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Als Studierende vor 100 Jahren über die Bauhaus-Fassaden kletterten

100 Jahre ist es her, dass das Bauhaus aus politischen Gründen von Weimar nach Dessau übersiedeln musste. Nicht gerechnet hatten die Lehrenden damals damit, wie der neue Ateliertrakt von den Studierenden genutzt werden würde.
21. November 2025 - Wolfgang Freitag
Einmal im Leben Bauhausstudent sein, vorgestelltermaßen, nur drei, vier Tage lang. Einmal dort wohnen, wo die Bauhausstudierenden wohnten, im Ateliertrakt des Bauhausgebäudes zu Dessau. Einmal auf einen dieser kleinen Balkone treten, auf diese kaum mehr als badetuchgroßen Betonplatten, und eine Ahnung davon bekommen, welche Euphorie es gewesen sein muss, damals, vor 100 Jahren, dass sich Studierende mitunter im Dutzend auf diesen Kleinstvorsprüngen drängten, die zu betreten heute „nur auf eigene Gefahr gestattet werden“ kann, so die mahnende Schrift, die jeder Gast erhält.
Balanceübungen und Fassadenkletterer
Es gibt Wünsche, von denen man erst weiß, nachdem sie sich erfüllt haben. Kein Dessaubesucher, der im Ateliertrakt des Bauhausgebäudes Quartier nimmt, wird sich dessen imaginativer Anziehungskraft entziehen können: von der Aula im Erdgeschoß mit der von Marcel Breuer so klug wie komfortabel gestalteten Bestuhlung bis zu den ehemaligen Studierendenstuben selbst samt ihrem Bauhausmobiliar und dem knapp zimmerbreiten Fensterband. Nicht zu vergessen – eben – die Balkone, damals alsbald zum Hauptort der Kommunikation unter den Studierenden erkoren. Und zum Sportgerät: Als Bauhausgründer Walter Gropius „sein Werk, das eben bezogene Bauhaus in Dessau, zu betrachten gedachte“, so die Erinnerung von Marianne Brandt, Bauhausstudentin und nachmalig Industriedesignerin von Rang, „bekam er einen nicht geringen Schrecken, da er feststellen musste, dass seine Bauhäusler Flachdach und Atelierfront zu Balanceübungen und als Fassadenkletterer benutzten.“ Bouldern nach Bauhaus-Art.
100 Jahre ist es her, dass Bauhaus-Lehrende und -Lernende von ihrer thüringischen Gründungsstätte, Weimar, ins anhaltische Dessau übersiedeln mussten. Politisch nämlich trennte die beiden Städte in jenen Tagen sehr viel mehr als die 130 Kilometer, die geografisch zwischen ihnen liegen. Ausgerechnet in Weimar, dort, wo gern der Urgrund bildungsbürgerlich-deutscher Identitätsstiftung vermutet wird, hatte sich 1924 eine Landesregierung konstituiert, die als erste in Deutschland auf die Zustimmung von Nationalsozialisten angewiesen war; gut möglich freilich, dass es auch sonst dem neuen konservativen Bildungsminister Thüringens nicht schwergefallen wäre, diesem nur allzu verdächtig-modernistischen Projekt namens Bauhaus den Geldhahn abzudrehen.
Rückbesinnung auf das Handwerk
Nebenan dagegen, in Anhalt, schien eine fortschrittsbewusste Regierungsmehrheit vorerst gesichert – und konkret Dessau konnte zwar nicht mit einem Weimar vergleichbaren Kulturrenommee aufwarten, dafür mit einem Asset, das für die Zukunft der Bauhausbewegung sehr viel bedeutender werden sollte: den Flugzeug- und Motorenwerken des Hugo Junkers. Denn mag es auch seltsam klingen: Die Idee Bauhaus, ursprünglich aus der Rückbesinnung von Kunst und Künstlern auf das Handwerk gespeist, fand ausgerechnet im Industriellen und also in Dessau ihre Erfüllung.
So ist es wohl nur folgerichtig, dass bloß sechs Jahre, nachdem man 100 Jahre Bauhausgründung gedacht hat, schon wieder in Sachen Bauhaus gefeiert wird. Dieser Tage eben die Übersiedlung nach Dessau und damit die endgültige Selbstfindung einer künstlerischen Bewegung, die wie keine andere des 20. Jahrhunderts unser aller Lebenswelt verändert hat: von den Orten, in denen wir wohnen, über die Möbel, auf denen wir sitzen, bis zu dem Besteck, mit dem wir essen.
Neue Heimstatt
Dass man sich für die dazugehörigen Veranstaltungen bis in den Dezember 2026 hinein Zeit nimmt, ist nicht nur der Masse an Material geschuldet: Dafür liefert auch die Bauhaushistorie selbst eine Rechtfertigung. Schon im März 1925 beschließt der Dessauer Gemeinderat, den Bauhäuslern neue Heimstatt zu sein, Anfang April beginnt der Unterricht. Aber erst im Dezember des folgenden Jahres kommt man tatsächlich in Dessau an: mit der Eröffnung des Herzstücks künftiger Unterweisung, des Bauhausgebäudes eben. Weiters bezugsfertig: die Wohnstätten des Direktors und des sonst lehrenden Personals, Meisterhäuser genannt und Logis für einen halben Gotha zeitgenössischer Kunst, Klee, Kandinsky und so weiter; nicht zu vergessen die ersten Teile jener Siedlung Törten, die zum Prototyp eines preisgünstigen Massenwohnbaus werden soll.
