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werk, bauen + wohnen 11-25
Die Neunziger
werk, bauen + wohnen 11-25
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Worth a Detour, einen Abstecher wert – das war Rem Koolhaas 1991 der Furkapass, wie in seinem backsteindicken Kultbuch S, M, L, XL nachzulesen ist. Dort realisierte der Architekt, der die 1990er Jahre prägte wie kaum ein anderer, sein einziges Bauwerk in der Schweiz. Nach der Ära des Kunstprojekts Furkart oft geschlossen und das halbe Jahr unter einer Schneedecke, schien es gar nicht mehr klar, ob es diese räumliche Intervention am Hotel Furkablick je gegeben hat. Auch andere Architekturen der 1990er Jahre sind mit der Zeit etwas in Vergessenheit geraten. Sei es, weil sie nicht Teil des Œuvres von Architekturstars sind, die damals gross wurden, oder weil sie inzwischen zeitlich im toten Winkel zwischen Gegenwart und Geschichte gestrandet sind. Uns sind sie in diesem Heft einen Abstecher wert. Zurück in die Neunziger reisen wir auf der Suche nach den Grossthemen, die die Dekade in der Schweiz prägten.

In seinem einleitenden Essay sagt Philip Ursprung, das Land habe den Beginn des Jahrzehnts verschlafen (S. 6). Und das, obwohl die Welt gerade neu geordnet wurde. Ost und West trennte nicht weiter der Eiserne Vorhang, doch wollte die Europaeuphorie nicht recht auf die Schweiz überspringen. Der Zug der Globalisierung fuhr erst einmal ohne sie ab. Eine Rezession beutelte das Land, was auch Architekturschaffende zu spüren bekamen. Gebaut wurde wenig, öffentliche Aufträge waren rar. Die junge Generation etablierte den Minimalismus mit kleinen Projekten in den Regionen (S. 10). Andere zog es mit dem ETH-Diplom in der Tasche ins europäische Ausland, wurde doch in aufregenden Städten wie Berlin oder Barcelona gerade Zeitgeschichte geschrieben (S. 35).

Doch auch die Stadtlandschaft der Schweiz befand sich in einem epochalen Umbruch: Riesige Industrieareale in den Kernstädten fielen brach. Der Strukturwandel formte nicht nur die Dienstleistungsgesellschaft. Mit der Zwischennutzung von Fabrikarealen schuf er Freiräume und beflügelte Vorstellungen zur postindustriellen Stadt (S. 18). Die Peripherien der urbanisierten Schweiz waren ein weiteres Betätigungsfeld. Heinrich Helfenstein reflektierte deren Eigenschaften in eindrücklichen fotografischen Serien (S. 28). Seine Sicht stiess die wichtige räumliche Auseinandersetzung mit der Agglomeration an, die den Diskurs bis heute prägt.

Vom ständigen Beobachter zum Swiss Wonder
Die Schweiz in den 1990er Jahren
Philip Ursprung

Facettenreiche Romandie
Tendenzen in der Westschweizer Architektur der 1990er Jahre
Bruno Marchand

Industriequartier im epochalen Wandel
Pionierräume der Transformation in Zürich-West
Lucia Gratz, Margherita Spiluttini, Georg Aerni (Bilder)

Die Entdeckung der Peripherie
Zum Werk und Wirken von Heinrich Helfenstein
Urs Primas, Heinrich Helfenstein (Bilder)

Liebesbriefe an die Neunziger
Eine Generation auf Jobsuche

Zudem:

Debatte: Die diesjährige Architekturbiennale spielt das Loblied auf die Technik im Allgemeinen, die künstliche Intelligenz im Besondern. Wer zur Finissage reist, bevor die Türen Ende November schliessen, dem seien die klugen Fragen des Ökologen Christoph Küffer als Reiselektüre nach Venedig empfohlen. Seine Technikkritik weist über die Ausstellung hinaus.

Wettbewerb: Ein offener Wettbewerb für ein Hochhaus in Zürich, zudem eine hybride Nutzung aus Alterswohnungen und Pflege: Grund genug, genau hinzusehen. Nicht zuletzt, weil sich das siegreiche Team sinnvoll gegen den Gestaltungsplan stellt und auch einen cleveren Umgang mit dem Lärm anbietet.

Ausstellungen: Das Architekturzentrum Wien zeigt das Werk der indischen Architektin Anupama Kundoo. Unser Korrespondent Maik Novotny hat sie interviewt und berichtet von einer monografischen Schau, die das Thema über die Person zu stellen weiss. Dazu noch Tipps zu Ausstellungen über das Büro Ouest in Brüssel und über die Denkmalpflege in Zürich.

Bücher: Wie bleiben Spuren erhalten, wo keine bleiben sollten? Das Buch A future for whose past? beschäftigt sich mit dem Erbe von Minderheiten, Randgruppen und Menschen ohne Lobby. Es sucht nach neuen Instrumenten der Erinnerungskultur. Sarah Di Guisto-Rageth hat es gelesen. Ausserdem: Philip Ursprungs Blick auf die Architektur der Gegenwart und eine kriminalistische Untersuchung zu Rem Koolhaas’ Villa dall’Ava.

Dossier Wallonie: Wie kann ein Platz viele sein?: Ökologisch, sozial und partizipativ, so gelang die Neugestaltung der Place Marie Janson in Brüssel. Autor Kaye Geipel wohnt seit kurzem nebenan. Er fand einen Platz, den das Team aus dem Studio Paola Viganò zusammen mit VVV Architecture ohne grosse Gesten entsiegelte. Sie haben die Fläche in einen städtischen Grünraum verwandelt, der vieles zugleich anbietet.

Theater mit Tiefgang: Als Mensa geplant, wurde ein Bau in Louvain-la-Neuve noch während der Ausführung zum Theater umfunktioniert. Vierzig Jahre danach haben es Ouest architecture an heutige Anforderungen angepasst. Dafür drangen sie tief in das verborgene Betonraster vor, auf dem die gesamte Ville nouvelle aus den 1960er Jahren thront.

Weiterbauen in Lüttich: Maud André und Pierre de Wit trennen 21 Jahre. Zusammen führen sie das Büro dA architectes in Lüttich. Nach dem Genuss frischgebackener Lièger Gaufres zeigten sie Chefredaktor Roland Züger die Stadt, besichtigten Baustellen und jüngst errichtete Bauten – darunter auch die Transformation eines alten Bankgebäudes in eine Ballettschule.

werk-material: Kindergarten in Lamone von Krausbeck Santagostino Margarido

werk-material: Schulerweiterung mit Kinderkrippe und Hort in Chermignon von FRAR

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