechnungshof im Jahr 2003 zu einer harschen Kritik an der Bundeshauptstadt veranlasst.

In ländlichen Regionen treten durchaus vergleichbare Auflösungserscheinungen der gewachsenen Siedlungskörper zutage wie in den urbanen Zentren: Abwanderung insbesondere junger Bürger, Abfluss der Kaufkraft in die Einkaufszentren im Speckgürtel der Landes- und Bezirkshauptstädte, Absterben der fußläufigen Nahversorgung, Verlust an Arbeitsplätzen zugunsten der Gewerbeparks in den Suburbanisierungsräumen, zunehmende Abhängigkeit vom Auto. Auch hier trägt die Bundespolitik Mitverantwortung an der räumlich-strukturellen Entwicklung. Die Schließung etwa von Postämtern und Gendarmerie- respektive Polizeidienststellen schwächt die ohnehin stark angegriffene Eigenständigkeit peripherer Regionen und kostet wertvolle Arbeitsplätze. Die Ausdünnung oder Einstellung von Eisenbahnverbindungen reduziert die Lebensqualität des ländlichen Raums für nicht automobile Bevölkerungsgruppen noch weiter. Und die jüngste Subventionskürzung für Ökostromanlagen betrifft einen der wenigen wirtschaftlichen Hoffnungsträger in agrarisch geprägten Gebieten.

Das Unvermögen der für die Raumordnung zuständigen Länder und Gemeinden, diese Probleme allein zu lösen, legt ein stärkeres und ganzheitliches siedlungspolitisches Engagement des Bundes nahe – wie dies auch der im Juli präsentierte Österreichische Baukulturreport fordert. Anregungen und Ermutigungen dazu bieten vergleichbare westeuropäische Staaten zur Genüge. So verfügen auch unsere beiden föderalen Nachbarn Deutschland und Schweiz selbstredend über Bundesraumordnungsgesetze und -programme – obwohl die politische Autonomie ihrer Länder respektive Kantone ungleich größer ist als in Österreich. Die helvetische Bundesraumordnung beispielsweise bezweckt keineswegs, die Kompetenzen der regionalen Gebietskörperschaften zu beschneiden, sondern schreibt lediglich Grundsätze der räumlichen Entwicklung vor. Doch verpflichtet der Bund die Kantone, ihre Planungsinstrumente konsequent anzuwenden, und behält sich vor, die kantonalen „Richtpläne“ zu genehmigen oder zurückzuweisen – und davon abhängig Gelder zu genehmigen oder verwehren.

Auch Österreichs Regionalplanung bräuchte ein Controlling auf Bundesebene, zumal die vorhandenen Qualitätssicherungsinstrumente in der Landes- und Kommunalplanung nur wenig bewirken. Seien es die Umwelt- und Raumverträglichkeitsprüfungen, die bei größeren Projekten wie Einkaufszentren, Großkinos, Müllverbrennungsanlagen oder Straßenbauten auf Druck der EU hin mittlerweile Pflicht sind – in ihren Ergebnissen aber kaum einmal überraschen, wenn die Politik hinter einem Widmungs- oder Bauvorhaben steht. Sei es die in Österreich oft nur laienhaft oder widerwillig durchgeführte Bürgerbeteiligung in der Planung, die mit einer bürgerschaftlichen Mitbestimmung und Mitgestaltung wie in der Schweiz – wo über Autobahntrassen ebenso abgestimmt wird wie über größere Flächenumwidmungen – genauso wenig gemeinsam hat wie mit der Partizipation in Deutschland, wo kommunalpolitische Beschlüsse durch Bürgerbegehren aufgehoben werden können.

Wie in Österreich hat sich auch in Deutschland die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, den massiv anwachsenden Flächenverbrauch – in der BRD rund 200 Hektar pro Tag – drastisch zu senken. Daher geben inzwischen die meisten Länder ihren Kommunen verbindliche Baulandkontingente vor, wobei im Sinne einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung Gemeinden mit leistungsfähigem öffentlichem Verkehr mehr neues Bauland zugesprochen bekommen als Gemeinden mit hoher Autoabhängigkeit. Zudem wurde die „Eigenheimförderung“ des Bundes, eine Möglichkeit zur Steuerabschreibung beim Erwerb von neuem Wohnungseigentum, im Jahr 2005 abgeschafft. Geblieben sind die Wohnraumförderungsprogramme der Länder, die – wie etwa in Nordrhein-Westfalen – ganz bewusst zur Steuerung der Siedlungsentwicklung eingesetzt werden. So ist es das vorrangige Ziel der Wohnungs- und Städtebaupolitik des Bauministeriums in Düsseldorf, die Wohnbautätigkeit in den stagnierenden Großstädten zu konzentrieren. Dazu wird zur Grundförderung von 20.000 bis 45.000 Euro ein sogenannter Stadtbonus in Höhe von weiteren 20.000 Euro gewährt, wenn Wohnraum in einer der 32 Städte des Landes geschaffen wird. Darüber hinaus genießt die Sanierung von Wohnungsbestand Vorrang gegenüber Wohnungsneubau.

Eine nachhaltige Verkehrspolitik wiederum würde hierzulande zunächst eine drastische Redimensionierung der bestehenden Autobahn- und Schnellstraßenausbaupläne bedingen. Des Weiteren müssten international erprobte Modelle der City-Maut für die heimischen Stadtzentren adaptiert – und das öffentliche Parken in allen größeren Städten flächendeckend kostenpflichtig werden. Schließlich sollte durch eine angemessene Anhebung der Benzinsteuer zumindest ansatzweise eine Kostenwahrheit im motorisierten Individualverkehr hergestellt werden. Die so zu lukrierenden beziehungsweise einzusparenden Finanzmittel müssten in den flächendeckenden Ausbau und die überfällige Attraktivierung von Bahn und Bus fließen. Auch hier kann die Schweiz als Vorbild dienen, die ihre Verkehrspolitik nicht nur an wirtschafts- und standortpolitischen Zielen, sondern zunehmend an raumordnungs-, umwelt- und klimapolitischen Vorgaben orientiert. Ursprünglich für den Straßenbau zweckgebundene Gelder fließen dort zu großen Teilen in die Schieneninfrastruktur – wobei der Bund ausdrücklich auch für den Nah- und Regionalverkehr Verantwortung zeigt und die Probleme der Agglomerationsräume nicht den Kantonen und Gemeinden überlässt. Die Legitimierung für diese Politik holte sich die Regierung beim Souverän: In einer Volksabstimmung in den 1980er-Jahren entschied sich die Schweizer Bevölkerung für eine budgetäre Bevorrangung des öffentlichen Verkehrs.

3. Dezember 2006 Spectrum

Der Dorn und die Weltkultur

Verherrlicht, verteufelt, missverstanden. Vor 80 Jahren verhieß sie eine neue Zukunft, heute steht sie unter Denkmalschutz: die klassische Moderne - in Gestalt der Dessauer Bauhaus-Bauten. Eine Nachschau in der Anhaltischen Provinz.

„Bei heller Sonne und blauem Himmel wirkt das neue Gebäude des Bauhauses als Konzentrationspunkt allen Lichtes, aller Helle. Glas, Glas, und dort, wo Wände aufsteigen, strahlen sie ihre blendend weiße Farbe aus. Ich habe noch nie einen solchen Lichtreflektor gesehen.“ 2000 staunende Gäste aus aller Welt erlebten am 4. Dezember 1926 die Eröffnung von Walter Gropius' kompromisslos modernem und funktionalem Bauhaus-Gebäude, die den Beginn einer kurzen, aber gleichwohl einzigartigen Manifestation des neuen Bauens markierte - und das in der Anhaltischen Provinz, auf halbem Weg zwischen Leipzig und Berlin.

Gegründet wurde das Bauhaus 1919 in Weimar, wo Gropius die großherzogliche Hochschule für bildende Kunst mit der großherzoglichen Kunstgewerbeschule zu einer Ausbildungsstätte völlig neuen Typs vereinigte. Nach der historischen Zäsur des Ersten Weltkriegs setzte sich das Bauhaus zum Ziel, durch neue Gestaltung Gegenstände und Räume für eine künftig humanere und sozial gerechtere Gesellschaft zu modellieren. Im Bauhaus-Programm las sich das so: „Das Endziel aller bildenden Tätigkeit ist der Bau! Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte!“

Entsprechend bunt war die Palette der Meister am Bauhaus, die von Paul Klee über Laszlo Moholy-Nagy und Lyonel Feininger bis hin zu Wassily Kandinsky reichte. Ihr Unterricht in den sogenannten Werkstätten - Tischlerei, Holz- und Steinbildhauerei, Wandmalerei, Glas- und Metallwerkstatt, Töpferei oder Weberei - brachte in nur wenigen Jahren eine Fülle an modernem Design, insbesondere für Alltagsgegenstände, hervor. 1923 präsentierte sich das Bauhaus mit seiner Ausstellung „Kunst und Technik - eine neue Einheit“ erstmals der Weltöffentlichkeit. Doch bereits ein Jahr später erzwangen die erstarkenden rechtsnationalen Parteien im Thüringer Landtag die Schließung der progressiven Kunstschule.

Der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt Dessau bot Walter Gropius daraufhin Bauland und Kapital für ein neues Schulgebäude an - und stellte zudem öffentliche Aufträge in Aussicht. Nicht zuletzt boten sich die Betriebe der aufstrebenden Industriestadt als Partner an für die Umsetzung des ehrgeizigen Bauhaus-Ziels: die künstlerische Durchdringung des Alltags mit Produkten aus kostengünstigen Industriestoffen und rationeller Serienproduktion.

Zunächst galt es allerdings, den Unterricht wieder aufzunehmen. Innerhalb nur eines Jahres entstand das neue Bauhaus-Gebäude. Ausgehend von seiner Außengestalt mit den glatten, weißen Wänden und den großflächigen Festerfronten, war schon bald von einem „Bauhaus-Stil“ die Rede, der für all das stand, was nur irgendwie modern erschien - aber auch für alles, was die breite Bevölkerung angesichts der zunehmenden Technisierung des Alltags als „unmenschlich“ empfand. Ein Beispiel für die ambivalente Rezeption der Bauhaus-Architektur ist die Siedlung Törten in Dessau-Süd. Im Auftrag der Stadt realisierte Walter Gropius zwischen 1926 und 1928 insgesamt 314 ein- und zweigeschoßige Reihenhäuser in vier unterschiedlichen Bautypen. Ziel der Versuchssiedlung war die Senkung der Baukosten durch neue Bauorganisation und Bautechnik. So sollte das Wohnungsproblem der unteren Einkommensschichten gelöst und auch weniger Begüterten der Erwerb eines Eigenheims ermöglicht werden. Normierung, Typisierung und Vorfertigung der Bauteile sowie serielle Montage durch Kräne machten die Siedlung Törten zum Prototyp des industrialisierten Wohnungsbaus.

Das ursprüngliche Erscheinungsbild der Siedlung lässt sich heute nur noch erahnen. Schon wenige Jahre nach Bezug begannen die Bewohner mit dem Umbau der Häuser. Beispielsweise ließ Gropius die straßenseitigen Fenster ursprünglich mit der Decke abschließen, um die Fenstersturze einzusparen und unterhalb der Fenster Stellfläche für Möbel zu schaffen. Die Bewohner allerdings fanden die hochliegenden Fensterbänder weder praktisch noch angenehm - und montierten konventionelle, tiefer liegende Fenster ein.

