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Neue Universitätsbibliothek in Amsterdam: Lesen, wo früher Pestkranke lagen

Nach zwölf Jahren Renovierung wurde die neue Universitätsbibliothek am 1. September eröffnet: Ein komplexer Entwurf, Arbeitskräftemangel, Materialpreissteigerungen und der überraschend schlechte Zustand der Altsubstanz ließen die Kosten auf 140 Millionen Euro explodieren.
15. Oktober 2025 - Harald A. Jahn
Amsterdams zentral gelegener Bereich, begrenzt von den Grachten Rokin und Kloveniersburgwal, ist jedem Touristen bekannt: Auf dem Weg vom Bahnhof Richtung Süden landet man im Rotlichtviertel, wo sich Coffeeshops mit einschlägigen Angeboten abwechseln. Am Ende dieses aufregenden Spaziergangs liegt das Universitätsgelände, dessen verwinkelte Innenhöfe wegen ihres halb privaten Charakters und der unübersichtlichen Baustellen bisher nicht zum Durchqueren einluden. Nun wurden die Bauzäune weggeräumt, und die restaurierten historischen Backsteingebäude kamen wieder zum Vorschein. Sie verbergen ein Großprojekt, das man in der kleinteiligen Bebauung nicht erwartet: Die neue Universitätsbibliothek von MVSA Architects ist spektakulär – aber fast unsichtbar.
Es war ein altes Krankenhaus, das 1981 die letzten Patienten sah. Die Wurzeln dieser Klinik reichen bis ins Mittelalter zurück, die früheren Klostergebäude wurden zum Sint-Pieters-Gasthuis, einem Armenhospital, das 1897 zur Zweiten Chirurgischen Klinik modernisiert worden war. Zusammen mit dem Schwesternwohnheim und einem Telekommunikationsturm entstand ein dreieckiger Innenhof. Schon damals wurden hier Medizinstudenten ausgebildet: Ein anatomisches Theater – diese kleinen Amphitheater waren im 19. Jahrhundert eine populäre Einrichtung – ermöglichte ihnen die Beobachtung von pathologischen Untersuchungen. 1982 kaufte die Universität den Komplex, hier entstand die geisteswissenschaftliche Fakultät.
Gräber kamen zum Vorschein
Erste Ideen für die Bibliothek gab es schon in den 1990er-Jahren, erst ging man von einem Komplettabbruch aus. Das andalusische Architekturbüro Cruz y Ortiz zeichnete bereits Pläne, damals war man noch von 66 Millionen Gesamtbaukosten ausgegangen. Eine riesige Protestwelle verhinderte dann aber den Abriss des historischen Spitals und führte zur Neuplanung im Bestand. 2013 gab es eine neue Ausschreibung, die vom Konsortium MVSA & Buro Van Stigt gewonnen wurde. Das Projekt war schwierig: Das Grundstück gehört zum Unesco-Weltkulturerbe, die historischen Baukörper sind denkmalgeschützt.
Ab 2018 wurde endlich mit der Asbestsanierung, den Teilabrissen und der archäologischen Beforschung begonnen, Pestgruben und Gräber kamen zum Vorschein. In den folgenden Jahren mussten die Kostenschätzungen laufend nach oben korrigiert werden. Der enge Bauplatz im Zentrum der historischen Stadt umgeben von Grachten und baufälligen Kaimauern war eine Herausforderung, fast im Jahresrhythmus setzte die Universität die zu erwartenden Kosten hinauf.
Die Architekten überspannten den gesamten Innenhof mit einem geometrisch komplexen Glasdach von 1200 Quadratmetern. Inspiration waren die organischen Formen der Natur, aber auch das Frankfurter Einkaufszentrum MyZeil vom Studio Fuksas. Allerdings erwiesen sich die Altbauten als zu wenig tragfähig und mussten aufwendig verstärkt werden. Die neue Struktur dient nicht nur als Wetterschutz, sondern auch als Klimapuffer. Die historischen Fassaden erhielten zwar eine Isolierung, die Überdachung des Atriums ist für die Nachhaltigkeitsziele aber unverzichtbar. Wie ein großes Blatt mit Adern liegt das Dach nun über dem dreieckigen Hof, ein dezentraler „Baumstamm“ stützt es, leitet Regenwasser nach unten und dient als Treppenhaus für die ruhigen Obergeschoße.
Auch schwebende Plattformen mit Arbeitsplätzen sind von hier aus zugänglich, Form und Farbe kontrastieren mit den historischen Ziegelfassaden. Der symbolische Baum wurzelt unterhalb des Hauptniveaus: Schwierigster Eingriff in die Bestandsstruktur ist die Tiefgarage unter einem Großteil der Altbauten. Hunderte Fahrräder, aber auch Umkleideräume und Duschen finden hier Platz – für niederländische Alltagsradler notwendige und gewohnte Ergänzung der Infrastruktur. Auf demselben Niveau liegt auch der „Salon“, eine Grube im Atriumhof, die für Licht in der Garage sorgt und als Begegnungs- und Entspannungsbereich für die Studierenden gedacht ist. Durch die neuen, generell weißen Einbauten, die zahlreichen knallroten Lesesofas und die dominante Dachstruktur treten die historischen Fassaden nun etwas zurück und wirken mit ihren gleichmäßig erleuchteten Fenstern wie ein riesiges Puppenhaus.
