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Amöben und Calamares
Neue Zürcher Zeitung

Blob-Architektur im Pariser Centre Pompidou

18. Februar 2004 - Marc Zitzmann
Was genau hat man sich unter «Architectures non standard» vorzustellen? Unter diesem Titel präsentiert das Pariser Centre Pompidou zurzeit eine Ausstellung, doch ihr Gegenstand ist schwer zu fassen. Im Katalog decken sich die Definitionen mitnichten: Während die einen den Terminus «Architectures non standard» von der Mathematik herleiten, kommt er für die anderen von den neuen digitalen Konzeptionswerkzeugen her; mal geht es um einen Schöpfungsprozess, der in der Geschichte der Baukunst «radikal neu» sein soll, mal um ein (formales) Ergebnis, dessen Wurzeln bis zu Antoni Gaudí und zu Erich Mendelsohns Einsteinturm zurückreichen.

Der Augenschein zeigt: Die «Nicht-Standard- Architektur» deckt sich weitgehend mit der sogenannten Blob-Architektur. Dieser in den letzten Jahren aufgekommene Begriff bezeichnet Bauwerke, vor allem aber nicht realisierte Projekte, die am Computer konzipiert wurden, bisweilen eine biomorphe Gestalt aufweisen, stets jedoch flüssige, wandlungsfähige und hochkomplexe Formen annehmen, die der nicht-euklidischen Geometrie entstammen. «Blob» ist nicht nur ein Akronym für «binary large objects», sondern auch der Titel eines Science-Fiction-Horrorfilms von 1958 über eine aus dem Weltraum stammende, Menschen verschlingende amorphe Masse. Ganz ähnlich die gleichnamigen Architekturen: amöbenförmig und mit kantenlos-verfliessender Oberfläche. In Frankreich wurde die Blob- Architektur vornehmlich dank der jährlichen «ArchiLab»-Schau in Orléans rezipiert - und da Frédéric Migayrou, der frühere Leiter dieser Veranstaltung, heute am Centre Pompidou amtiert, nimmt es wenig wunder, dass die hier von ihm kuratierte Schau etliche Arbeiten zeigt, die bereits dort zu sehen waren.

So etwa der «Resi/Rise Skyscraper» von KOL/MAC Studio, der aussieht wie das muskulöse Bein eines gigantischen Robotersauriers. Auf das Skelett aus diversen Materialien sollen Wohnmodule aufgepfropft werden können, die sich in Sachen Grösse, Programm oder Dienstleistungen ganz nach den Wünschen der Bewohner richten: eine Art vertikale Urbanisierung. Das gleiche Prinzip liegt den «Lobbi-Ports» des Büros Servo zugrunde. Es handelt sich dabei um kapselartige Installationen, die sich in Hotelhallen implantieren lassen und via LED-Bildschirme Filme, Ansagen, persönliche Nachrichten usw. ausstrahlen sollen. Viele der gezeigten Projekte setzen irgendwie auf die neuen Technologien und auf «Interaktivität». So etwa der Entwurf von «dECOi Architects» für das Eingangsportal zur Uferpromenade nahe der Londoner Waterloo Bridge: Die Form des 70 Meter langen, aus vier Aluminiumbändern bestehenden Schlauchs wurde durch das «Morphing» von kontextuellen Daten wie Geräuschen und Bewegungen gewonnen; im Innern des Baus sollen wiederum Fussgänger «interaktive Klangskulpturen» auslösen - so beisst sich die konzeptionelle Schlange in den Schwanz. Ohnehin scheint die Originalität des Schöpfungsprozesses für viele «Nicht-Standard-Architekten» wichtiger zu sein als die Qualität des Resultats. So gleicht die Konzeption von Greg Lynns «Embryological Houses» der Teilung von befruchteten Eizellen, die - alle vom gleichen «Urmaterial» ausgehend - zu jeweils einzigartigen Wesen heranreifen. In seinen New Yorker «Ost/Kuttner Apartments» kreuzt KOL/MAC Studio gar Betten, Badewannen, Kopfkissen und Kühlschränke miteinander.

Der Formenreichtum der rund fünfzig gezeigten Projekte kommt in der Galerie Sud des Centre Pompidou dank zum Teil grossformatigen Modellen, bunt flimmernden Plasmabildschirmen und einem Soundtrack zwischen «Alien», David Lynch und dem Gesang der Wale zu einer Wirkung, die man in den USA wohl als «dramatic» bezeichnen würde. Vertreter der Alten Welt freilich mögen sich zwischen zwei konzeptuellen Mondflügen - die Texte warten wie so oft im Centre Pompidou mit tonnenschweren Sprach- Meteoriten auf - auch leise wundern über die Diskrepanz zwischen der hochgestochenen Theorie und der mitunter doch eher harmlosen Umsetzung in Form von Modellen, die aussehen wie zwei Handvoll übereinander geworfene Calamares-Ringe. Auch begnügen sich viele Projekte mit einer spektakulären Hülle, ohne dass Näheres über die Innengestaltung zu erfahren wäre; und allzu oft wird man einfach mit ebenso spektakulären wie enigmatischen Computerbildern abgespeist - kurz: viel Form, aber (zu) wenig Inhalt.


[Bis zum 1. März. Katalog: Euro 39.90.]

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