Anstelle der weißen Fassaden mit schwarzen und grauen Schatten sieht man heute alle Variationen von Heimwerker-Architektur: Holzvertäfelungen, verflieste Fassaden, Eternitverkleidungen und eine Farbvielfalt, die der Wandmalereiwerkstatt des Bauhauses zur Ehre gereicht hätte.

Andererseits betonen die Bewohner von Törten, dass die Wohnanlage auch 80 Jahre nach ihrer Errichtung unbestreitbare Vorzüge biete. Durch fließende Raumfolgen gelang es Gropius etwa, die durchschnittlich nur 70 Quadratmeter großen Wohnungen großzügig erscheinen zu lassen. Die Zimmer waren allesamt hell und verfügten über einen damals hohen Ausstattungsstandard. So findet sich in manchen Häusern noch heute die originale Zentralheizung.

Zeitgleich mit dem Bauhaus-Gebäude hatte Walter Gropius eine kleine Siedlung mit einem Einzelhaus für den Direktor und drei Doppelhäusern für die wichtigsten Meister des Bauhauses entworfen. Die ersten Bewohner waren - neben Gropius selbst - Laszlo Moholy-Nagy und Lyonel Feininger, Georg Muche und Oskar Schlemmer sowie Wassily Kandinsky und Paul Klee. Die sogenannten Meisterhäuser waren großzügig angelegte Stadtvillen mit Terrassen und Balkonen - sowie einer Innenausstattung, die jahrzehntelang für modernes Wohnen Maßstab gebend war.

Trotz zahlreicher Realisierungen architektonischer Projekte und der internationalen Anerkennung der künstlerischen Ausbildung trat Walter Gropius 1928 als Bauhaus-Direktor zurück. Schon bald hatte auch in Dessau politischer Druck eingesetzt - was ihn ebenso zermürbte, wie interne Querelen um die künftige Ausrichtung des Bauhauses. Mit Gropius verließen unter anderen auch Laszlo Moholy-Nagy und Marcel Breuer die Stadt. Neuer Direktor wurde der Schweizer Hannes Meyer, dessen Devise, „Volksbedarf statt Luxusbedarf“, für das Bauhaus nicht nur einen programmatischen Wechsel, nämlich die ausschließliche Hinwendung zu Entwurf und Design für die kostengünstige Massenproduktion, sondern auch eine eindeutige gesellschaftspolitische Positionierung bedeutete.

Meyer, bald als Kommunist verrufen, wurde 1930 durch Ludwig Mies van der Rohe abgelöst, der das Bauhaus zu einer völlig unpolitischen, ganz auf die Architektur bezogenen Ausbildungsstätte umstrukturierte - angesichts der politischen Radikalisierung Deutschlands die einzige Chance, den Betrieb aufrecht zu halten.

Dennoch ordnete die nationalsozialistische Mehrheit im Dessauer Stadtrat 1932 die Schließung des Bauhauses an, worauf Mies van der Rohe es in Berlin als Privatinstitut weiter führte. Nach einer Durchsuchung durch die Gestapo im Juli 1933 entschied sich das Lehrerkollegium allerdings für die Selbstauflösung der Kunstschule. Der Mythos des Bauhauses besagte lange Zeit, dass seine Protagonisten allesamt vor den Nazis fliehen mussten. Erst in den Neunzigerjahren brachte der Münchner Architekturhistoriker Winfried Nerdinger zutage, dass dies zwar für den großen Teil der jüdischen und sozialistischen Bauhäusler zutraf, mitnichten aber für die Protagonisten Gropius und Mies van der Rohe. Beide dienten sich dem NS-Regime an, versahen ihre Architekturentwürfe mit Hakenkreuzfahnen und hofften, dass die Moderne in Hitler-Deutschland eine ähnliche Rolle spielen könnte wie in Mussolinis Italien. Erst als sich der Antimodernismus des Nationalsozialismus als unumstößlich erwies, verließen auch die zwei ehemaligen Bauhaus-Direktoren das Land.

Die Missachtung der Bauhaus-Architektur setzte sich nach 1945 durch das DDR-Regime fort, sodass die im Zweiten Weltkrieg teils schwer zerstörten Bauten in Dessau - wenn überhaupt - nur notdürftig und ohne architekturhistorische Bedachtnahme instand gesetzt wurden. Die klassische Moderne schien jedweder totalitären Ideologie ein Dorn im Auge zu sein. So dauerte es bis in die Siebzigerjahre, dass man sich dazu durchrang, zumindest das Bauhaus-Gebäude adäquat zu renovieren oder vielmehr zu rekonstruieren - wobei sich die ostdeutschen Experten am Klischee der weißen Moderne orientierten und es damit noch verfestigten. Erst nach Wende und Wiedervereinigung war der Weg frei für eine fundierte Aufarbeitung des baulichen Erbes - sowie für teure Sanierungsmaßnahmen, zumal die Politik inzwischen das touristische Potenzial des Bauhauses entdeckt hatte.

Von den Wissenschaftlern am Bauhaus wird der heutige Umgang mit den Zeugnissen der Moderne durchaus ambivalent bewertet. Denn seit die Unesco 1996 das Bauhaus-Gebäude und die Meisterhäuser - respektive das, was nach den Bomben des Zweiten Weltkriegs davon übrig geblieben ist - zum Weltkulturerbe erklärt hat, kennt der Rekonstruktionseifer lokaler Politiker und potenter Sponsoren kaum noch Grenzen. So gibt es inzwischen Pläne, unter anderem auch das Direktorenhaus neu zu errichten. Doch steht auf den Grundfesten der einstigen Villa von Walter Gropius seit den Fünfzigerjahren ein biederes Wohnhaus, das dafür abgerissen werden müsste. Vorsorglich hat die Stadt Dessau es bereits angekauft. Das Pikante daran ist allerdings, dass sich der Bauherr ursprünglich gern an den Stil der Gropius-Villa angelehnt hätte, das Rathaus ihm dies damals aber verwehrt - und ein konventionelles Gebäude mit Walmdach verordnet hatte. Damit stellt sich die Frage, was das wichtigere Denkmal für das Bauhaus wäre: ein Gropius-Remake à la Dresdner Frauenkirche und Berliner Stadtschloss - oder ein authentisches Zeichen des bis heute währenden Kampfs der Moderne gegen eine reaktionäre Gesellschaft und eine opportunistische Politik. [*]

[ 1970 in Oberösterreich geboren. Studium der Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien, Dipl.-Ing. Arbeitet als Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien. Kommenden Jänner erscheint im Verlag Anton Pustet sein Buch „Wer baut Wien?“. ]

3. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Eine Welt im Umbruch

Einschneidende architektonische und städtebauliche Entwicklungen in Iran

Die Städte in Iran durchleben derzeit dramatische Veränderungen. In Teheran werden ganze Quartiere der Bauspekulation geopfert. Hochhäuser und monströse Stadtautobahnen zerstören traditionelle Strukturen und prägen das Stadtbild immer mehr. Auch in der Provinz wird wenig gegen den Wildwuchs unternommen. Zwar soll das historische Zentrum von Yazd, einer der ältesten Städte Persiens, zum Weltkulturerbe ernannt werden. Gegen den Verfall der Altstadt aber wird dennoch kaum etwas unternommen.

Wie viele Menschen in Teheran leben, lässt sich - wie bei den meisten Metropolen der Zweiten und Dritten Welt - auch bei der iranischen Hauptstadt nicht genau feststellen. Bei der Volkszählung von 1992 waren es offiziell 7,2 Millionen, heute dürfte die Zahl knapp doppelt so hoch sein. Zudem pendeln täglich ungezählte Menschen aus der umliegenden Region in die Megacity. Hunderttausende kommen allein aus dem vierzig Kilometer entfernten Karaj - noch vor zwanzig Jahren eine Kleinstadt, heute ein Siedlungsbrei mit 3 Millionen Einwohnern. Anders als die demographische Entwicklung ist die Zunahme des Autobestands in Teheran relativ exakt dokumentiert: Rund 230 000 Fahrzeuge werden pro Jahr neu in Betrieb genommen. Sie verschärfen die Situation in der ohnehin schon verkehrsüberlasteten Stadt zusehends. Dabei ist Teheran, das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Irans, ein durch und durch modernes Gebilde, das nicht von Altstadtgassen, sondern von einem grosszügigen Strassenraster geprägt wird. Trotzdem sind selbst am späteren Abend noch fünfspurige Einbahnstrassen heillos verstopft.

Vom Auto erstickte Urbanität

Die Autos verdrängen das Leben aus dem öffentlichen Raum: Vielerorts bilden hohe Fussgängerbrücken die einzige Möglichkeit für Passanten, die Fahrbahn sicher zu queren. Radfahren wird zum Vabanquespiel. «Der Verkehr hat totale Formen angenommen», so schildert die auf Architektur und Stadtplanung spezialisierte Publizistin Soheila Beski die dramatische Entwicklung. «Die vielen Autos haben Teheran so gross und gleichzeitig so klein gemacht, dass man an einem Tag nirgendwo anders mehr hinfahren kann als von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück.» Der Autoverkehr bringt die Stadt um das, was sie attraktiv macht - um ihr vielfältiges Angebot, um ihre Urbanität.

Was noch schwerer wiegt, sind die Folgen für Umwelt und Gesundheit. Die vorherrschende Wetterlage in Teheran heisst seit Jahren schon Smog. So gilt der erste morgendliche Blick vieler Bürger den über 5000 Meter hohen Gipfeln des Elburs-Gebirges, über dessen Abhänge sich die iranische Hauptstadt erstreckt. In den südlichen, auf 1100 Metern über Meer liegenden Stadtteilen nimmt man die schneebedeckten Bergspitzen ohnehin meist nur schemenhaft wahr. Ist die nahe Gebirgskette aber auch in den nördlichen, reicheren, auf bis zu 1800 Höhenmetern gelegenen Wohnvierteln kaum sichtbar, dann empfiehlt es sich, zumindest die Kinder im Haus zu lassen. Die ökologischen Massnahmen der Stadtregierung beschränken sich im Wesentlichen auf eine Prämie für jene, die ihr altes Auto durch ein neues ersetzen. Dass die zahllosen Russschleudern der Marken Paykan oder Peugeot 405 deshalb von den Strassen verschwinden, ist jedoch eine Illusion. Bei Benzinpreisen von umgerechnet 35 Rappen pro Liter können sich auch weniger begüterte Teheraner einen fahrbaren Untersatz leisten; und für Tausende illegaler Taxifahrer stellt das eigene Auto die einzige Einkommensquelle dar. Deren Service kompensiert das schlechte Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln in Teheran.

