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Städteplanung: Wien trägt Jogginghose statt Nadelstreif

Anders als in französischen Städten gilt in Wien der Aufenthalt im Freien als verdächtig – dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar. So wird die Stadt hässlich.
14. April 2025 - Harald A. Jahn
Stadt war immer Kommunikation: Früher fand das Leben in den Straßen statt, öffentliche Räume waren Ergänzung der privaten Wohnhäuser. Die Notwendigkeit, sich mit der Umgebung zu arrangieren, förderte viele Jahrhunderte lang die soziale Kompetenz. Die Stadt wurde als Einheit genutzt: Besinnung und Privatheit in den Häusern, Kommunikation, Handel, Interaktion im öffentlichen Raum. Das Wort „Urbanität“ steht für diese Lebensweise, für das feinfühlige und flexible Verhalten in der Stadt, das durch das gedrängte Miteinander nötig wurde.
Gleichzeitig entwickelte sich die urbane Gesellschaft durch den Zugang zu Information. Man bewegt sich durch komplexe Räume – intuitiv lesbar, schaffen sie das passende Umfeld für die Funktion und schaffen Identität: Man „kennt sich aus“. Die Städte unterscheiden sich in spezifischen Details, an denen man sie auf den ersten Blick erkennt: Neben der Bauweise der Wohnhäuser sind es spezifische Ikonen – die roten Telefonzellen in London, die Metrostationen in Paris –, dazu kommen Details, die die Bewohner mit ihrer Stadt verbinden. In Wien können das die flachen Stufen der Stadtbahnstationen sein, die Würfeluhren, das Straßenpflaster, die Würstelstände: All das prägt den Charakter der Stadt in einer Welt, die immer gleichförmiger wird.
Fußgängerzonen entstanden aus „Notwehr“
Der große Umbruch kam mit dem Auto: Es hat die Menschen aus dem Straßenraum vertrieben, das Fernsehen wurde zum Ersatz für echtes Stadtleben. Städte verändern sich mit der Gesellschaft; der Umbau zur „autogerechten Stadt“ war die größte Veränderung, neue Strukturen zum „Fortkommen“ eliminierten die Orte des „Dableibens“ in den Städten, die früher für das Erleben und das Tempo der Fußgänger konzipiert waren. Sogar Prachtboulevards wie die Wiener Ringstraße wurden zu linear gestalteten Transitschneisen, ergänzt um Werbetafeln, Schaltkästen, Verkehrsampeln, angepasst an die höheren Geschwindigkeiten. Gleichsam aus „Notwehr“ entstanden Fußgängerzonen, die in allen Städten ähnlichen Gestaltungsprinzipien folgten; damit wurden die Zentren verwechselbar, verloren die Städte ihre Identität. Ein österreichischer Architekt kämpfte gegen diese Ortlosigkeit an: In den USA war dieser Prozess schon weiter fortgeschritten, in den gesichtslosen Vorstädten wollte der nach Amerika vertriebene Architekt Victor Gruen in den 1950er-Jahren Shoppingmalls mit Plätzen nach dem Muster europäischer Metropolen aufwerten.
In diesen dauerte es aber noch länger, bis öffentliche Räume als Aufenthaltsraum wiederentdeckt wurden. In Frankreich sind die Bürger seit der Revolution 1789 gewöhnt, gesellschaftliche Fragen auf der Straße zu verhandeln; hier begann auch die Requalifikation der Stadträume früher. Gesamtheitlich gedachte Stadtumbauten wurden als Chance zur Reurbanisierung vernachlässigter Innenstädte gesehen, dazu renommierte Architekten und Landschaftsplaner beauftragt. Nun wurden Fahrbahnen eliminiert, Promenaden angelegt, frühere Verkehrsflächen zu wunderschönen Aufenthaltsorten. Inzwischen ist es Standard geworden, Stadträume in höchster Qualität neu zu gestalten.
„Es ist einfach der Respekt vor den Bürgern“, sagt Pierrick Aubert, Studioleiter für Transport und öffentliche Räume bei Richez Associés, dem bekanntesten Architekturbüro Frankreichs in diesem Fachbereich. „Mit jedem neuen Projekt bringen wir Schönheit und Wertschätzung in die Stadt – das spüren die Menschen. Auch in sozial schwierigen Gegenden beobachteten wir nach den Neugestaltungen, dass weniger Wände beschmiert werden. Die Bewohner fühlen sich wahrgenommen und reagieren darauf.“ In Orléans hat das Büro zentrale Plätze umgebaut, diskret und stimmig. Die Erneuerung war umfassend: Kein Stein blieb auf dem anderen, die Straßenoberfläche wurde zur dritten Fassade zwischen den angrenzenden Häusern, jedes Detail sorgsam entworfen. Berücksichtigt wird die „DNA der Stadt“, Material und Formen nehmen Bezug auf die lokale Geschichte; inzwischen sind Neugestaltungen ohne Mitarbeit von Architekturbüros fast undenkbar.