All das von der Planung bis zur Errichtung in kaum mehr als einem Jahr auf den Weg gebracht zu haben, wäre schon erstaunlich genug. Nebstbei ist man in diesen ersten Monaten auf Unterbringungen angewiesen, die notgedrungen einem ganz anderen Formverständnis folgen als jenem primär rationalen, das im Umfeld von Gropius & Co Prinzip ist. Unterbringungen, an die mit Stadtführungen unter dem Motto „Unsichtbares Bauhaus“ erinnert wird: etwa die lokale Kunstgewerbeschule, errichtet 1897, die als erster Dessauer Bauhaussitz diente. Die Vorstellung, dass sich die Geburt einer Moderne hinter Jahrhundertwende-Backstein samt Türmchen und Treppengiebeln begeben hat, ist nicht ohne Ironie.
Schauwerte sonder Zahl
Andererseits, wer Belege für all die negativen Konnotationen sucht, die mit dem Begriff der Architekturmoderne heute nur allzu oft verbunden werden, menschenfeindlich, uniform, dogmatisch, wird sie ausgerechnet an Gropius’ Bauhausgebäude, diesem Bau gewordenen Programm, schwerlich finden können. Je nach Nutzung klar differenziert, bis in Details exakt durchdacht und gestaltet, steht die dreiflügelige Anlage da, längst wieder blitzblank instandgesetzt. Und es ist keineswegs nur die allseits gerühmte Glasfassade des Werkstättentrakts, die fotografisch ambitionierte Architekturfreunde das Gebäude immer wieder umkreisen lässt; auch wie Licht und Schatten die Balkonkavalkade des Ateliertrakts beständig in Bewegung setzen, liefert Schauwerte sonder Zahl. Als wäre nirgendwo sonst mehr ornamentale Wirkung zu haben als genau in dieser radikalen Beschränkung auf Funktion.
Freilich, nicht bloß ein Bauhaus gibt es, das des Walter Gropius, vielmehr mehrere Bauhäuser, je nach Lehrpersonal, Standorten, Umständen der Zeit. Und noch sehr viel mehr danach, was jene, die dort lernten, später daraus machten. Was die einen der Welt und Tel Aviv die „Weiße Stadt“ bescheren ließ, hinderte einen anderen, den nächst Linz geborenen Fritz Ertl, nicht daran, Architekt von Auschwitz-Birkenau zu sein.
1932 jedenfalls ist es auch in Dessau mit dem Bauhaus vorbei: Im Gemeinderat haben die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Ein Jahr später folgt die Selbstauflösung in Berlin. Die Bauhaus-Geschichte ist zu Ende – und hat recht eigentlich erst begonnen.
Balanceübungen und Fassadenkletterer
Es gibt Wünsche, von denen man erst weiß, nachdem sie sich erfüllt haben. Kein Dessaubesucher, der im Ateliertrakt des Bauhausgebäudes Quartier nimmt, wird sich dessen imaginativer Anziehungskraft entziehen können: von der Aula im Erdgeschoß mit der von Marcel Breuer so klug wie komfortabel gestalteten Bestuhlung bis zu den ehemaligen Studierendenstuben selbst samt ihrem Bauhausmobiliar und dem knapp zimmerbreiten Fensterband. Nicht zu vergessen – eben – die Balkone, damals alsbald zum Hauptort der Kommunikation unter den Studierenden erkoren. Und zum Sportgerät: Als Bauhausgründer Walter Gropius „sein Werk, das eben bezogene Bauhaus in Dessau, zu betrachten gedachte“, so die Erinnerung von Marianne Brandt, Bauhausstudentin und nachmalig Industriedesignerin von Rang, „bekam er einen nicht geringen Schrecken, da er feststellen musste, dass seine Bauhäusler Flachdach und Atelierfront zu Balanceübungen und als Fassadenkletterer benutzten.“ Bouldern nach Bauhaus-Art.
100 Jahre ist es her, dass Bauhaus-Lehrende und -Lernende von ihrer thüringischen Gründungsstätte, Weimar, ins anhaltische Dessau übersiedeln mussten. Politisch nämlich trennte die beiden Städte in jenen Tagen sehr viel mehr als die 130 Kilometer, die geografisch zwischen ihnen liegen. Ausgerechnet in Weimar, dort, wo gern der Urgrund bildungsbürgerlich-deutscher Identitätsstiftung vermutet wird, hatte sich 1924 eine Landesregierung konstituiert, die als erste in Deutschland auf die Zustimmung von Nationalsozialisten angewiesen war; gut möglich freilich, dass es auch sonst dem neuen konservativen Bildungsminister Thüringens nicht schwergefallen wäre, diesem nur allzu verdächtig-modernistischen Projekt namens Bauhaus den Geldhahn abzudrehen.