Poetische Kunstwerke
Die innere Organisation ist plausibel: Auf Erdgeschoßniveau sind die allgemeinen Funktionen wie Lern- oder Besprechungsräume angeordnet, die eigentliche Bibliothek ist großteils in den Zimmern des Altbaus untergebracht, damit wurden angenehm intime Räume geschaffen. Die roten Sitzbänke sind im gesamten Komplex verteilt. Besonders reizvoll sind die Leseplätze auf den alten Balkonen, die das Atrium überblicken. Spezielles Highlight ist das erhalten gebliebene Anatomietheater, das nun als Hörsaal dient.
Die einzige von außen als Neubau erkennbare Struktur ist der Anbau an der markanten Südecke des Universitätsviertels. Er ist auch das Wahrzeichen des Campus, die Fassade besteht aus dem Satz „Lies doch! Da steht nicht, was da steht“ des Dichters und Dramatikers Martinus Nijhoff – in 24 Sprachen und plastischen Buchstaben aus dem 3-D-Drucker. Es ist nicht das einzige poetische Kunstwerk, im Hauptstiegenhaus ragen Bücher aus weißem Alabaster aus der Wand, geschaffen von Lynne Leegte: versteinerte Bücher als Hommage an das gedruckte Buch, das durch die Digitalisierung bedroht ist.
Im Vorfeld hatte es aber auch Kritik gegeben: Die über die Stadt verstreuten Institutsgebäude wurden aufgegeben, die Folgenutzungen befeuerten die Gentrifizierung. So wurde das Art-Deco-„Bungehuis“, seit 1971 von der Uni angemietet, zu einem teuren Members-Only-Club, der für die normale Bevölkerung unzugänglich ist. 2015 kam es hier sogar zu einer Hausbesetzung, die als „Battle of the Bungehuis“ in die Amsterdamer Stadtgeschichte einging.
Agora-Charakter
Die Vorahnungen waren nicht ganz unberechtigt: Die Durchwegung durch den neuen Campus ist zwar gelungen, die ideelle Vernetzung mit der Stadt ist durch den relativ abgeschlossenen Eindruck aber reduziert. Obwohl die Architekten ihr Projekt als offenen Treffpunkt beschrieben und der Direktor der Universität den Agora-Charakter betont, bleibt der Allgemeinheit der Zutritt ohne Bibliotheksausweis verschlossen.
Auch wenn es schwierig sein mag, an diesem Instagram-tauglichen Hotspot eine Balance zwischen Touristen und den Bedürfnissen der Lesenden zu finden, und auch wenn es wöchentliche Architekturführungen durch das Gebäude gibt: Diese Abschottung erscheint in einer Zeit der steigenden Wissenschaftsskepsis fragwürdig. Zu hoffen wäre, dass das Versprechen, einen frei zugänglichen Platz zu schaffen, doch noch eingelöst wird und die Zugangskontrollen eliminiert werden.
Es war ein altes Krankenhaus, das 1981 die letzten Patienten sah. Die Wurzeln dieser Klinik reichen bis ins Mittelalter zurück, die früheren Klostergebäude wurden zum Sint-Pieters-Gasthuis, einem Armenhospital, das 1897 zur Zweiten Chirurgischen Klinik modernisiert worden war. Zusammen mit dem Schwesternwohnheim und einem Telekommunikationsturm entstand ein dreieckiger Innenhof. Schon damals wurden hier Medizinstudenten ausgebildet: Ein anatomisches Theater – diese kleinen Amphitheater waren im 19. Jahrhundert eine populäre Einrichtung – ermöglichte ihnen die Beobachtung von pathologischen Untersuchungen. 1982 kaufte die Universität den Komplex, hier entstand die geisteswissenschaftliche Fakultät.
Gräber kamen zum Vorschein
Erste Ideen für die Bibliothek gab es schon in den 1990er-Jahren, erst ging man von einem Komplettabbruch aus. Das andalusische Architekturbüro Cruz y Ortiz zeichnete bereits Pläne, damals war man noch von 66 Millionen Gesamtbaukosten ausgegangen. Eine riesige Protestwelle verhinderte dann aber den Abriss des historischen Spitals und führte zur Neuplanung im Bestand. 2013 gab es eine neue Ausschreibung, die vom Konsortium MVSA & Buro Van Stigt gewonnen wurde. Das Projekt war schwierig: Das Grundstück gehört zum Unesco-Weltkulturerbe, die historischen Baukörper sind denkmalgeschützt.
Ab 2018 wurde endlich mit der Asbestsanierung, den Teilabrissen und der archäologischen Beforschung begonnen, Pestgruben und Gräber kamen zum Vorschein. In den folgenden Jahren mussten die Kostenschätzungen laufend nach oben korrigiert werden. Der enge Bauplatz im Zentrum der historischen Stadt umgeben von Grachten und baufälligen Kaimauern war eine Herausforderung, fast im Jahresrhythmus setzte die Universität die zu erwartenden Kosten hinauf.