Sprung nach Wien. Hier löst der Wunsch nach einer „klimafitten Stadt“ Umbauten aus, Schönheit steht aber nicht auf der Agenda. Das war nicht immer so: Noch in den 1980er-Jahren wurden bekannte Architekten mit dem Design beauftragt. Hans Hollein gestaltete den Kohlmarkt, Boris Podrecca die Meidlinger Fußgängerzone und ein stimmiges Programm von Stadtleuchten. Von Luigi Blaus Stadtmöbel-Serie blieb nur das Tramway-Wartehäuschen als neue Wiener Ikone. Verständnis für die so wichtige Kontinuität gibt es heute nicht mehr: Die historischen Kandelaber sind verschwunden, die Würfeluhr konnte nur knapp gerettet werden, sogar das für Wien typische Haltestellensymbol der Straßenbahn wird durch aussagelose Pfosten ersetzt. Auch die neu gestalteten Parks und Plätze sehen ähnlich nichtssagend aus, überall beherrschen unmaßstäbliche Strukturen das Bild, die Bodenbeläge sind glatt und abweisend.
Überzogene Normen
Verantwortlich dafür sind überzogene Normen, auf die sich die Verwaltung beruft: Die Stadt wird praktisch, aber hässlich, ein schlichtes Nicht-Design wird bei allen Projekten durchgezogen. Formlose Betonblöcke umgeben banal bepflanzte Staudenbeete, charmante Orte entstehen nicht. Während sich andere Städte in feinsten Nadelstreif kleiden, trägt Wien Jogginghose – formlos, schmucklos, lieblos. Der tatsächliche Grund sitzt tief: Anders als französische Städte ist Wien immer noch von Metternich’scher Lust an Kontrolle geprägt, der Aufenthalt im Freien gilt als verdächtig, die Stadt hat Angst vor „herumlungernden“ Personen. Dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar, ein Schilderwald erklärt dem unmündigen Bürger, wie er sich zu verhalten hat.
Inzwischen arbeitet das Büro Richez an der Neugestaltung der Ringstraße – aber nicht in Wien, sondern in Orléans. Auch dort ersetzte eine Prachtstraße die Stadtbefestigung, und auch dort wurde sie durch den Autoverkehr verwüstet: Mit ihren Parkplätzen und Unterführungen ist sie dem Wiener Gürtel ähnlich. Nun erhält sie ihre Schönheit zurück, mit Aufenthaltsräumen in höchster Qualität, gesamtheitlich entworfen und abgestimmt auf die historische Bedeutung der Umgebung. Die Strukturen zum „Fortkommen“ verschwinden, die Straße lädt künftig wieder ein, die Stadt in all ihrer Sinnlichkeit und Eleganz zu erleben.
Gleichzeitig entwickelte sich die urbane Gesellschaft durch den Zugang zu Information. Man bewegt sich durch komplexe Räume – intuitiv lesbar, schaffen sie das passende Umfeld für die Funktion und schaffen Identität: Man „kennt sich aus“. Die Städte unterscheiden sich in spezifischen Details, an denen man sie auf den ersten Blick erkennt: Neben der Bauweise der Wohnhäuser sind es spezifische Ikonen – die roten Telefonzellen in London, die Metrostationen in Paris –, dazu kommen Details, die die Bewohner mit ihrer Stadt verbinden. In Wien können das die flachen Stufen der Stadtbahnstationen sein, die Würfeluhren, das Straßenpflaster, die Würstelstände: All das prägt den Charakter der Stadt in einer Welt, die immer gleichförmiger wird.
Fußgängerzonen entstanden aus „Notwehr“
Der große Umbruch kam mit dem Auto: Es hat die Menschen aus dem Straßenraum vertrieben, das Fernsehen wurde zum Ersatz für echtes Stadtleben. Städte verändern sich mit der Gesellschaft; der Umbau zur „autogerechten Stadt“ war die größte Veränderung, neue Strukturen zum „Fortkommen“ eliminierten die Orte des „Dableibens“ in den Städten, die früher für das Erleben und das Tempo der Fußgänger konzipiert waren. Sogar Prachtboulevards wie die Wiener Ringstraße wurden zu linear gestalteten Transitschneisen, ergänzt um Werbetafeln, Schaltkästen, Verkehrsampeln, angepasst an die höheren Geschwindigkeiten. Gleichsam aus „Notwehr“ entstanden Fußgängerzonen, die in allen Städten ähnlichen Gestaltungsprinzipien folgten; damit wurden die Zentren verwechselbar, verloren die Städte ihre Identität. Ein österreichischer Architekt kämpfte gegen diese Ortlosigkeit an: In den USA war dieser Prozess schon weiter fortgeschritten, in den gesichtslosen Vorstädten wollte der nach Amerika vertriebene Architekt Victor Gruen in den 1950er-Jahren Shoppingmalls mit Plätzen nach dem Muster europäischer Metropolen aufwerten.
