Humboldt-Forum
Berlin (D) - 2020
Franco Stella
Neue Zürcher Zeitung
Deutschland streitet über den Wiederaufbau historischer Gebäude
Seit dem Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dresdner Frauenkirche gibt es in Deutschland eine Debatte über die Legitimität von Rekonstruktionen. Die meisten Fachleute nehmen eine ablehnende Haltung ein, obwohl es auch Argumente für die Rekonstruktion gibt.
Die erfolgreiche Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche hat in Deutschland das Bedürfnis nach der Rekonstruktion von im Zweiten Weltkrieg zerstörten, symbolisch bedeutenden Bauten sowie der Wiederherstellung alter Stadtteile erneut geweckt. Sie hat aber auch eine lebhafte Debatte um die architektonische Legitimität solcher Rekonstruktionen ins Leben gerufen. Dabei stehen sich Befürworter und Gegner unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite findet man die Vertreter von Initiativen, die leidenschaftlich für die Rekonstruktion eines Bauwerks eintreten, auf der andern die Mehrheit der Architekten, Kunstwissenschafter und Denkmalpfleger.
Obsoleter Radikalismus
In den meisten Äusserungen der Rekonstruktionsgegner kehrt das Argument wieder, es handle sich bei den Rekonstruktionen letztlich um Täuschungen. Die neu errichteten Bauten gäben nur vor, historische Bauwerke zu sein. Dadurch werde aber beim Betrachter der Sinn für das echte historische Denkmal und dessen Geschichtlichkeit untergraben. Besonders fatal seien Rekonstruktionen, bei denen man sich aus Kostengründen oder aufgrund des Nutzungskonzepts auf die Fassade beschränke, einen blossen «Fassadismus» betreibe. Zumindest auf den ersten Blick wirkt das Argument überzeugend. Wo das Authentische der Täuschung entgegengesetzt wird, ist die Versuchung gross, sich auf die Seite des Echten zu schlagen. Aber was kann das im Bereich der Architektur bedeuten?
Dass man sich noch heute in der Rekonstruktionsdebatte auf Georg Dehios Satz «konservieren, nicht restaurieren» aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts beruft, zeigt einen eigentümlichen Mangel an geschichtlicher Reflexion an. Für Dehio war Echtheit an das Material gebunden, die alten Steine. Aber nach dem, was der Bombenkrieg der Jahre 1943–1945 angerichtet hat, die Vernichtung der baulichen Substanz fast aller deutschen Städte, kann man die Echtheit nicht mehr am Material festmachen, sondern muss die Kategorie neu bestimmen, und zwar von der Form her. Die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche kann, obwohl sie nur wenige Spolien des alten Baus enthält, als authentisches Gebäude des Barock gelten, weil sie den alten Formgedanken hat wiedererstehen lassen.
Problematisch ist aber auch der Gegenbegriff der Fiktion; im architekturtheoretischen Diskurs lässt sich hinter ihm unschwer Adolf Loos' Kritik am Ornament ausmachen. Diese beruht auf der Vorstellung eines gradlinigen geschichtlichen Fortschritts, die wir nicht mehr teilen. Der Purismus von Loos gehört einer Moderne an, die sich die Reinheit des jeweiligen Mediums zum Ziel gesetzt hat, dabei beeindruckende Entdeckungen gemacht hat, aber letztlich in eine Sackgasse geraten ist. In der Architektur ist dies die Vernachlässigung der ästhetischen und lebenspraktischen Bedürfnisse der Menschen. Inzwischen hat die Postmoderne das Ornament rehabilitiert.
Hinter dem Argument, Rekonstruktionen stellten Geschichtsfiktionen dar, verbirgt sich also ein heute obsoleter Radikalismus der klassischen Moderne. Gegen ihn ist unter anderem daran zu erinnern, dass nicht nur Hegel, sondern auch sein Antipode Nietzsche im Schein ein wesentliches Moment der Wirklichkeit gesehen haben. Selbst Gropius hat bei seinem Dessauer Meisterhaus, das Modellcharakter hatte, den Einsatz von Fiktionen keineswegs verschmäht. Er hat zwei bautechnisch notwendige Stützpfeiler mit Spiegelglas umkleidet und sie dadurch unsichtbar gemacht.