Omnibusse stecken noch länger im Stau als Privatautos, da sie nicht spontan auf weniger verstopfte Routen ausweichen können. Und das Metronetz der Stadt beschränkt sich auf eine 2003 fertiggestellte Nord-Süd-Achse und eine noch im Bau befindliche Ost-West-Verbindung. Dazu kommt die eingleisige Regionalbahn nach Karaj. «Eine seriöse Verkehrspolitik für den Grossraum Teheran gibt es ebenso wenig wie eine brauchbare Siedlungspolitik», stellt Firuz Tofigh, vor der Machtübernahme Khomeinys 1979 Minister für Stadtentwicklung, fest. Seit 2002 leitet er das neu gegründete Center of Planning and Studies, das für die Stadt Teheran Daten und Modelle zum Aufbau einer strategischen Stadtentwicklungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik erarbeiten soll. «Solch ein ‹Planning Support System› bestand in anderer Form schon vor der Revolution, als die Stadtplanung noch stärker von kompetenten Beamten bestimmt war. Seit 1979 wird die Stadtentwicklung aber von der Politik dominiert - und von Ad-hoc-Lösungen, da der Masterplan von 1993 nichts mit der Realität zu tun hat.»

Eine Realität ist, dass die Stadtplanung nicht mehr an den Grenzen Teherans enden darf, sondern den gesamten Ballungsraum einbeziehen muss. Denn nicht nur die Hauptstadt erlebte (vor allem seit dem Iran-Irak-Krieg 1980-1988) einen steten Zuzug aus den ländlichen Gebieten des heute 70 Millionen Einwohner zählenden Staates: Auch und vor allem in der Peripherie von Teheran fanden die Migranten Bauland. «Das Fatale daran ist, dass nur 15 bis 20 Prozent des Staatsgebiets fruchtbar sind - insbesondere natürlich das Land rings um die gewachsenen Zentren», erklärt Firuz Tofigh. «Damit frisst die Ausdehnung unserer Stadtregionen die kostbarsten Böden auf.» So werden Teheran und Karaj mittelfristig zusammenwachsen. Gemeinsame Planungen lassen sich deshalb aber nicht unbedingt leichter gestalten, zumal die iranische Hauptstadt keinen politischen Einfluss auf die sie umgebenden Städte und Provinzen geltend machen kann. Dennoch arbeitete die Teheraner Stadtplanung jüngst erstmals einen umfassenden Agglomerationsplan aus, der auch fünf bereits in Bau befindliche Neustädte für jeweils 500 000 Menschen im Umkreis der Metropole umfasst.

«Ändern wird auch dieser Plan nichts an den Problemen Teherans», meint Jahanshah Pakzad, Professor für Stadtgestaltung an der Shahid- Beheshti-Universität Teheran, skeptisch. Wirkliche Verbesserungen sind für den Planer, der sein Studium in Hannover absolvierte, nur durch eine Demokratisierung der Stadtplanung möglich: «Vor einigen Jahren wurde den Stadtbezirken bis hinunter zu den einzelnen Nachbarschaften mehr Selbstbestimmung eingeräumt - allerdings nur auf dem Papier. Denn die direkten Wahlen der lokalen Ratsversammlungen fanden bis heute nicht statt.» Der Sieg der Konservativen bei den Kommunalwahlen 2003 hat auch in der Stadtentwicklung jene Aufbruchstimmung, die zunächst herrschte, als es schien, dass die Anliegen der Bevölkerung stärker Berücksichtigung fänden, fast gänzlich abklingen - und die urbanistischen Missstände weiter bestehen lassen. «Das grundlegende Übel ist der Ausverkauf Teherans an Investoren und Spekulanten, der unter Bürgermeister Karbastshi begann und bis heute andauert», urteilt Jahanshah Pakzad. «Dadurch verliert die Stadt mehr und mehr ihren Charakter.»

Blindwütiger Hochhausbau

In Karbastshis Amtszeit (1987-1997) fielen der Bau monströser Stadtautobahnen, dem unter anderem ein ganzer Bezirk südlich des Basars geopfert wurde, sowie die Errichtung zahlreicher Hochhäuser, die in völligem Wildwuchs traditionelle Strukturen zerstörten. «Wenn die Pläne für ein Gebiet eine Überbauung von maximal 100 Prozent vorsahen, ein Projektentwickler aber eine Dichte von 400 Prozent wollte, erhielt er gegen eine entsprechende Abgeltung flugs die gewünschte Genehmigung», so illustriert Pakzad die Stadtplanung nach Teheraner Art. Andererseits sorgte Karbastshi für die Errichtung von Kulturzentren und öffentlichen Parks, wodurch auch ärmere Bezirke aufgewertet wurden. Kennzeichnend war in jedem Fall seine «pragmatische» Vorgehensweise - oft informell und an den Mühlen der Bürokratie vorbei. Dies erlaubte ihm, die im postrevolutionären Iran übliche Vorlaufzeit von Grossprojekten von durchschnittlich 14 Jahren zu verkürzen - brachte aber schliesslich den allmächtigen Staatsapparat gegen den eigenwilligen Kommunalpolitiker auf: 1998 wurde der Bürgermeister wegen «Missbrauchs öffentlicher Mittel» und «schlechter Amtsführung» zu fünf Jahren Haft, 60 Peitschenhieben sowie einer hohen Geldstrafe verurteilt - und mit einem zwanzigjährigen Arbeitsverbot für öffentliche Ämter bestraft.

An der Stadtentwicklung änderte sich durch die Ablösung Karbastshis erwartungsgemäss wenig. Nach wie vor werden Strassenschneisen durch die Stadt geschlagen - ohne Beachtung der Topographie, ohne Rücksicht auf die bestehende Bebauung. Inmitten von Siedlungen finden sich in Teheran und Umgebung Brückenbauten als Vorboten neuer Autobahnen, denen die hier Ansässigen wohl schon bald weichen müssen. Der Sinn immer neuer Zubringer und Verteiler für noch mehr Autos ist angesichts des täglich vor dem Infarkt stehenden Strassennetzes jedenfalls mehr als zweifelhaft. Auch Wolkenkratzer wachsen weiter aus dem Boden, ungeachtet der steigenden Zahl an Invest-Ruinen: Gleich an mehreren Orten der Stadt ragen turmhohe Stahlskelette empor, die aus Spekulation begonnen wurden - aber mangels ausreichender Finanzierung und Nachfrage wohl nie vollendet werden. «Erst vor kurzem wieder hat man einige Villen aus den fünfziger Jahren im amerikanischen Stil unweit des ehemaligen Schah-Palasts weggerissen, um Platz für Hochhäuser zu schaffen», wie Soheila Beski den blindwütigen Kahlschlag beklagt. Zwar berichtet die Herausgeberin der Stadtplanungszeitschrift «Shahr» und des Architekturmagazins «Me'mar» über urbanistische Fehlentwicklungen wie diese - was vor dem Wahlsieg von Staatspräsident Khatami 1997 völlig undenkbar gewesen wäre. Mediale Kritik an den verantwortlichen Planungspolitikern ist aber nach wie vor kaum möglich.

Bedrohtes Bauerbe in der Provinz

«Etwas offener verlaufen die fachlichen Debatten abseits der geistlichen und politischen Zentren des Landes», sagt Stephan Schwarz. Der österreichische Architekt und sein persischer Kollege Nariman Mansouri betreiben die wissenschaftlich-kulturelle Initiative «X-Change», die sich unter anderem für architektonischen und stadtplanerischen Erfahrungsaustausch zwischen Europa und dem seit 25 Jahren isolierten Iran engagiert. Eines ihrer jüngsten Projekte fand in der rund 400 000 Einwohner zählenden Wüstenstadt Yazd, 700 Kilometer südöstlich von Teheran, statt. Yazd ist eine der ältesten Städte Persiens und hat seit dem verheerenden Erdbeben in Bam 2003 noch mehr an baugeschichtlicher Bedeutung gewonnen. So bemühen sich Kommunalpolitik und Verwaltung um die Ernennung des historischen Zentrums zum Weltkulturerbe durch die Unesco. «Gleichzeitig unternehmen sie aber nichts, um den Verfall der Altstadt zu stoppen», bemängelt der 1984 nach Wien emigrierte Mansouri. «Im Gegenteil, sie tragen zum Niedergang des baulichen Erbes bei.»

Auf den ersten Blick wirkt die kleinteilige Innenstadt mit ihren 700 bis 800 Lehmhäusern noch weitgehend intakt. Die engen Strassen verzweigen sich in verwinkelte Gassen, die in kleine Quartiere mit gemeinschaftlich genutzten Brunnen führen. Da sich die Wohnbauten - wie in allen Wüstengebieten - gegenüber dem öffentlichen Raum abschotten, fällt erst nach genauerem Hinsehen auf, dass hinter vielen noch unversehrten Aussenmauern nur mehr Schutthaufen vom einstigen Leben zeugen. In günstigen Lagen, etwa im Umfeld der Freitagsmoschee oder nahe dem grossen Basar, sind die Lehmhäuser noch bewohnt. Mit zunehmender Entfernung von den Zentren steigt allerdings die Zahl verlassener und verfallener Bauten. Die Gründe, warum diese traditionelle Wohn- und Siedlungsform von immer mehr Iranern - nicht allein in Yazd - aufgegeben wird, sind vielfältig. Zum einen müssen Lehmhäuser regelmässig instand gehalten werden: Bei all seinen klimatechnischen, ökologischen und ökonomischen Vorzügen ist das Lehm-Stroh-Gemenge selbstverständlich nicht das dauerhafteste und witterungsbeständigste Baumaterial. Zum anderen haben heute viele Menschen oft nicht mehr die Zeit und auch nicht die Fertigkeit, ihre Häuser zu warten. Und um sie von anderen erhalten zu lassen, dazu reicht das Geld nicht aus.

Schliesslich wünschen sich die Bewohner natürlich auch zeitgemässen Komfort - von modernen Elektro-, Wasser- und Abwasserinstallationen über Telefon und Fernsehen bis hin zum Internetanschluss. Dies in den alten Lehmhäusern nachzurüsten, ist oft schwieriger, als ein neues Häuschen am Stadtrand zu bauen. Von manchen wird auch als Problem genannt, dass die dunklen Altstadtgassen unsicher seien - und dass im Notfall nicht einmal ein Rettungswagen durchfahren könne. Dies führt zu einem weiteren, offenbar wesentlichen Manko des traditionellen, für Fussgänger konzipierten Städtebaus: Die engen, zwei bis höchstens drei Meter breiten Strassen sind für das zunehmend beliebte Automobil völlig ungeeignet. Durch die Altstadt von Yazd zu fahren, ohne die eine oder andere Hauskante zu beschädigen, ist schier unmöglich - von einer Zufahrt bis zur Haustür oder einem Parkplatz ganz zu schweigen.

Eine letzte Ursache für den Niedergang der Altstadt lag in der Zuteilung leerstehender Häuser an afghanische Kriegsflüchtlinge - ohne jegliche Betreuung oder Unterstützung. Diese Fremden hatten keine Erfahrung in der Pflege der Bauten; zudem fehlten ihnen Mittel und Motivation, in den Erhalt ihrer Unterkünfte zu investieren - denn die Dauer ihres Aufenthalts in Iran war ungewiss. Der fortschreitende Verfall dieser Flüchtlingsquartiere beeinträchtigte schliesslich auch benachbarte Wohnbauten. - «Die Kommune zeigte sich über die grossflächige Verödung der Altstadt zunächst gar nicht so unglücklich, da ihr dadurch der Ankauf und die Sanierung ganzer Baublöcke möglich schienen», erinnert sich Stephan Schwarz. «Dann aber erkannte man, dass eine dauerhafte Rettung alter Bausubstanz private Initiative und vor allem wirtschaftliche Nutzungen braucht.» Trotzdem gibt es nach wie vor keinerlei Subventionen für Renovierungen durch Private. Lediglich im Falle museal genutzter Baudenkmäler sowie einiger für den Tourismus adaptierter Bauten gelangen bisher erfolgreiche Rekonstruktionen. «So konzentrierte sich die Stadtverwaltung zuletzt auf die Modernisierung des öffentlichen Raums», berichtet Architekt Nariman Mansouri nicht ohne Verbitterung. «Manche Strassen hat man um mehr als das Doppelte verbreitert, wofür marode Lehmhäuser zeilenweise weggeschoben wurden - nur damit nun Autos ungehindert fahren und parken können.»

