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Mit den Gezeiten gehen

Rotterdam ist geprägt vom Wasser, doch bisher war dieses fast ausschließlich für Hafen und Industrie reserviert. Jetzt will die Stadt die harten Uferkanten aufweichen und das Wasser zum öffentlichen Raum machen.
26. Juli 2025 - Maik Novotny
Es gibt immer wieder Fragen im Leben, die stellt man sich zum allerersten Mal. Zum Beispiel: Werden Kühe eigentlich seekrank? Man stellt sie sich dann, wenn man die Rampe zur Floating Farm im Rotterdamer Merwehaven hinaufsteigt. Ein etwa quadratisches Floß, auf dessen Oberdeck 40 Kühe gemütlich Heu jausnen. Im Hintergrund Lagerhallen, Kräne, ein Kreuzfahrtschiff. Die Kühe haben viel Frischluft und Tageslicht – aber auch leicht schwankenden Boden unter den Hufen.
Die Frage, ob den Kühen eh nicht schlecht wird, musste auch Minke van Wingerden beantworten, um die Genehmigung für ihren schwimmenden Bauernhof zu bekommen. „Wir haben die Forscher der Universität Utrecht gefragt, und die meinten: kompliziert!“ Der Nachweis gelang, grünes Licht für die Farm. Diese schwimmt nicht aus Spaß im Hafen, sondern als ernsthaftes Pionierprojekt. „Wir wollen die Nahrungsmittelproduktion näher zur Stadt bringen und den Bewohnern zeigen, wie die Produkte entstehen“, sagt van Wingerden. Dabei setzt man komplett auf Kreislaufwirtschaft: Futter kommt aus der Maische einer Brauerei, deren Biere im Gegenzug im Shop verkauft werden. Aus dem Kuhmist wird Düngemittel, auch an einer Verwertung als Baumaterial wird gemeinsam mit Universitäten geforscht. Käse, Joghurt und Butter gibt es jetzt schon.
Diese pragmatische Lust am Einfach-Machen ist typisch für die calvinistischen Niederlande. Auch das Bild der Natur als etwas Künstliches und Planbares prägt die Mentalität des Landes, das sein Selbstverständnis in der Verteidigung gegen die Fluten gründete. Wasser war mehr Feind als Freund. In Rotterdam, dessen Mündungsdelta erst 1872 mit dem Anlegen des Nieuwe Waterweg gezähmt wurde, heißt Wasser: Logistik und Tonnagen, Kräne und Container.
Tidenhub als Erlebnis
Doch das ändert sich. Zum Beispiel im Keilehaven, einen Kilometer von der Floating Farm entfernt. Dessen Hafenbecken wurde von den Stadt- und Landschaftsplanern von De Urbanisten in einen Gezeitenpark verwandelt, die senkrechte Kaimauer wurde zur flachen Terrassenlandschaft. „Seit über einem Jahrhundert war die natürliche Landschaft aus der Stadt verbannt“, sagt Urbanisten-Gründer Dirk van Peijpe, der auf der obersten Terrasse steht. „Die Leute haben vergessen, dass der Fluss überhaupt Gezeiten hat, weil man gar nicht an ihn herankommt. Der Park macht das Wasser wieder erlebbar und bringt mehr Lebensqualität in die Stadt.“ Dank des Tidenhubs von 1,7 Metern ist der Park in permanenter Veränderung begriffen, neue Pflanzen wurden zentimetergenau für die jeweilige Seehöhe ausgewählt.
Dieses Aufweichen der harten Kante ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Masterplans, an dem die Stadtverwaltung, die Wasser- und Hafenbehörden und mehrere Umweltorganisationen beteiligt sind. 2024 beschloss der Stadtrat den „Wateratlas“, der den Stadtplan und die Stadtwahrnehmung komplett umstülpt und die Wasserflächen als öffentlichen Raum für Erholung und Freizeit neu definiert.
„Der Hafen ist über die Jahrzehnte immer weiter Richtung Nordsee gewandert“, sagt Pieter de Greef, Planer bei der Stadtverwaltung und Miterfinder des Wateratlas. Schon in den 1990er-Jahren wagte Rotterdam den „Sprung übers Wasser“ und erschloss den Süden der Stadt am anderen Ufer der Maas. Seitdem hat sich das früher ärmliche Gegenüber zu einem hochverdichteten Konzentrat aus Wolkenkratzern, Museen und Restaurants gewandelt. „Es ist unübersehbar, dass der Fluss jetzt tatsächlich die Mitte der Stadt bildet“, sagt de Greef. Hinzu kam das rapide Wachstum der Metropole, deren Image sich von spröder Ruppigkeit zum begehrten und auf allen Verkehrsträgern bestens vernetzten Wohnort gewandelt hat.