Rückbesinnung auf das Handwerk
Nebenan dagegen, in Anhalt, schien eine fortschrittsbewusste Regierungsmehrheit vorerst gesichert – und konkret Dessau konnte zwar nicht mit einem Weimar vergleichbaren Kulturrenommee aufwarten, dafür mit einem Asset, das für die Zukunft der Bauhausbewegung sehr viel bedeutender werden sollte: den Flugzeug- und Motorenwerken des Hugo Junkers. Denn mag es auch seltsam klingen: Die Idee Bauhaus, ursprünglich aus der Rückbesinnung von Kunst und Künstlern auf das Handwerk gespeist, fand ausgerechnet im Industriellen und also in Dessau ihre Erfüllung.
So ist es wohl nur folgerichtig, dass bloß sechs Jahre, nachdem man 100 Jahre Bauhausgründung gedacht hat, schon wieder in Sachen Bauhaus gefeiert wird. Dieser Tage eben die Übersiedlung nach Dessau und damit die endgültige Selbstfindung einer künstlerischen Bewegung, die wie keine andere des 20. Jahrhunderts unser aller Lebenswelt verändert hat: von den Orten, in denen wir wohnen, über die Möbel, auf denen wir sitzen, bis zu dem Besteck, mit dem wir essen.
Neue Heimstatt
Dass man sich für die dazugehörigen Veranstaltungen bis in den Dezember 2026 hinein Zeit nimmt, ist nicht nur der Masse an Material geschuldet: Dafür liefert auch die Bauhaushistorie selbst eine Rechtfertigung. Schon im März 1925 beschließt der Dessauer Gemeinderat, den Bauhäuslern neue Heimstatt zu sein, Anfang April beginnt der Unterricht. Aber erst im Dezember des folgenden Jahres kommt man tatsächlich in Dessau an: mit der Eröffnung des Herzstücks künftiger Unterweisung, des Bauhausgebäudes eben. Weiters bezugsfertig: die Wohnstätten des Direktors und des sonst lehrenden Personals, Meisterhäuser genannt und Logis für einen halben Gotha zeitgenössischer Kunst, Klee, Kandinsky und so weiter; nicht zu vergessen die ersten Teile jener Siedlung Törten, die zum Prototyp eines preisgünstigen Massenwohnbaus werden soll.
All das von der Planung bis zur Errichtung in kaum mehr als einem Jahr auf den Weg gebracht zu haben, wäre schon erstaunlich genug. Nebstbei ist man in diesen ersten Monaten auf Unterbringungen angewiesen, die notgedrungen einem ganz anderen Formverständnis folgen als jenem primär rationalen, das im Umfeld von Gropius & Co Prinzip ist. Unterbringungen, an die mit Stadtführungen unter dem Motto „Unsichtbares Bauhaus“ erinnert wird: etwa die lokale Kunstgewerbeschule, errichtet 1897, die als erster Dessauer Bauhaussitz diente. Die Vorstellung, dass sich die Geburt einer Moderne hinter Jahrhundertwende-Backstein samt Türmchen und Treppengiebeln begeben hat, ist nicht ohne Ironie.
Schauwerte sonder Zahl
Andererseits, wer Belege für all die negativen Konnotationen sucht, die mit dem Begriff der Architekturmoderne heute nur allzu oft verbunden werden, menschenfeindlich, uniform, dogmatisch, wird sie ausgerechnet an Gropius’ Bauhausgebäude, diesem Bau gewordenen Programm, schwerlich finden können. Je nach Nutzung klar differenziert, bis in Details exakt durchdacht und gestaltet, steht die dreiflügelige Anlage da, längst wieder blitzblank instandgesetzt. Und es ist keineswegs nur die allseits gerühmte Glasfassade des Werkstättentrakts, die fotografisch ambitionierte Architekturfreunde das Gebäude immer wieder umkreisen lässt; auch wie Licht und Schatten die Balkonkavalkade des Ateliertrakts beständig in Bewegung setzen, liefert Schauwerte sonder Zahl. Als wäre nirgendwo sonst mehr ornamentale Wirkung zu haben als genau in dieser radikalen Beschränkung auf Funktion.
Freilich, nicht bloß ein Bauhaus gibt es, das des Walter Gropius, vielmehr mehrere Bauhäuser, je nach Lehrpersonal, Standorten, Umständen der Zeit. Und noch sehr viel mehr danach, was jene, die dort lernten, später daraus machten. Was die einen der Welt und Tel Aviv die „Weiße Stadt“ bescheren ließ, hinderte einen anderen, den nächst Linz geborenen Fritz Ertl, nicht daran, Architekt von Auschwitz-Birkenau zu sein.
1932 jedenfalls ist es auch in Dessau mit dem Bauhaus vorbei: Im Gemeinderat haben die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Ein Jahr später folgt die Selbstauflösung in Berlin. Die Bauhaus-Geschichte ist zu Ende – und hat recht eigentlich erst begonnen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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