Nach demselben Schema wurden grosse Plätze inmitten der Altstadt geschaffen: Spielplätze, begrünte Plätze, aber auch Parkplätze - obwohl die kaum beschatteten Flächen im langen Sommer tagsüber nicht nutzbar sind. Entlang der breiten Strassen und Plätze wird mittlerweile höher (dreigeschossig statt bisher überwiegend eingeschossig) und auch anders gebaut: mit gebrannten Ziegeln und grossen Fensteröffnungen, was wiederum energieintensive Klimaanlagen erfordert. Damit geht mit der Zeit nicht nur der einheitliche Charakter der Altstadt von Yazd verloren, dies bedeutet auch das Ende eines über Jahrhunderte bewährten nachhaltigen Stadtmodells.

[ Reinhard Seiss ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien. ]

6. August 2005 Spectrum

Sechs Meter Leben

Entwickelt wurde sie in Frankreich, ihre Vorläufer stammen aus Deutschland, ihr massenhafter Einsatz aber ging vor gut 50 Jahren von der Sowjetunion aus: die „Platte“ - eine kleine Kulturgeschichte des industriellen Wohnbaus.

Genossen! Der Erfolg der Industrialisierung im Bauwesen, die Verbesserung der Qualität und die Senkung der Baukosten hängen in erheblichem Maße von der Arbeit der Architekten und Konstrukteure ab. Wir können nicht dulden, dass sich der Bauablauf häufig wegen der langsamen Arbeit der Entwurfsbüros verzögert und bisweilen an einfachen Gebäuden zwei Jahre lang und länger herumprojektiert wird. Um erfolgreich und schnell zu bauen, muss das Bauen nach Typenentwürfen vor sich gehen." Mit seiner Rede vom 7. Dezember 1954 auf der Unionskonferenz der Baufachleute der UdSSR beendete Nikita Chruschtschow die verschwenderische Ära der stalinistischen Architektur, in der an den Bedürfnissen der verarmten sowjetischen Gesellschaft vielfach vorbeigeplant wurde. Stalin hatte Millionen Obdachlose hinterlassen, weshalb sein Nachfolger die rasche Linderung der ärgsten Wohnungsnot durch billige Plattenbauten forderte: „Die weitgehende Anwendung von Konstruktionen aus Stahlbeton und Großformatblöcken macht eine Loslösung von den veralteten Projektierungsmethoden erforderlich. Wir sind nicht gegen Schönheit, jedoch gegen alle Arten von Überflüssigkeiten!“

Die sogenannten Chruschtschowkis, vier- und fünfgeschoßige Plattenbauten, prägten schon wenig später die gesamte UdSSR: Im europäischen Landesteil dienten sie dem Wiederaufbau der 1700 im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte - und Sibirien wurde durch die Platte erst so richtig urbanisiert. Nach sowjetischem Vorbild setzten auch die Bruderstaaten Osteuropas auf den industriellen Wohnbau, sodass die bald allgegenwärtigen Plattenbausiedlungen in ihrer Uniformität zum Synonym für das kommunistische Gesellschaftsmodell wurden.

Dabei war die Platte keine Erfindung des Ostens. Als ihre Vordenker gelten die Pioniere des „Neuen Bauens“ der Zwanziger- und Dreißigerjahre - etwa das Bauhaus um Walter Gropius. Dieser ließ in der Versuchssiedlung Dessau-Törten bereits 1926 mehr als 300 Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Bauteilen montieren. Standardisierte Betonsegmente wurden auf Schienen zur Baustelle gebracht und dort von Kränen zusammengesetzt. Ähnlich erfolgte die Errichtung der Frankfurter Römerstadt durch Architekt Ernst May.

Serienreife erlangte die Plattenbauweise aber erst im mehrgeschoßigen Massenwohnbau. Um die große Wohnungsnot zu lindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westeuropa herrschte, brauchte es eine Methode, um rasch und günstig möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Der Pariser Architekt Raymond Camus entwickelte 1948 das erste komplett industrialisierte Wohnbausystem auf Basis seriell produzierter Betonplatten, die in einer Art Schachtelbauweise übereinander gestapelt wurden. Camus optimierte auch die Baustellenlogistik, sodass die städtebauliche Gestalt vieler Großsiedlungen fortan durch technische Grenzwerte geprägt wurde: Die Größe der Platte bestimmte die Gebäudetiefe - ihre Tragfähigkeit wiederum gab die Geschoßanzahl vor. Und der Abstand zwischen den Gebäuden resultierte aus den Radien der Montagekräne. Nicht nur in französischen Vorstädten entstand dadurch eine Vielzahl nüchterner, eintöniger Wohngebiete - das Camus-System wurde Anfang der Sechzigerjahre auch in die französischen Kolonien, nach Skandinavien, in die Niederlande, nach Westdeutschland und Österreich exportiert.

In Wien wurden ab 1962 vor allem große Gemeindebaukomplexe am Stadtrand als Plattenbauten errichtet. Die erste Siedlung entstand an der Erzherzog-Karl-Straße im 22. Bezirk, die größte Stadterweiterung dieser Art stellte die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk dar. Bis Mitte der Siebziger folgten noch „Schlafstädte“ wie die Wohnanlage auf den Trabrenngründen in Wien-Donaustadt oder die Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost in Favoriten. Die eigens gegründete Montagebau Wien Ges. m. b. H. errichtete sogenannte Wohnungsfabriken in unmittelbarer Nähe der Großbaustellen, um die Transportwege für die vorgefertigten Betonplatten kurz zu halten. Anfänglich ordnete man die vier- beziehungsweise neungeschoßigen Gebäude in parallelen Zeilen an. Später wurden die Plattenbauten mit bis zu 16 Geschoßen - im Bemühen um mehr Abwechslung - auch im rechten Winkel oder diagonal aufgestellt, mäanderförmig oder hofartig gruppiert. Wie die meisten anderen westeuropäischen Städte musste aber auch Wien schließlich erkennen, dass der Montagebau nicht günstiger kommt als etwa die Scheiben- oder Skelettbauweise - und die Platte mit ihrer Gleichförmigkeit und Starrheit kaum befriedigende städtebauliche Lösungen ermöglicht.

Osteuropa hingegen setzte weiterhin auf die Betonplatte. Ein Umstieg wäre hier auch ungleich schwerer gefallen, zumal jahrelang ausschließlich Plattenbauten errichtet wurden. Vor allem um Infrastruktur - sprich Straßen und Tramwayschienen, Wasser- und Kanalleitungen - zu sparen, baute man in der Ära Breschnew immer höher und dichter. Ab den Siebzigern entstanden elf- und 16-geschoßige Wohnscheiben sowie 16- und 22-stöckige Punkthochhäuser, die wahrlich monströse Gebäudeschluchten erzeugten. Die Qualität der Platten, die Gestaltung der Freiräume sowie die Versorgung der Siedlungen ließen speziell in den Achtzigern angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs im Comecon immer mehr nach. Immerhin gab es in der UdSSR eine gewisse typologische Vielfalt: Angepasst an die unterschiedlichen Klimazonen im größten Land der Erde, wurden vier unterschiedliche Plattenbausysteme entwickelt. Dies ermöglichte auch den Export der Platte in die gesamte sozialistische Welt - von Vietnam über Angola bis nach Kuba.

In der DDR kam dem Wohnbauprogramm eine geradezu identitätsstiftende Funktion zu. Die Lösung der Wohnungsknappheit durch Neubauten galt als eines der obersten Ziele der Regierung - während sie historische Altstädte und ausgedehnte Gründerzeitviertel als Zeugnisse der bürgerlich-kapitalistischen Vergangenheit verfallen ließ. Mit der Platte sollte ab 1955 das in der Verfassung verankerte „Recht auf Wohnen“ verwirklicht werden. Bereits vier Jahre später wurden 80 Prozent aller Neubauwohnungen in Montagebauweise errichtet. Das Prestigeprojekt schlechthin war der Bau des Ostberliner Stadtteils Marzahn für 160.000 Einwohner. In einem Akt nationaler Kraftanstrengung wurden zwischen 1977 und 1987 Platten aus allen Teilen des Landes zur größten zusammenhängenden Neubausiedlung Deutschlands montiert.

Die dabei verwendete Wohnbauserie WBS70 war ein Meisterstück an Normierung und Standardisierung - und kam in der gesamten Republik zum Einsatz. Das heißt, jede DDR-Wohnung aus den Siebzigern und Achtzigern basierte auf denselben Grundelementen: Sechs Meter breite Platten ergaben sechs oder zwölf Meter breite Wohnungen, mit (oder ohne) sechs Meter breiten Loggien. Egal ob Einraum- oder Vierraumwohnung - jedes Wandelement hatte an denselben Stellen dieselben, gleich großen Öffnungen für Fenster oder Türen. Jeder Platte wurden bereits im Betonwerk dieselben Installationsrohre eingegossen, deren Auslässe für Wasser und Strom identisch positioniert waren. So waren Plattenbaubewohner kaum mehr verwundert, wenn sie in fremde Wohnungen kamen und feststellten, dass diese - zwangsläufig - exakt so eingerichtet waren wie die eigenen.

Lediglich bei der Außengestaltung bemühten sich die Plattenkombinate der 16 DDR-Bezirke um etwas Differenzierung durch den Einsatz regionaltypischer Materialien. So wurden an der Ostsee einige Reihen Klinker auf die Platten geklebt, in Sachsen Sandstein und im Erzgebirge Schiefer.

In den Achtzigerjahren, als die gebaute Monotonie endlich als Problem erkannt wurde, gab es Versuche zur Verniedlichung der Platte. Nun wurden Erker eingesetzt - natürlich normiert und typisiert - oder Dachschrägen vorgetäuscht, um die nüchternen Flachdächer der Plattenbauten zu kaschieren. Im Berliner Nikolai-Viertel versuchte man gar, historische Straßenzüge mit Plattenbauten zu rekonstruieren. Gleichzeitig schlug sich die ökonomische Krise des Ostblocks auch im DDR-Wohnbau nieder. Wohl einzigartig auf der Welt begann man in den Achtzigerjahren, sechsgeschoßige Bauten aus Kostengründen ohne Aufzüge zu errichten. Und die ohnehin schon knapp bemessenen Wohnungen wurden nun noch kleiner.

