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Poesie in Beton
Der Standard

Le Havre ist die größte Stadt der Normandie. Das in den 1950er-Jahren von Auguste Perret vollkommen neu errichtete Stadtzentrum feierte im Juli sein 20-jähriges Jubiläum als Unesco-Welterbe – mit einem Wermutstropfen.

23. August 2025 - Cornelia Ganitta
Wer denkt, Beton sei grau und kalt, der irrt – zumindest in Le Havre. Hier, in der normannischen Hafenstadt, ist er beige und schimmert je nach Lichteinfall golden. Besonders gut zu sehen ist das an der Kirche Saint-Joseph, deren 12.768 farbige Glasfenster den Beton vor allem bei Sonnenauf- und -untergang in ein warmes Licht tauchen. Der 107 Meter hohe Turm ist eine Art Mahnmal, wie Stadtführerin Lise Legendre-Onijas erklärt: „Die Kirche ist das Symbol für die spirituelle Wiedergeburt der Stadt.“ Um das zu verstehen, muss man ziemlich genau 81 Jahre zurückgehen.

Im September 1944 fielen tausende Bomben der britischen Luftwaffe auf die Stadt an der Mündung der Seine. Ziel war es, den strategisch wichtigen Hafen zu übernehmen. Mit verheerenden Folgen: Bereits während der ersten beiden Tage des Bombardements verloren rund 2000 Zivilisten ihr Leben, 40.000 wurden obdachlos und 12.500 Häuser zerstört. Nach insgesamt 132 Bombenangriffen war das Herz der Stadt in Schutt und Asche gelegt.

Stein des 20. Jahrhunderts

Nach dem Krieg beauftragte der französische Minister für Wiederaufbau den Pariser Architekten Auguste Perret mit der Neugestaltung der Stadt. Da es kaum Baumaterial gab, schien der damals schon über 70-jährige Perret, der sich als gestalterischer Innovator des schlank dimensionierten Stahlbetons einen Namen gemacht hatte, für diese Aufgabe prädestiniert. In einem beispiellosen Kraftakt gelang es ihm, gemeinsam mit 20 (später 100) beteiligten Architekten das Zentrum der Stadt innerhalb von 20 Jahren mit dem „Stein des 20. Jahrhunderts“ wieder aufzubauen. Ab 1946 entstanden auf 133 Hektar streng geometrische, mehrstöckige Häuserblöcke, die Wohnraum für 60.000 Menschen boten. Es wurden aber auch Verwaltungsgebäude, Schulen, neue Hafenanlagen sowie die Kirche Saint-Joseph gebaut, die als Perrets Meisterwerk gilt, jedoch erst nach seinem Tod im Jahr 1957 eröffnet wurde.

Entsprechend seiner Devise, dass das Skelett eines Gebäudes vergleichbar mit dem eines Tieres sei, verwendete Perret für seine Häuser eine Skelettbauweise, bei der die Stützen vom Boden bis zum Dach reichen und horizontal durch Träger verbunden sind. Die Zwischenräume wurden mit vorgefertigten Platten ausgefüllt. Der Abstand zwischen den Stützen betrug durchgehend 6,24 Meter. Dieses standardisierte Maß reduzierte die Kosten und verkürzte die Bauzeit. So schufen Perret und sein Team ein neues orthogonales Straßenraster mit regelmäßigen Baublöcken im neoklassizistischen Stil.

Die Wohnungen verfügten über hohe Fenster, geräumige Wohnzimmer, amerikanische Küchen und eine kollektive Umluftheizung. Alle Räume waren mit Parkettböden ausgestattet und konnten durch Schiebewände unterteilt werden. In einer Musterwohnung in der Rue de Paris sind heute noch Möbel und Objekte aus dem „Goldenen Zeitalter“ des Mid-Century-Designs mit all seinen modernen Errungenschaften wie Kühlschrank, Waschmaschine und Müllschlucker zu sehen. „Die Wohnungen waren in erster Linie als Entschädigung für diejenigen gedacht, die an gleicher Stelle ihre Häuser und Villen verloren hatten. Es gab keine neuen Villen, sondern eine oder mehrere Wohnungen, je nachdem, was die Bewohner vor der Zerstörung besessen hatten“, weiß Legendre-Onijas.