„Eine wachsende Stadt braucht Freiräume, und diese werden immer knapper“, sagt der Stadtplaner. „Unsere einzige Möglichkeit, neue Freiflächen hinzuzufügen, ist das Wasser. Also fragten wir uns: Warum machen wir Fluss und Hafenbecken nicht zu einem Ort, an dem man die Gezeiten erleben kann? Wenn wir jene Teile des Hafens vernetzen, die für Industrie nicht mehr gebraucht werden, kann das in der Zukunft ein richtiger Central Park werden.“ Dass eine der wichtigsten Wasserstraßen des Kontinents nicht komplett zur niedlichen Freizeitoase werden kann, ist natürlich klar. „Die Verkehrsachse der Binnenschifffahrt wird immer bestehen, und das prägt auch die Identität.“
Kino im Grätzelhafen
Neben den Gezeitenparks lanciert der Wasseratlas noch eine Fülle weiterer Ideen. Der Stadtstrand am Rijnhaven ist bereits in Arbeit, hier soll man spätestens 2028 –falls die Wasserqualität mitmacht – zwischen Metrostation und Hochhaus-Skyline in den Wellen planschen können. An den stilleren Verästelungen des Hafenlabyrinths entstehen sogenannte „Buurthavens“, was sich auf Wienerisch wohl mit Grätzelhafen übersetzen ließe. Hier können schwimmende Kinos, Theater oder Pools vor Anker gehen.
Neue Freiflächen – das weckt natürlich neue Begehrlichkeiten bei Developern. Doch hier schiebt der Wateratlas klugerweise schon den Riegel vor. Eine Privatisierung des Wassers, etwa durch schwimmende Luxusvillen, wird von vornherein ausgeschlossen, nur temporäre Nutzungen sind erlaubt. Der öffentliche Raum soll öffentlich bleiben. Dass man auch mit temporären Nutzungen gut Geld verdienen kann, muss bei den kaufmännisch gesinnten Niederländern nicht extra dazugesagt werden.
Um jetzt schon zu spüren, wie der Wateratlas das Bild der Stadt verändern kann, fährt man am besten ein Stück maasaufwärts nach Brienenoord Eiland. Diese 1400 Meter lange Flussinsel in unwirtlichem Umfeld hinter dem Stadion von Feyenoord Rotterdam war in Vergessenheit geraten und kaum zugänglich. Heute herrscht hier Naturromantik mit Schilf und Sandbank, neue Brücken wurden angelegt, zottelige Schottische Hochlandrinder stapfen durchs Gebüsch. An der Landspitze ragen Rohre aus Cortenstahl aus dem Boden – einer der „Maas Points“, einer Reihe von fünf neuen Erlebnispunkten am Fluss, entworfen von Next Architects. Vom Aussichtsbalkon dazwischen geht der Blick übers Wasser Richtung Skyline. Schon ein bisschen Central Park.
Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.
Die Frage, ob den Kühen eh nicht schlecht wird, musste auch Minke van Wingerden beantworten, um die Genehmigung für ihren schwimmenden Bauernhof zu bekommen. „Wir haben die Forscher der Universität Utrecht gefragt, und die meinten: kompliziert!“ Der Nachweis gelang, grünes Licht für die Farm. Diese schwimmt nicht aus Spaß im Hafen, sondern als ernsthaftes Pionierprojekt. „Wir wollen die Nahrungsmittelproduktion näher zur Stadt bringen und den Bewohnern zeigen, wie die Produkte entstehen“, sagt van Wingerden. Dabei setzt man komplett auf Kreislaufwirtschaft: Futter kommt aus der Maische einer Brauerei, deren Biere im Gegenzug im Shop verkauft werden. Aus dem Kuhmist wird Düngemittel, auch an einer Verwertung als Baumaterial wird gemeinsam mit Universitäten geforscht. Käse, Joghurt und Butter gibt es jetzt schon.
Diese pragmatische Lust am Einfach-Machen ist typisch für die calvinistischen Niederlande. Auch das Bild der Natur als etwas Künstliches und Planbares prägt die Mentalität des Landes, das sein Selbstverständnis in der Verteidigung gegen die Fluten gründete. Wasser war mehr Feind als Freund. In Rotterdam, dessen Mündungsdelta erst 1872 mit dem Anlegen des Nieuwe Waterweg gezähmt wurde, heißt Wasser: Logistik und Tonnagen, Kräne und Container.