Heute ist die Platte weltweit ein Sanierungsfall - ästhetisch, vor allem aber aufgrund der schlechten Wärmedämmung. Egal ob in Nowosibirsk oder in der Großfeldsiedlung. Was nicht bedeutet, dass Plattenbauten nach technischer und gestalterischer Aufwertung nicht wieder zeitgemäße Wohnqualität bieten können. Die Ostberliner Großsiedlung Hellersdorf dient seit Mitte der Neunziger als internationales Modell für eine gelungene Modernisierung. Die GUS-Staaten setzen sogar weiterhin auf die Platte: Allein in Moskau sind seit 1991 rund 200.000 Plattenbauwohnungen neu entstanden. Und Taschkent deckt nach wie vor 60 Prozent seines Wohnbauvolumens durch Plattenbauten ab. Zum Teil auch zwangsläufig - denn nach vier Jahrzehnten ausschließlich industriellen Bauens fehlt es an Bauhandwerkern, die andere Bauformen beherrschen: Berufe wie Maurer, Zimmermann, Dachdecker oder Spengler sind in der Sowjetunion quasi ausgestorben.

Andererseits sind die Großsiedlungen heute auch dem massiven Schrumpfungsprozess europäischer Städte unterworfen. In Ostdeutschland stehen mehr als eine Million Wohnungen leer, viele davon in Plattenbaugebieten. Deshalb arbeitet man nun am geordneten Rückbau der Siedlungen, ehe sie unkontrolliert brachfallen. In Cottbus werden Hochhäuser demontiert und mit ihren Platten an Ort und Stelle Stadtvillen errichtet. In Dresden und Magdeburg baut man sechsgeschoßige Wohnscheiben zu hochwertigen Reihenhäusern um. Manche Viertel werden mangels Wohnungsnachfrage aber auch gänzlich abgerissen _ wobei deren Platten ebenso Verwendung finden: Ein holländisches Bauunternehmen bezieht von zwei Magdeburger Wohnungsbaugesellschaften alte Betonplatten, um damit Ackerstraßen und Silos für niederländische Landwirte zu bauen.

In Österreich, dem Land der Häuslbauer, erlebt die Platte in anderer Form seit Anfang der Neunziger eine Renaissance, die - mit Ausnahme Skandinaviens - in Europa ihresgleichen sucht. Jedes dritte Einfamilienhaus besteht mittlerweile aus Fertigteilen. Deren bauphysikalische Qualität ist natürlich nicht vergleichbar mit den schlichten Betonplatten von einst. Nicht vergleichbar ist mittlerweile auch die Produktvielfalt: Selbst ausgefallene Grundrisse können durch die breite Palette an vorgefertigten Modulen realisiert werden. Manche Hersteller offerieren sogar farbpsychologische Beratung oder eine Planung nach Feng-Shui-Kriterien. Bei einer derartigen Differenzierung des Angebots wäre vielleicht auch dem Plattenbau der Vergangenheit mehr Erfolg beschieden gewesen. ?

7. Februar 2004 Spectrum

Licht, Luft, Autobahn

Wenn man statt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab. Wiens kommunaler Wohnbau: Was blieb vom Roten Wien?

In den Zwanziger- und Dreißiger jahren baute die Gemeinde Wien Wohnungen für einen neuen Menschen - den selbstbewussten, gesunden und sich bildenden Arbeiter", schreibt Harry Glück. „Heute schafft man Wohnraum für den konsumierenden Arbeiter, der am Wochenende mit dem Auto zu seinem Zweitwohnsitz im Grünen fährt.“ Glück, der in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren so viele Wohnungen wie kaum ein anderer Architekt in Wien realisierte, vermisst gegenwärtig jene gesellschaftspolitischen Visionen, die in der Zeit des Roten Wien das wohl erstaunlichste und erfolgreichste Wohnbauprogramm der Welt begründeten.

64.000 kommunale Wohnungen entstanden nach dem Niedergang der Monarchie innerhalb von nur 15 Jahren sozialdemokratischer Stadtregierung in der bis dahin von unhygienischen Massenquartieren und spekulativem Mietwucher gekennzeichneten 2,2-Millionen-Metropole. Dabei verfügte die Stadt zunächst weder über die nötigen Budgetmittel noch über die erforderlichen Grundstücke, um in größerem Stil Gemeindebauten zu errichten. Erst mit der Abtrennung von Niederösterreich 1922 konnte Wien als nun selbstständiges Bundesland die rechtlichen und fiskalischen Voraussetzungen für sein Wohnbauprogramm schaffen. Durch die Einnahmen aus Luxussteuer, Wertzuwachssteuer und Wohnbausteuer wurde es möglich, den Ankauf von Bauland von anfänglich zwei bis drei Hektar pro Jahr auf 412 Hektar im Jahr 1927 zu steigern - und ab 1923 jährlich 5000 Wohneinheiten zu bauen.

Erlaubte die Bauordnung vor 1919 einen Verbauungsgrad von bis zu 85 Prozent, so wurde dieser Wert von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zunächst auf 60 Prozent reduziert, um die Besonnung aller Wohnungen sowie ausreichend Freiraum zu gewährleisten. Später, errechnete der Wiener Architekt Peter Marchart, sank der Bebauungsgrad bis auf 24 Prozent - etwa beim George-Washington-Hof, mit mehr als 10.000 Bewohnern einer der sogenannten „Superblocks“ des Roten Wien. Der bekannteste dieser großmaßstäbigen Wohnhöfe ist der 1,2 Kilometer lange Karl-Marx-Hof, der als einziger Wohnbau Österreichs auch auf einer Briefmarke gewürdigt wurde. Seine Monumentalität sollte den Mietern das Gefühl geben, in einem wahren Arbeiterpalast zu leben - aber auch die neue Macht der Sozialdemokratie im Stadtbild manifestieren.

Nicht minder repräsentativ wirkt die Bebauung entlang des Margareten- und des Gaudenzdorfer Gürtels, die - als Gegenstück zum städtebaulichen Aushängeschild der Monarchie - auch „Ringstraße des Proletariats“ genannt wurde. Der Reumannhof, Teil dieses Ensembles, gilt als idealtypisch für das Rote Wien: Die streng symmetrische Anlage erinnert an ein barockes Schloss und wird von einem 40 Meter hohen Mitteltrakt dominiert, der ursprünglich als erstes Hochhaus Wiens konzipiert war. Wie bei den meisten Gemeindebauten verschmelzen auch hier Elemente der feudalen und der bürgerlichen Architektur wie Arkaden und Erker mit Merkmalen des Neuen Bauens wie Flachdächern und Eckfenstern. Die insgesamt 200 Architekten des Roten Wien - viele von ihnen Schüler Otto Wagners und teils in Diensten des Stadtbauamts - schufen damit einen recht eigenständigen Stil mit einer erstaunlichen Formenvielfalt.

Es gab aber auch Kritik am formalen Aufwand im kommunalen Wohnbau, zumal hinter den opulenten Fassaden bis 1927 nur bescheidene Kleinwohnungen zwischen 38 und 48 Quadratmeter Fläche entstanden. In den späten Zwanzigerjahren wurden die Wohnungsgrößen dann auf 40 bis 57 Quadratmeter ausgedehnt - und Monumentalität und Pathos ließen insbesondere bei Bauten von Architekten wie Josef Frank, die stärker an der internationalen Moderne orientiert waren, spürbar nach.

Unumstritten war hingegen die hohe Ausstattungsqualität der Gemeindebauten: Jede Wohnung hatte ein Vorzimmer, Toilette, Wasser- und Gasanschluss (allerdings kein Badezimmer) sowie meist Balkon, Loggia oder Erker - was gemessen an den gründerzeitlichen Arbeiterquartieren einen Riesensprung bedeutete. An Gemeinschaftseinrichtungen fanden sich in den Anlagen Badehäuser, Waschküchen, Kindergärten und Spielplätze - sowie an weiterer Infrastruktur Gesundheits- und Sozialdienststellen, Büchereien, Postämter, Geschäfte und Gaststätten. Dennoch waren die Mieten für alle erschwinglich: Eine durchschnittliche Gemeindewohnung kostete lediglich vier bis acht Prozent eines Arbeitermonatslohns. Die Mieteinnahmen sollten der Stadt auch keine Gewinne einbringen, sondern lediglich die Instandhaltungskosten decken.

Mit den Februarkämpfen 1934 ging die Ära des Roten Wien abrupt zu Ende. Seit 1945, nach Ständestaat und Drittem Reich, ist Wien wieder fest in sozialdemokratischer Hand - und auch der kommunale Wohnbau wurde wieder aufgegriffen. Allerdings kostete der Nationalsozialismus die Stadt viele ihrer engagierten Politiker und hervorragenden Planer. Die Wiener Kunsthistorikerin Inge Podbrecky hält in ihrem Buch „Rotes Wien“ dazu fest, dass sich beispielsweise die Hälfte jener 26 österreichischen Architekten, die an der Werkbundsiedlung mitgebaut hatten, durch Flucht oder Selbstmord dem Nazi-Terror entzog.

Dieser geistig-kulturelle Aderlass wurde in zahlreichen Wohnanlagen der Fünfziger-, Sechziger- und frühen Siebzigerjahre sichtbar. Die Per-Albin-Hansson-Siedlung, die Großfeldsiedlung, die Wohnhöfe auf den Trabrenngründen oder am Schöpfwerk zeugen bis heute von der Maxime „Masse statt Klasse“. In den relativ liberalen Siebzigern gewährte die Politik allerdings auch so manchem Wohnbau-Experiment den nötigen Spielraum: sei es Harry Glücks Wohnpark Alterlaa, sei es die sanfte Stadterneuerung, die den immensen Altbauwohnungsbestand Wiens sozial verträglich aufwertete.

Mitte der Achtzigerjahre schien der Wohnraumbedarf der Wiener Bevölkerung endlich gedeckt - und das sozialpolitische wie experimentelle Engagement der Stadtväter zusehends dem Drang nach mehr Ästhetik zu weichen. Wien versuchte nun - teils mit großzügigen Subventionen aus der kommunalen Wohnbauförderung -, internationale Stararchitekten für die Errichtung sozialer Wohnbauten zu gewinnen. Jean Nouvel etwa realisierte in der Leopoldauer Straße Eigentumswohnungen, deren Gesamtpreis - am Beispiel einer 105-Quadratmeter-Maisonette - von umgerechnet 233.000 Euro durch einen „nicht rückzahlbaren Baukostenzuschuss“ der Stadt Wien in Höhe von rund 80.000 Euro um mehr als ein Drittel reduziert wurde. Nicht nur, dass Wohnungen in dieser Preisklasse wohl kaum Förderungen aus dem sozialen Wohnbaubudget rechtfertigen - etliche Lofts in Nouvels Vorzeigeprojekt standen zudem jahrelang leer.

Mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen - sowie einer beispiellosen, öffentlich finanzierten Werbekampagne - wurden auch die Apartments in den denkmalgeschützten Gasometern an Mann und Frau gebracht. Ob ausgediente Gasbehälter tatsächlich ein geeigneter Ort zum Wohnen sind, ob der Standort inmitten eines Gewerbegebiets am East End von Wien, begrenzt von zwei Autobahnen, ein lebenswertes Umfeld bieten kann, wurde dabei nie gefragt. So entstanden Neubauwohnungen, die hinsichtlich Belichtung und Besonnung zwangsläufig nur ein Kompromiss sein konnten. So entstanden enge Innenhöfe, deren Bewohner mehr akustischen und visuellen Kontakt zu ihren Nachbarn haben, als ihnen lieb sein kann. So entstand ein Wohnviertel, das über keinerlei Grün-, Spiel- und Erholungsflächen verfügt.