In diesen dauerte es aber noch länger, bis öffentliche Räume als Aufenthaltsraum wiederentdeckt wurden. In Frankreich sind die Bürger seit der Revolution 1789 gewöhnt, gesellschaftliche Fragen auf der Straße zu verhandeln; hier begann auch die Requalifikation der Stadträume früher. Gesamtheitlich gedachte Stadtumbauten wurden als Chance zur Reurbanisierung vernachlässigter Innenstädte gesehen, dazu renommierte Architekten und Landschaftsplaner beauftragt. Nun wurden Fahrbahnen eliminiert, Promenaden angelegt, frühere Verkehrsflächen zu wunderschönen Aufenthaltsorten. Inzwischen ist es Standard geworden, Stadträume in höchster Qualität neu zu gestalten.
„Es ist einfach der Respekt vor den Bürgern“, sagt Pierrick Aubert, Studioleiter für Transport und öffentliche Räume bei Richez Associés, dem bekanntesten Architekturbüro Frankreichs in diesem Fachbereich. „Mit jedem neuen Projekt bringen wir Schönheit und Wertschätzung in die Stadt – das spüren die Menschen. Auch in sozial schwierigen Gegenden beobachteten wir nach den Neugestaltungen, dass weniger Wände beschmiert werden. Die Bewohner fühlen sich wahrgenommen und reagieren darauf.“ In Orléans hat das Büro zentrale Plätze umgebaut, diskret und stimmig. Die Erneuerung war umfassend: Kein Stein blieb auf dem anderen, die Straßenoberfläche wurde zur dritten Fassade zwischen den angrenzenden Häusern, jedes Detail sorgsam entworfen. Berücksichtigt wird die „DNA der Stadt“, Material und Formen nehmen Bezug auf die lokale Geschichte; inzwischen sind Neugestaltungen ohne Mitarbeit von Architekturbüros fast undenkbar.
Sprung nach Wien. Hier löst der Wunsch nach einer „klimafitten Stadt“ Umbauten aus, Schönheit steht aber nicht auf der Agenda. Das war nicht immer so: Noch in den 1980er-Jahren wurden bekannte Architekten mit dem Design beauftragt. Hans Hollein gestaltete den Kohlmarkt, Boris Podrecca die Meidlinger Fußgängerzone und ein stimmiges Programm von Stadtleuchten. Von Luigi Blaus Stadtmöbel-Serie blieb nur das Tramway-Wartehäuschen als neue Wiener Ikone. Verständnis für die so wichtige Kontinuität gibt es heute nicht mehr: Die historischen Kandelaber sind verschwunden, die Würfeluhr konnte nur knapp gerettet werden, sogar das für Wien typische Haltestellensymbol der Straßenbahn wird durch aussagelose Pfosten ersetzt. Auch die neu gestalteten Parks und Plätze sehen ähnlich nichtssagend aus, überall beherrschen unmaßstäbliche Strukturen das Bild, die Bodenbeläge sind glatt und abweisend.
Überzogene Normen
Verantwortlich dafür sind überzogene Normen, auf die sich die Verwaltung beruft: Die Stadt wird praktisch, aber hässlich, ein schlichtes Nicht-Design wird bei allen Projekten durchgezogen. Formlose Betonblöcke umgeben banal bepflanzte Staudenbeete, charmante Orte entstehen nicht. Während sich andere Städte in feinsten Nadelstreif kleiden, trägt Wien Jogginghose – formlos, schmucklos, lieblos. Der tatsächliche Grund sitzt tief: Anders als französische Städte ist Wien immer noch von Metternich’scher Lust an Kontrolle geprägt, der Aufenthalt im Freien gilt als verdächtig, die Stadt hat Angst vor „herumlungernden“ Personen. Dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar, ein Schilderwald erklärt dem unmündigen Bürger, wie er sich zu verhalten hat.
Inzwischen arbeitet das Büro Richez an der Neugestaltung der Ringstraße – aber nicht in Wien, sondern in Orléans. Auch dort ersetzte eine Prachtstraße die Stadtbefestigung, und auch dort wurde sie durch den Autoverkehr verwüstet: Mit ihren Parkplätzen und Unterführungen ist sie dem Wiener Gürtel ähnlich. Nun erhält sie ihre Schönheit zurück, mit Aufenthaltsräumen in höchster Qualität, gesamtheitlich entworfen und abgestimmt auf die historische Bedeutung der Umgebung. Die Strukturen zum „Fortkommen“ verschwinden, die Straße lädt künftig wieder ein, die Stadt in all ihrer Sinnlichkeit und Eleganz zu erleben.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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