Zwei weitere große Architekten hinterließen später ihre Spuren und durchbrachen den allgegenwärtigen Einheitsstil Perrets: Oscar Niemeyer, der für den Bau der Stadt Brasília verantwortlich zeichnete, schuf ein weißes, von Le Corbusier inspiriertes Kulturzentrum, das 1982 eingeweiht wurde und im Volksmund nur „Volcan“ genannt wird, weil es die Form eines abgeschnittenen Vulkankegels hat. Wenige Jahre später folgte mit der Mediathek der „kleine Volcan“, der ganz im Sinne der sozialistischen Philosophie Niemeyers „dem Volke“ dient. In den 2000er-Jahren entwarf der französische Stararchitekt Jean Nouvel auf dem alten Hafengelände der Stadt, das derzeit vollständig urbanisiert wird, ein Freizeitbad, das sich an römischen Thermen orientiert. Mit ihrer weißen Fassade, dem riesigen Außenbecken und den offenen Fenstern sind die Bains des Docks ein beliebter Sporttreff, der auch außerhalb Frankreichs seinesgleichen sucht.

Welterbetitel 2005

Vor allem Niemeyers Bau fügt sich gut in das von Perret geschaffene Stadtensemble ein. Vermutlich diente der Volcan-Komplex auch als Referenz für die Unesco, die Le Havre im Jahr 2005 den Welterbetitel für seine einzigartige städtebauliche Leistung nach dem Krieg verlieh. Neben Brasília ist Le Havre somit die einzige Stadt, die diesen Titel aufgrund ihrer herausragenden Architektur des 20. Jahrhunderts erhalten hat.

Doch einer der jüngsten Neubauten der Stadt mag sich nicht so recht in das Raster einfügen: der 55 Meter hohe Wohnturm Alta Tower, der seit Dezember 2023 aus dem Welterbe herausragt und Perrets Kirche, die die Skyline von Le Havre dominiert, in ihrer Einzigartigkeit bedrängt.

Dieser jüngste architektonische Höhepunkt aus der Feder des Pariser Büros Hamonic + Masson & Associés befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Niemeyers Kulturkomplex. Mit seiner geschwungenen Form knüpft der spiralförmige Turm an die Architektur des Brasilianers an. Auch den hellen Beton teilt das Gebäude mit Perrets Masterplan und Niemeyers Solitären. Das hat die Welterbe-Kommission der Unesco jedoch nicht überzeugt. Im Gegenteil. In ihrer Analyse zeigte sie sich verärgert darüber, dass sie nicht informiert worden sei, bevor die Stadt „schwer rückgängig zu machende Entscheidungen“ getroffen habe. Sie kritisierte das 17-geschoßige Gebäude mit seinen 64 Wohnungen und forderte die Stadt auf, Änderungen vorzunehmen. Der Turm sei zu hoch, zu grau und stehe in keinem Zusammenhang mit seiner Umgebung. Außerdem beanstandete sie die Beleuchtung und die Tatsache, dass das Erdgeschoß, in dem sich eine Kindertagesstätte befindet, wichtige städtebauliche Blickachsen versperre. Zu guter Letzt wurde dem französischen Staat mangelnde Transparenz vorgeworfen.

Nicht als bedroht eingestuft

Natürlich lässt sich die Höhe eines Gebäudes im Nachhinein nicht ändern. Die anderen bemängelten Punkte wurden und werden jedoch geprüft und sollen gegebenenfalls angepasst werden. Ende gut – alles gut? Es scheint, als sei die Stadt trotz aller Kritik noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, denn bisher wurde sie nicht als bedroht eingestuft. So konnte Le Havre im Juli optimistisch und ungehindert sein 20-jähriges Welterbe-Jubiläum feiern. Ein Schelm, wer dabei an ein anderes Turmprojekt denkt, das seit über zehn Jahren den architektonischen Welterbe-Diskurs einer europäischen Großstadt bestimmt: das Heumarkt-Hochhaus in Wien.

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