Dichte und Enge - als Missstände der Gründerzeit vergessen geglaubt - prägen auffallend viele Wohnbauten der vergangenen Jahre. An der Wagramer Straße drängen sich, vom Autoverkehr durch eine elfgeschoßige Häuserzeile abgeschirmt, sechs Wohntürme - ebenfalls aus der Hand renommierter Architekten. Im Schnitt entfallen dabei die untersten 14 Etagen auf genossenschaftliche Mietwohnungen, deren Ausblick lediglich zur benachbarten Straßenbebauung reicht. Zwischen 15. und 19. Stock, wo der Verkehrslärm der Wagramer Straße noch wahrnehmbar ist, liegen geförderte Eigentumswohnungen. Darüber folgen drei Geschoße mit frei finanzierten Wohnungen - und im 22. Stockwerk schließlich ein luxuriöses Penthouse mit großzügiger Dachterrasse.

Dass öffentlich geförderter Wohnraum übereinander gestapelt wird, um als Fundament für den Fernblick einiger weniger exklusiver Apartments zu dienen, rechtfertigt die Stadt mit der vermeintlichen sozialen Durchmischung innerhalb der Hochhäuser. Architekt Johann Winter vom Baukünstlerkollektiv BKK-3 hingegen empfindet dies als blanken Zynismus - und als „Umverteilung der Wohnbauförderung von unten nach oben, im doppelten Sinn des Wortes“. Winter und sein Team haben 1996 im modellhaften Partizipationsprojekt „Sargfabrik“ eine Symbiose aus Wohnen, Arbeiten, Kultur und sozialer Integration verwirklicht, das international für Aufsehen sorgte. „Beim Bezug der Sargfabrik ist der erwartete Ansturm auf die obersten Stockwerke ausgeblieben,“ erinnert sich der Architekt. „Denn die Wohnungen in den unteren Etagen haben ihre eigenen, ganz spezifischen Qualitäten, die für manche Mieter mehr zählen als die bessere Besonnung oder der Ausblick im Dachgeschoß.“

Von dieser Art Mehrwert sind die Hochhäuser an der Wagramer Straße genauso weit entfernt wie von der - laut Winter notwendigen - städtebaulichen Qualität im Wohnbau. Der Freiraum zwischen den sechs Türmen besteht bloß aus Restflächen, auf denen sich Kinder mangels ausreichendem Spielplatzangebot zwischen den Entlüftungsschächten der Tiefgaragen aufhalten. Innerhalb der Hochhäuser herrscht ein ebensolcher Mangel an Spielgelegenheiten, Gemeinschafts- oder Hobbyräumen.

Der Sozialwissenschafter Hans-Jörg Hansely, langjähriger Mitarbeiter der Wiener Stadtplanung, spricht von einem Wohnungsüberangebot in Wien - bei gleichzeitig fehlender Leistbarkeit. Dies auch deshalb, so der Wohnbau-Experte, weil die fortschreitende Kommerzialisierung gesellschaftlicher Leistungen das Wohnen verteuere: „Im Karl-Marx-Hof ist die Kindertagesstätte noch ein Service der Gemeinde, der nicht durch die Mieter bezahlt zu werden braucht. Bei neuen Wohnanlagen schlägt man die Kosten der Kinderbetreuung einfach auf die Wohnungspreise auf.“

Das Überangebot an Wohnungen könnte durch aktuelle Projekte wie „Monte Laa“ noch zunehmen. Einer der größten Baukonzerne Österreichs realisiert derzeit auf seinem ehemaligen Werksgelände am Laaer Berg einen neuen Stadtteil mit rund 1000 Wohnungen. Zwar war der entlegene Standort in keinem Stadtentwicklungskonzept je für eine solche Entwicklung vorgesehen. Dank ausgezeichneter Kontakte ins Rathaus ist es dennoch gelungen, für „Monte Laa“ die nötige Flächenwidmung sowie eine Förderung der Wohnbauten zu erwirken: ungeachtet des Fehlens jeglicher Infrastruktur - von Bildung über Gesundheit und Soziales bis hin zum öffentlichen Verkehr; ungeachtet des Umstandes, dass das Areal von der Stadtautobahn A23 durchschnitten wird.

Der Architekt und Wohnbauforscher Kurt Leitner erkennt hinter Projekten wie „Monte Laa“ eine Eigendynamik: „Die Wiener Wohnbaupolitik orientiert sich nun seit geraumer Zeit schon am Mittelmaß. Wenn man aber anstatt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab - das heißt, die Wohnungsqualität wird tendenziell schlechter.“ Als die Wiener Stadtregierung Anfang der Neunziger unter dem Eindruck der Ostöffnung eine „Zweite Gründerzeit“ ankündigte, klang das nach einer Verheißung. Aus gegenwärtiger Sicht wirkt dies mehr als Prophezeiung eines wohnbaupolitischen Rückfalls hinter so manche Errungenschaft des Roten Wien.

23. November 2002 Spectrum

Beton um Beton, Stahl um Stahl

Vom Wahrzeichen der Linzer Vorstadt, auf das niemand so richtig stolz sein wollte, zum Schandmal des oberösterreichischen Wohnbaus, das niemals eine echte Chance erhielt: die beiden Hochhäuser auf dem Harter Plateau. Ein Rückblick kurz vor ihrem Abriß.

Wie Monolithen ragen die zwei 60 Meter hohen Wohnscheiben aus der sanft hügeligen Landschaft südwestlich von Linz und bilden seit knapp 30 Jahren einen Blickfang für alle, die die oberösterreichische Landeshauptstadt in Richtung Salzburg verlassen - egal ob mit der Westbahn oder auf der B1. Aus der Nähe betrachtet, wird rasch klar, woher die beiden Hochhäuser ihren Ruf als „Monsterbauten“, „Wohnsilos“ oder „Menschendeponien“ haben: 480 Wohnungen für 1500 Personen, gestapelt in zwei spiegelgleichen Bauten zu je 20 Stockwerken, versteckt hinter schäbigen Eternitfassaden, die sich lediglich in ihrer „Farbgebung“ unterscheiden. Das Objekt Harterfeldstraße 7 ist in grau-weiß gehalten, die Harterfeldstraße 9 in braun-weiß.

Monotonie beherrscht auch das Innere: Je zwölf Wohnungen ähnlichen Typs - mit 60, 71 und 74 Quadratmetern - finden sich in jedem Stockwerk entlang eines dunklen, weil innenliegenden Gangs angeordnet. Wer den Zuschnitt einer Etage kennt, kennt im Grunde beide Häuser.

Die Außenbereiche der Wohnanlage ergänzen das triste Bild: weitläufige Parkplätze, die einigen Autos ohne Nummerntafeln als Endlager dienen; Dutzende Müllcontainer vor den Eingangsbereichen; lieblos gestaltete Grünflächen und Spielplätze mit dem Charme osteuropäischer Gartenkunst vergangener Tage. Dazu noch die permanente Verkehrsbelastung, sind die beiden Gebäude doch an drei von vier Seiten von Straßen umgeben. Der Lärm der Maschinen vom nahegelegenen Zivil- und Militärflughafen Linz-Hörsching fällt da kaum mehr ins Gewicht.

Dabei war das „Harter Plateau“ keines jener urbanistischen Verlegenheitsprojekte, wie sie andernorts in den sechziger und siebziger Jahren zur raschen Deckung des großen Wohnraumbedarfs an den Stadträndern realisiert wurden - im Gegenteil: Auf dem Hügelrücken von Hart, einem ländlich geprägten Ortsteil der Linzer Nachbargemeinde Leonding, sollte eine komplette Stadt für 20.000 bis 30.000 Einwohner entstehen - mit mehreren Hochhäusern, Geschäftszentren, Schulen und einem eigenen Sportstadion. Motor der ehrgeizigen Pläne war die damals boomende Voest, die nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Stadtregion mitbestimmte. Auf dem Harter Plateau wollte man ein strahlendes Zeugnis der prosperierenden verstaatlichten Industrie schaffen, die den Menschen sowohl Arbeit als auch Wohnraum bietet.

Freilich gab es auch damals schon Kritik: am ausgewählten Standort, an dem die Voest-eigene Baugesellschaft Giwog Grundstücke aufgekauft hatte; an der direkten Vergabe des gesamten Planungsauftrags - sowohl für den Masterplan als auch für die einzelnen Bauten - an den langjährigen Ortsplaner von Leonding, Gustav Lassy; an der fehlenden regionalplanerischen und verkehrsplanerischen Einbindung des Projekts in die Entwicklung des Großraums Linz; an der Dimension der vorgesehenen Verbauung von 160 Hektar, die etwa drei Viertel der damaligen Stadtfläche von Wels oder Steyr entsprach. Und nicht zuletzt Kritik an den Hochhäusern selbst, die inmitten eines dünn besiedelten Gebiets entstehen sollten.

Auch wenn die Einwände und Gegenstimmen das Projekt verzögerten und sukzessive schrumpfen ließen: Ende der sechziger Jahre wurde schließlich der Bau mehrerer Wohnblöcke mit bis zu acht Geschoßen sowie - per Spatenstich vom 17. Mai 1972 - die Errichtung der beiden Hochhäuser in Angriff genommen. Letztere dienten nicht nur als Flaggschiffe der neuen Werksiedlung sondern auch als Demonstrationsobjekte der Voest. Nachdem der Konzern bereits weltweit im Industrieanlagenbau tätig geworden war, sollten industriell vorgefertigte Stahl- und Stahlbetonsysteme nun auch bei der Errichtung von Wohnanlagen, Kindergärten, Schulen, Sportstätten, Krankenhäusern, Sakralbauten und Hotels zum Einsatz kommen.

Bereits 1974 zogen die ersten Mieter ein, 1975 waren beide Hochhäuser bewohnt - zunächst ausschließlich von Voest-Mitarbeitern und ihren Familien. Damals waren die Wohnungen am Harter Plateau auf Grund ihres technischen Standards bei vielen begehrt - auch wenn es im Wohnumfeld anfangs selbst am Wichtigsten fehlte: Im ersten Jahr gab es noch keine Schule. Das Geschäftszentrum entstand erst auf Druck der Mieter, die sich zum Verein „Wohnen am Harter Plateau“ zusammenschlossen, um gegenüber der Giwog notwendige Nachbesserungen einzufordern. Und die seit den sechziger Jahren geplante Straßenbahnverbindung nach Linz ist bis heute nicht realisiert. Dafür ersparte der neue Wohnstandort vielen Voest-Beschäftigten die tägliche, oft stundenlange Fahrt aus den entlegensten Winkeln Oberösterreichs zur Arbeit. Und durch die Nachbarschaft zu den Kollegen aus dem Stahlwerk entstand trotz der Anonymität der beiden Häuser eine starke Identifikation mit dem Harter Plateau. Die Menschen begannen sich hier wohl zu fühlen.

Die Wende kam 1985 mit der internationalen Stahlkrise, der das Management der Voest wenig entgegenzusetzen hatte. Geld für Prestigeprojekte wie die beiden Hochhäuser war nun keines mehr da - und schlimmer noch: Es fehlte plötzlich an Arbeit. Auch am Harter Plateau verloren viele ihre Jobs, und bald darauf zogen die ersten Mieter aus. Denn die Wohnungen waren, wie sich für manche erst jetzt herausstellte, gar nicht so günstig. Die leeren Wohnungen wurden nun auch werksfremden Wohnungssuchenden angeboten. Hochhäuser hatten das Image des Modernen in den späten achtziger Jahren jedoch verloren. So zogen hauptsächlich jene Menschen aufs Harter Plateau, die sonst geringe Chancen am Wohnungsmarkt hatten: Gastarbeiter, sozial Schwache sowie Menschen in Krisensituationen, die eine Übergangslösung suchten.