Die Architekten überspannten den gesamten Innenhof mit einem geometrisch komplexen Glasdach von 1200 Quadratmetern. Inspiration waren die organischen Formen der Natur, aber auch das Frankfurter Einkaufszentrum MyZeil vom Studio Fuksas. Allerdings erwiesen sich die Altbauten als zu wenig tragfähig und mussten aufwendig verstärkt werden. Die neue Struktur dient nicht nur als Wetterschutz, sondern auch als Klimapuffer. Die historischen Fassaden erhielten zwar eine Isolierung, die Überdachung des Atriums ist für die Nachhaltigkeitsziele aber unverzichtbar. Wie ein großes Blatt mit Adern liegt das Dach nun über dem dreieckigen Hof, ein dezentraler „Baumstamm“ stützt es, leitet Regenwasser nach unten und dient als Treppenhaus für die ruhigen Obergeschoße.
Auch schwebende Plattformen mit Arbeitsplätzen sind von hier aus zugänglich, Form und Farbe kontrastieren mit den historischen Ziegelfassaden. Der symbolische Baum wurzelt unterhalb des Hauptniveaus: Schwierigster Eingriff in die Bestandsstruktur ist die Tiefgarage unter einem Großteil der Altbauten. Hunderte Fahrräder, aber auch Umkleideräume und Duschen finden hier Platz – für niederländische Alltagsradler notwendige und gewohnte Ergänzung der Infrastruktur. Auf demselben Niveau liegt auch der „Salon“, eine Grube im Atriumhof, die für Licht in der Garage sorgt und als Begegnungs- und Entspannungsbereich für die Studierenden gedacht ist. Durch die neuen, generell weißen Einbauten, die zahlreichen knallroten Lesesofas und die dominante Dachstruktur treten die historischen Fassaden nun etwas zurück und wirken mit ihren gleichmäßig erleuchteten Fenstern wie ein riesiges Puppenhaus.
Poetische Kunstwerke
Die innere Organisation ist plausibel: Auf Erdgeschoßniveau sind die allgemeinen Funktionen wie Lern- oder Besprechungsräume angeordnet, die eigentliche Bibliothek ist großteils in den Zimmern des Altbaus untergebracht, damit wurden angenehm intime Räume geschaffen. Die roten Sitzbänke sind im gesamten Komplex verteilt. Besonders reizvoll sind die Leseplätze auf den alten Balkonen, die das Atrium überblicken. Spezielles Highlight ist das erhalten gebliebene Anatomietheater, das nun als Hörsaal dient.
Die einzige von außen als Neubau erkennbare Struktur ist der Anbau an der markanten Südecke des Universitätsviertels. Er ist auch das Wahrzeichen des Campus, die Fassade besteht aus dem Satz „Lies doch! Da steht nicht, was da steht“ des Dichters und Dramatikers Martinus Nijhoff – in 24 Sprachen und plastischen Buchstaben aus dem 3-D-Drucker. Es ist nicht das einzige poetische Kunstwerk, im Hauptstiegenhaus ragen Bücher aus weißem Alabaster aus der Wand, geschaffen von Lynne Leegte: versteinerte Bücher als Hommage an das gedruckte Buch, das durch die Digitalisierung bedroht ist.
Im Vorfeld hatte es aber auch Kritik gegeben: Die über die Stadt verstreuten Institutsgebäude wurden aufgegeben, die Folgenutzungen befeuerten die Gentrifizierung. So wurde das Art-Deco-„Bungehuis“, seit 1971 von der Uni angemietet, zu einem teuren Members-Only-Club, der für die normale Bevölkerung unzugänglich ist. 2015 kam es hier sogar zu einer Hausbesetzung, die als „Battle of the Bungehuis“ in die Amsterdamer Stadtgeschichte einging.
Agora-Charakter
Die Vorahnungen waren nicht ganz unberechtigt: Die Durchwegung durch den neuen Campus ist zwar gelungen, die ideelle Vernetzung mit der Stadt ist durch den relativ abgeschlossenen Eindruck aber reduziert. Obwohl die Architekten ihr Projekt als offenen Treffpunkt beschrieben und der Direktor der Universität den Agora-Charakter betont, bleibt der Allgemeinheit der Zutritt ohne Bibliotheksausweis verschlossen.
Auch wenn es schwierig sein mag, an diesem Instagram-tauglichen Hotspot eine Balance zwischen Touristen und den Bedürfnissen der Lesenden zu finden, und auch wenn es wöchentliche Architekturführungen durch das Gebäude gibt: Diese Abschottung erscheint in einer Zeit der steigenden Wissenschaftsskepsis fragwürdig. Zu hoffen wäre, dass das Versprechen, einen frei zugänglichen Platz zu schaffen, doch noch eingelöst wird und die Zugangskontrollen eliminiert werden.
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