Tidenhub als Erlebnis
Doch das ändert sich. Zum Beispiel im Keilehaven, einen Kilometer von der Floating Farm entfernt. Dessen Hafenbecken wurde von den Stadt- und Landschaftsplanern von De Urbanisten in einen Gezeitenpark verwandelt, die senkrechte Kaimauer wurde zur flachen Terrassenlandschaft. „Seit über einem Jahrhundert war die natürliche Landschaft aus der Stadt verbannt“, sagt Urbanisten-Gründer Dirk van Peijpe, der auf der obersten Terrasse steht. „Die Leute haben vergessen, dass der Fluss überhaupt Gezeiten hat, weil man gar nicht an ihn herankommt. Der Park macht das Wasser wieder erlebbar und bringt mehr Lebensqualität in die Stadt.“ Dank des Tidenhubs von 1,7 Metern ist der Park in permanenter Veränderung begriffen, neue Pflanzen wurden zentimetergenau für die jeweilige Seehöhe ausgewählt.
Dieses Aufweichen der harten Kante ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Masterplans, an dem die Stadtverwaltung, die Wasser- und Hafenbehörden und mehrere Umweltorganisationen beteiligt sind. 2024 beschloss der Stadtrat den „Wateratlas“, der den Stadtplan und die Stadtwahrnehmung komplett umstülpt und die Wasserflächen als öffentlichen Raum für Erholung und Freizeit neu definiert.
„Der Hafen ist über die Jahrzehnte immer weiter Richtung Nordsee gewandert“, sagt Pieter de Greef, Planer bei der Stadtverwaltung und Miterfinder des Wateratlas. Schon in den 1990er-Jahren wagte Rotterdam den „Sprung übers Wasser“ und erschloss den Süden der Stadt am anderen Ufer der Maas. Seitdem hat sich das früher ärmliche Gegenüber zu einem hochverdichteten Konzentrat aus Wolkenkratzern, Museen und Restaurants gewandelt. „Es ist unübersehbar, dass der Fluss jetzt tatsächlich die Mitte der Stadt bildet“, sagt de Greef. Hinzu kam das rapide Wachstum der Metropole, deren Image sich von spröder Ruppigkeit zum begehrten und auf allen Verkehrsträgern bestens vernetzten Wohnort gewandelt hat.
„Eine wachsende Stadt braucht Freiräume, und diese werden immer knapper“, sagt der Stadtplaner. „Unsere einzige Möglichkeit, neue Freiflächen hinzuzufügen, ist das Wasser. Also fragten wir uns: Warum machen wir Fluss und Hafenbecken nicht zu einem Ort, an dem man die Gezeiten erleben kann? Wenn wir jene Teile des Hafens vernetzen, die für Industrie nicht mehr gebraucht werden, kann das in der Zukunft ein richtiger Central Park werden.“ Dass eine der wichtigsten Wasserstraßen des Kontinents nicht komplett zur niedlichen Freizeitoase werden kann, ist natürlich klar. „Die Verkehrsachse der Binnenschifffahrt wird immer bestehen, und das prägt auch die Identität.“
Kino im Grätzelhafen
Neben den Gezeitenparks lanciert der Wasseratlas noch eine Fülle weiterer Ideen. Der Stadtstrand am Rijnhaven ist bereits in Arbeit, hier soll man spätestens 2028 –falls die Wasserqualität mitmacht – zwischen Metrostation und Hochhaus-Skyline in den Wellen planschen können. An den stilleren Verästelungen des Hafenlabyrinths entstehen sogenannte „Buurthavens“, was sich auf Wienerisch wohl mit Grätzelhafen übersetzen ließe. Hier können schwimmende Kinos, Theater oder Pools vor Anker gehen.
Neue Freiflächen – das weckt natürlich neue Begehrlichkeiten bei Developern. Doch hier schiebt der Wateratlas klugerweise schon den Riegel vor. Eine Privatisierung des Wassers, etwa durch schwimmende Luxusvillen, wird von vornherein ausgeschlossen, nur temporäre Nutzungen sind erlaubt. Der öffentliche Raum soll öffentlich bleiben. Dass man auch mit temporären Nutzungen gut Geld verdienen kann, muss bei den kaufmännisch gesinnten Niederländern nicht extra dazugesagt werden.
Um jetzt schon zu spüren, wie der Wateratlas das Bild der Stadt verändern kann, fährt man am besten ein Stück maasaufwärts nach Brienenoord Eiland. Diese 1400 Meter lange Flussinsel in unwirtlichem Umfeld hinter dem Stadion von Feyenoord Rotterdam war in Vergessenheit geraten und kaum zugänglich. Heute herrscht hier Naturromantik mit Schilf und Sandbank, neue Brücken wurden angelegt, zottelige Schottische Hochlandrinder stapfen durchs Gebüsch. An der Landspitze ragen Rohre aus Cortenstahl aus dem Boden – einer der „Maas Points“, einer Reihe von fünf neuen Erlebnispunkten am Fluss, entworfen von Next Architects. Vom Aussichtsbalkon dazwischen geht der Blick übers Wasser Richtung Skyline. Schon ein bisschen Central Park.
Compliance-Hinweis: Die Reise nach Rotterdam erfolgte auf Einladung von Rotterdam Partners.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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