„Die Giwog war nur darauf bedacht, daß die Wohnungen belegt sind und sie die Miete kassieren kann“, erinnert sich eine alteingesessene Bewohnerin der Harterfeldstraße 7. „Man hätte sich die Leute, die da eingezogen sind, aber auch vorher anschauen können, wie das andere Wohnungsgesellschaften durchaus machen.“ Georg Pilarz, Direktor der Giwog, fühlt sich für den sozialen Niedergang der beiden Hochhäuser allerdings nicht verantwortlich, da es „bei knapp 500 Parteien natürlich auch einige schwarze Schafe gibt. Und bereits fünf Prozent schlechte Mieter reichen aus, um ein Haus runterzuziehen.“

Als der Ausländeranteil 20 Prozent erreicht hatte, schritt Leondings Bürgermeister Herbert Sperl ein und stoppte den Zuzug von Migranten, „damit das Harter Plateau nicht zum Ghetto wird“. Doch nicht nur die Distanz zwischen den verschiedenen Nationalitäten, viel mehr noch die zunehmende Fluktuation an Mietern erschwerte es, neue nachbarschaftliche Kontakte zu knüpfen. Johann Ehrenfellner, seit 1976 Pfarrer und Seelsorger am Harter Plateau, erzählt von ein und derselben Wohnung, in der er in den letzten zehn Jahren dreimal zu Taufgesprächen war: „Doch jedes Mal handelte es sich um eine andere Familie.“ Mit der wachsenden Anonymität schwand das individuelle Verantwortungsgefühl für die Wohnanlage - der Beginn der jahrelangen Verwahrlosung der beiden Hochhäuser.

Zunächst waren es nur Schmierereien in den Eingangsbereichen und Stiegenhäusern, später wurden ganze Mauerbrocken aus den Wänden gebrochen. Kaum eine Woche verging, in der nicht Postkästen aufgerissen wurden. Manche Bewohner begannen, ihre Müllsäcke einfach in die Aufzüge zu stellen, die dann tagelang damit auf und ab fuhren. In Ermangelung auch nur eines einzigen Gemeinschaftsraums in den beiden Hochhäusern hielten sich die Jugendlichen immer öfter in den Gängen und Liftbereichen auf.

Bald wurden dort auch lautstarke Partys gefeiert - es roch nach Alkohol, Urin und Erbrochenem. „Die Giwog hat zur Verschlechterung der Situation selbst beigetragen“, betont Pfarrer Ehrenfellner. „Bis Ende der achtziger Jahre war in jedem Haus ein eigener Hausmeister. Seither sind vier externe Hausbetreuer für das gesamte Harter Plateau, also für insgesamt 880 Wohnungen zuständig - allerdings nur mehr für technische, nicht mehr für soziale Belange. Somit gab es niemanden mehr, der bei kleineren Konflikten spontan intervenieren konnte.“

Je mehr die Hochhäuser verkamen, um so stärker zogen sie Probleme auch von außerhalb an: Die Gangs, die sich am Harter Plateau blutige Schlägereien lieferten, stammten aus dem gesamten Großraum Linz. Entsprechend verschärften sich auch die Delikte: aufgebrochene Autos, Bedrohung von Bewohnern - und nicht zuletzt eine Serie von zwölf Brandanschlägen in den beiden Wohntürmen Anfang der neunziger Jahre. Das Harter Plateau galt als der soziale Brennpunkt des gesamten Bundeslandes. Umso erstaunlicher ist es, daß viele Menschen immer noch gern hier lebten. „Sobald ich die Tür hinter mir zumache, bin ich in meiner Traumwohnung“, erklärt ein Bewohner aus dem 18. Stock der Harterfeldstraße 9. „Oder kennen Sie ein anderes Haus in Linz und Umgebung, wo ich von der Loggia aus den Traunstein sehen kann.“

Erst nach 13 Jahren permanenter Konflikte und steten Niedergangs, entschloß sich die - mittlerweile zur Stadt erhobene - Gemeinde Leonding, eine Streetwork-Projektstelle am Harter Plateau zu finanzieren. Ein Psychologe und eine Sozialarbeiterin kümmern sich seither um straffällige Jugendliche, begleiten Minderjährige zu Gerichtsterminen, betreuen Schul- und Lehrabbrecher, helfen Langzeitarbeitslosen bei der Jobsuche und setzen Aktionen zur Sucht- und Gewaltprävention. „Mit dem Erfolg“, so der Streetworker Barnabas Strutz, „daß die Probleme am Harter Plateau in den letzten zwei, drei Jahre signifikant zurückgegangen sind.“

Vor den Landtags- und Gemeinderatswahlen 1997 erwogen die Stadtgemeinde Leonding, das Land Oberösterreich und die Giwog sogar einige - wenn auch bescheidene - bauliche Verbesserungsmaßnahmen. Doch nach den Wahlen machte der neue Wohnbaulandesrat Erich Haider (SP) alsbald keinen Hehl aus seiner Aversion gegen die beiden Hochhäuser und verwarf das Sanierungskonzept. Ehe auch nur ein Schilling in die maroden Türme fließe, müsse eruiert werden, ob denn überhaupt noch jemand darin wohnen möchte.

So schickte man Soziologen der Linzer Kepler-Universität los, um die Mieter zu fragen. Das Ergebnis der Studie wurde als große Zustimmung zu einer radikalen Lösung des Problems gewertet: 59 Prozent der Mieter sprachen sich für einen Umzug und den Abbruch der beiden Türme aus. Kaum Berücksichtigung fand dabei, daß vorwiegend jene dafür stimmten, die erst kurze Zeit auf dem Harter Plateau lebten - die Altersgruppe unter 30 Jahren. Die Stammbewohner, nämlich jene über 60 Jahren, die oft viel in ihre Wohnungen investiert hatten, votierten zu 76 Prozent gegen einen Abriß und ihre Umsiedlung.

„Gerade die älteren Bewohner hatten aber alle unbefristete Mietverträge“, stellt Pfarrer Ehrenfellner klar. „Und wenn die nicht bereit gewesen wären, ihre Verträge freiwillig aufzulösen, hätte die Giwog die rechtliche Verpflichtung gehabt, die Hochhäuser zu sanieren.“ Bereits ein halbes Jahr später hatte die Giwog ein konkretes Konzept ausgearbeitet, das alle in der ersten Befragung geäußerten Wünsche und Bedenken berücksichtigte und den Bewohnern im November 1999 zur Abstimmung vorgelegt wurde: 93 Prozent der Bewohner stimmten zu.

In Sichtweite der Hochhäuser baute die Giwog nun nach Plänen des Grazer Architekten Hubert Rieß die neue Siedlung „Wohnen im Park“, die nach außen hin das genaue Gegenteil des Harter Plateaus vermitteln soll: 14 sogenannte Stadtvillen fassen jeweils auf vier Geschoßen überschaubare 23 Wohnungen zusammen. Die Fassaden leuchten in bunt schillernden Papageienfarben und die Außenräume sind wohl gestaltet. Im Inneren hingegen wurden die Grundrisse aus den alten Wohnungen teils eins zu eins übernommen, damit die übersiedelten Möbel auch in den „Stadtvillen“ passen.

Kürzlich sind die letzten Bewohner ausgezogen, ab Anfang Dezember sollen die beiden Hochhäuser abgebrochen werden. Noch ist unklar, ob eine Sprengung erfolgen kann, ohne die umliegenden Häuser zu gefährden, oder ob die beiden Wohntürme in mehrmonatiger Arbeit genau so abgetragen werden müssen, wie sie in den siebziger Jahren gebaut wurden: Betonplatte für Betonplatte und Stahlträger um Stahlträger. Wie auch immer - allein der Abriß wird mehr als fünf Millionen Euro kosten, die für die Giwog aber ebensowenig zu Buche schlagen werden wie die Übersiedlungskosten in Höhe von 2,5 Millionen Euro: Beide Summen werden vom Wohnbaureferat des Landes Oberösterreich großzügig beglichen. Für die Errichtung der neuen Siedlung hatte Landesrat Erich Haider bereits 25 Millionen Euro Darlehen aus der Wohnbauförderung bereitgestellt.

Als „wohl eine der größten Finanztransaktionen von der öffentlichen Hand an Private in den letzten Jahren“ wertet Michael Shamiyeh den Deal rund um das Harter Plateau - und sieht den Abriß der beiden Hochhäuser als „eine Vergeudung von Steuergeldern“. Denn nicht die bauliche Struktur der Stahlbetontürme sei schlecht, sondern deren Nutzung, so der Linzer Architekt: „In Wien werden vergleichbare Hochhäuser für 1500 Euro pro Quadratmeter neu gebaut. Wir hätten hier bereits eine erstklassige Bausubstanz und bräuchten uns nur darüber den Kopf zu zerbrechen, wie wir sie intelligent nutzen. Oder würden Sie Ihren Fernseher wegwerfen, nur weil Ihnen das Programm nicht gefällt?“

Sein Konzept sieht den radikalen Umbau der beiden Türme zu einer „Vertically Expanded City“, also zu einem multifunktionalen Komplex mit Büros, einem Seminar- und Konferenzzentrum, Indoor- und Outdoor-Sport, mit Entertainment und Erlebnisgastronomie, mit Boutiquen sowie exklusiven Lofts vor - gegliedert durch „grüne Oasen“ in bis zu 60 Metern Höhe.

Daß ein solches Projekt an diesem Standort - zwischen Linz und dem Flughafen, unweit der Autobahn - sinnvoll sei, wurde sogar von der Giwog bestätigt. Anerkennung gab es auch vom Land Oberösterreich, das Shamiyehs Büro „Bau-Kultur“ im Jahr 2000 mit dem Landeskulturpreis auszeichnete. Es gelang selbst, einen der größten heimischen Baukonzerne und Projektentwickler für die „Vertically Expanded City“ zu interessieren und die Unterstützung aller im oberösterreichischen Landtag vertretenen Parteien zu gewinnen - mit Ausnahme der Fraktion von Wohnbaulandesrat Erich Haider, der jegliche Gespräche über eine Umnutzung am Harter Plateau ablehnte und die Idee damit zu Grabe trug.

Auf Ablehnung stieß auch der Linzer Künstler Harald Schmutzhard, der - als der Abriß der Hochhäuser beschlossen wurde - mit seinem Team „Social Impact“ ein freies Bewohnerfernsehen am Harter Plateau initiieren und betreuen wollte. Ziel des Projekts war, die Kommunikation und damit die Solidarität zwischen den Mietern neu zu beleben, um zum einen ihren Ablösungsprozeß von den alten Wohnungen zu erleichtern und zum anderen eine tragfähige Basis für die Bewältigung künftiger Konflikte am neuen Wohnort zu schaffen. Auch wenn ein Kabelfernsehbetreiber als Partner gefunden wurde, etwa die Hälfte aller Bewohner mitmachen wollte und das Land Oberösterreich Kulturförderung in Aussicht stellte - das Vorhaben scheiterte an der Ablehnung der Giwog, laut Schmutzhard „aus Angst vor mündigen und selbstorganisierten Bewohnern am Harter Palteau“.

Zumindest konnte „Social Impact“ kurz vor dem Abriß noch Interviews mit den Mietern führen, ihre sozialen Beziehungen analysieren - und von einigen Wohnzimmern Photos machen: Einblicke hinter die grauen Fassaden der Hochhäuser in lebenswerte, freundliche oder auch skurrile Wohnumgebungen als Zeugnisse der Suche nach Individualität. „In einem Jahr wollen wir die Menschen wieder besuchen“, verrät Harald Schmutzhard, „erneut Gespräche führen und abermals Wohnzimmerphotos machen, um zu sehen, wieviel von der Vergangenheit auf dem Harter Plateau in den neuen Wohnungen überlebt hat.“

2. März 2001 Neue Zürcher Zeitung

Laisser-faire in Stadt und Land

Aspekte von Österreichs Raumplanung im Zeitalter der Globalisierung

In den letzten zwanzig Jahren hat sich Österreich als eine der führenden Architekturnationen Europas einen Namen gemacht. Im Schatten der baukünstlerischen Höhenflüge sieht aber die raumplanerische Realität des Landes eher nüchtern aus.

War es Österreichs EU-Beitritt von 1995, der den vermeintlich wirtschaftlicheren Grossstrukturen Vorrang vor nachhaltigen regionalen Systemen gab? Ist es die Schuld der neuen Rechtsregierung, die private Interessen über das Gemeinwohl stellt und den öffentlichen Einfluss beschneidet? Oder ist der schon länger zu beobachtende Rückzug der Politik aus ihrer Verantwortung die Ursache dafür, dass sich das Land vielfach entgegen raumplanerischer, volkswirtschaftlicher und ökologischer Vernunft entwickelt?


Verkehr und Suburbanisierung

Auslagerung und Privatisierung sind seit den frühen neunziger Jahren oft gehörte Schlagworte (nicht nur) österreichischer Politiker. Was mit dem Ziel begann, ausgewählte Bereiche einer teilweise trägen und ineffizienten Verwaltung flexibler und kostengünstiger zu gestalten, ist mittlerweile zur Strategie der Regierenden verkommen, unbequeme Entscheidungen zu entpolitisieren. Mit der Eisenbahn etwa lässt sich in Österreich schon lange kein Staat mehr machen: chronische Defizite, unpopuläre Privilegien der Bediensteten, geringer Stellenwert in der Gesellschaft. Was lag also näher, als die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu «privatisieren» - vereinfacht gesagt, die verkehrspolitische Verantwortung für den Schienenverkehr an ein Management zu delegieren, die Verluste aber nach wie vor aus öffentlichen Haushalten zu begleichen. Raumordnungsprogramme und Verkehrsleitbilder, die eine Förderung der Eisenbahn als ökologische Alternative zum überzogenen motorisierten Individualverkehr fordern, haben einen schweren Stand. Von Verkehrspolitik kann aber auch auf Österreichs Strassen keine Rede sein. Alles, was der Entfaltung des Autos schadet, wird in Österreich mit wirtschaftlichem und technologischem Rückschritt, Verlust an Freiheit und Lebensqualität gleichgesetzt - an den Stammtischen ebenso wie in den Parlamenten. Kostenwahrheit im Verkehr hin, Klimaschutzkonvention her.

Die Zersiedelung des ländlichen Raums, die Suburbanisierung des Stadtumlands, die schwindende Lebensqualität und Urbanität der Kernstädte werden zwar als Probleme erkannt, der Motor dieser Entwicklung - der nahezu sakrosankte Automobilismus - wird aber weiterhin am Laufen gehalten. Die Wiener Stadtplanung zum Beispiel legte 1994 ein umfassendes Verkehrskonzept vor, das ein Zurückdrängen der Autos zugunsten der Fussgänger, Radfahrer und des öffentlichen Verkehrs als Ziel ausgab. Parallel dazu wurden im Stadtentwicklungsplan verkehrsvermeidende Stadtstrukturen mit Nahversorgung sowie eine Stadterweiterung entlang wichtiger Schienenstränge angestrebt. Ungeachtet dessen sind seit Mitte der neunziger Jahre aber zahlreiche Einkaufszentren am Stadtrand genehmigt, Siedlungen fernab bestehender Erschliessungen errichtet und Strassenverbindungen projektiert und ausgebaut worden.

Beinahe schon als Provokation der Raumplanung auszulegen ist der Beschluss der Stadt Wien, in Kleingartenanlagen - traditionell als Grün- und Erholungsflächen gewidmet - dauerhaftes Wohnen und damit den Ausbau kleiner Gartenhütten zu ermöglichen. So erzeugt die Politik mit populistischen und kurzsichtigen Entscheidungen räumliche Strukturen, die wegen der oft abgelegenen Standorte zu hohen öffentlichen Erschliessungskosten sowie zu dauerhaften Versorgungsproblemen (Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit) führen. Zudem werden Naherholungs- und ökologisch wichtige Ausgleichsflächen den Wohnvorstellungen einiger weniger geopfert.


Planungsprobleme

Planung scheint generell nicht mehr im Trend zu liegen. Dies zeigt der Wiener Hochhausboom, der seit einem Jahrzehnt herrscht, ohne dass die Planungsgremien über verbindliche Richtlinien zur Genehmigung solcher Projekte verfügen: Es gibt keinerlei Reglement bezüglich Höhen, Formen, Nutzungen, Standort und Umfeld. Baubewilligungen für Hochhäuser gründen mehr oder weniger auf Ermessensentscheidungen, das Bauvolumen - sprich die Gewinnspanne des Investors - hängt von der Gunst des jeweiligen Bezirks- oder Stadtpolitikers ab.

Die Donaumetropole stellt damit keine Ausnahme dar. Bis in die kleinsten Gemeinden setzt sich politisches Kalkül als Massgabe der räumlichen Entwicklung fort. Dazu kommt bei vielen Landkommunen, dass die Entscheidungsträger kaum über planerische Kompetenz, aber dennoch über ein hohes Mass an Planungsautonomie verfügen. So betreiben viele Gemeinden eine «Kirchturmpolitik» - Ansätze zu interkommunaler Kooperation und einer Abstimmung der Siedlungsentwicklung stecken noch in den Kinderschuhen. Dieses Problem gewann in den letzten Jahren zusätzliche Brisanz, als Investoren begannen, mit Grossprojekten durch das Land zu ziehen, um die günstigsten Standorte für ihre Shopping- und Entertainment-Centers, ihre Adventure-Parks und Factory-Outlets zu finden. Deren Auswirkungen reichen weit über die jeweiligen Verwaltungsgrenzen hinaus, seitens der Regionalplanung gibt es aber kaum Steuerungsmöglichkeiten oder Instrumente des Ausgleichs.

Zwischen kommunalen Partikularinteressen einerseits und einer völlig zersplitterten Bundeskompetenz andererseits stehen die neun Bundesländer Österreichs. Sie bilden die eigentlich zuständige, gesetzgebende Ebene in der Raumplanung. Das heisst, es gibt in Österreich neun verschiedene Raumordnungsgesetze, was die immer notwendiger werdende Zusammenarbeit zwischen den Landesregierungen dementsprechend erschwert. Da die Raumplanung als überaus komplexe Materie zwischen Bauwesen, Verkehr, Umwelt- und Naturschutz, Industrie, Handel und Tourismus, Land- und Forstwirtschaft, Wasserrecht und Bergbau zum Teil aber wiederum in die verschiedensten Zuständigkeitsbereiche der Bundesregierung fällt, kann man sich leicht vorstellen, wie gross die Reibungsverluste durch die politischen und administrativen Strukturen sind. Der EU-Beitritt förderte ein weiteres Problem zutage: Österreichs Raumplanung ist in Brüssel sowie bei allen grenzüberschreitenden Programmen und Projekten der Gemeinschaft nicht geschlossen mit einer Stimme vertreten. Nicht nur deshalb mehren sich die Stimmen, die eine übergeordnete, gesamtstaatliche Planungsebene fordern, ohne damit zwangsläufig die dezentrale Verwaltung der Länder substanziell zu beschneiden.

Welche Rolle nimmt die Bevölkerung im Planungsprozess beziehungsweise in der Planungspolitik ein? Die Österreicher sind weder gewohnt, sich - wie die Schweizer - periodisch über die Entwicklung ihres Lebensraums an der Wahlurne zu artikulieren, noch haben Bürgerinitiativen eine grosse Tradition im Land. Jene Zukunftsfragen, für die sich landesweit eine breite Öffentlichkeit politisch engagiert hat, sind rasch aufgezählt: Allen voran steht die Ablehnung der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf 1978. In Erinnerung geblieben ist auch noch der Protest gegen die Rodung einer - mittlerweile zum Nationalpark erklärten - Aulandschaft für die Errichtung eines Wasserkraftwerks an der Donau 1984.

Vor allem seit den neunziger Jahren ist zu beobachten, dass das Interesse an der Gestaltung der gemeinsamen Umwelt noch weiter abnimmt. Damit einher geht das schwindende Verständnis für Massnahmen, die im Dienste der Allgemeinheit die individuelle Freiheit beschränken. Raumplanung wird also vielfach als Verbot oder Verhinderung empfunden: Planer untersagen das Bauen im Grünland, Planer wettern gegen die bunte Welt der Einkaufszentren, Planer sind für Strassenrückbau verantwortlich. Dass Raumplanung die persönlichen Ansprüche der Bürger koordiniert und somit ihre Erfüllung auf breiter Basis erst ermöglicht, wird von einer zunehmend ichbezogenen Gesellschaft mehrheitlich ignoriert.

Publikationen

2015

Harry Glück
Wohnbauten

Kein österreichischer Architekt hat so viele Wohnungen geplant wie er. Und kein anderer hat mit seinen Bauten die heimische Architektenschaft so polarisiert – obwohl oder vielleicht sogar weil es Harry Glück seit den 1960er Jahren gelingt, im sozialen Wohnbau unvergleichlich hohe Wohnzufriedenheit zu
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2013

Häuser für Menschen
Humaner Wohnbau in Österreich

80 Prozent der Österreicher träumen vom freistehenden Einfamilienhaus mit Garten – allen individuellen und gesellschaftlichen Nachteilen zum Trotz, ungeachtet der ökologischen und volkswirtschaftlichen Folgen. Doch bieten kompaktere Wohn- und Siedlungsformen selten befriedigende Alternativen. In den
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2008

Architektur der Erinnerung
Die Denkmäler des Bogdan Bogdanović

„Ich habe immer geglaubt, dass eine Menschheit ohne Monumente glücklicher ist als eine Menschheit, die Monumente braucht.“ Bogdan Bogdanović. Der Architekt, Urbanist, Literat, Hochschulprofessor und ehemalige Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanović, schuf im Jugoslawien der 1950er und den 1980er
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Verlag Anton Pustet

2006

Wer baut Wien?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Wien von einem Bauboom erfasst, der neben der Ost-Öffnung vor allem dem EU-Beitritt Österreichs sowie der fortschreitenden Globalisierung geschuldet ist; die Stadtväter sprechen von einer »zweiten Gründerzeit «. Wie die Planungspolitik der Stadt Wien auf die neue
Autor: Reinhard Seiß
Verlag: Verlag Anton Pustet