Auch der Vorwurf, es gehe den Befürwortern von Rekonstruktionen nur um die Befriedigung nostalgischer Bedürfnisse, gehört in den Kontext eines ungebrochenen Modernismus. Vergangenen Epochen nachzuhängen, ist an und für sich noch keine tadelnswerte Einstellung; sie wird es erst, sobald der Kritiker die eigene Gegenwart hypostasiert. Hinzukommt, dass die Beschleunigung geschichtlicher Veränderungen, die wir im Zeichen der Globalisierung erleben, geradezu notwendig Rückwendungen hervortreibt. Die Welt können wir nicht verändern, aber vielleicht die Stadt, in der wir leben, mitgestalten.
Nun räumen jedoch inzwischen die meisten Kritiker der Rekonstruktion selbst ein, dass es eine verständliche Enttäuschung über die moderne Architektur gibt, über «ihre Traditionsfeindlichkeit, ihren Mangel an identitätsstiftender Kraft, ihre ästhetische Belanglosigkeit». Trotzdem folgt die Argumentation nach wie vor den Linien eines dogmatisch festgehaltenen Modernismus. Dieses Moment von Verstocktheit dürfte letztlich auf die im kollektiven Bewusstsein der Deutschen eingesenkte Unfähigkeit zurückgehen, die Vernichtung fast aller deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg als kulturelle Katastrophe anzuerkennen. Die Rekonstruktionsdebatte rührt an eine Wunde, die seinerzeit verleugnet werden musste, um das Weiterleben möglich zu machen. Winfried G. Sebald hat in seinem Essay «Luftkrieg und Literatur» aus dieser Einsicht die These entwickelt, dass «die erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhesierung» einen «bis heute nicht zum Versiegen gekommenen Strom psychischer Energien» habe entstehen lassen, der «die Deutschen in den Jahren nach dem Krieg fester aneinander band und heute noch bindet als jede positive Zielsetzung». In der Tat haben Beobachter aus dem Ausland übereinstimmend berichtet, dass die Deutschen sich in den Trümmern bewegten, als seien diese immer schon ihre Umwelt gewesen.
Deblockierung der Debatte
Man fragt sich, ob das Verlangen nach Rekonstruktionen, das in letzter Zeit oft so vehement hervorbricht, nicht ein Anzeichen dafür ist, dass viele Menschen in Deutschland anfangen, sich die äusseren und inneren Verheerungen, die der Bombenkrieg mit sich gebracht hat, einzugestehen. Die Unversöhnlichkeit aber, mit der viele Architekturtheoretiker sich dagegen wehren, würde nicht nur einem festgehaltenen ästhetischen Modernismus geschuldet sein, sondern vor allem auch der Verdrängung dessen, was im Zweiten Weltkrieg – durch eigene Schuld – mit den Deutschen und ihrem Land geschehen ist.
Die Blockierung der Debatte liesse sich wohl nur überwinden, wenn die Fachleute sich für eine historische Reflexion öffneten und bereit wären, auch die Möglichkeit eigener Verhärtungen mitzubedenken. Sie müssten zum andern das Scheitern der durchschnittlichen modernen Architektur, die das Bild unserer Städte bestimmt, ernst nehmen, dessen Ursachen nachgehen und von daher Konzepte eines Urbanismus entwickeln, der traditionelle Bautypen einbezieht, ohne sie zum bloss spielerischen Beiwerk zu erniedrigen.
Manche weniger brave Lösung hätte es gegeben, doch das Berliner Stadtschloss soll wieder auferstehen. Ein Sammelband vergleicht es mit anderen Wiederaufbauten.
Es habe nichts gegen den Entwurf Franco Stellas zu sagen gegeben, merkte der Juryvorsitzende Vittorio Magnago-Lampugnani an, als kürzlich der Sieger im Wettbewerb um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses präsentiert wurde. In seiner bekannten Diskretion könnte Lampugnani, selbst Architekt und Vertreter einer traditionsbewussten Moderne, damit auch angedeutet haben, dass man nichts Besseres gefunden habe als diesen braven Nachbau mit rationalistischen Einsprengseln.
Im Berliner Kronprinzenpalais (eine äußere Komplettrekonstruktion aus den sechziger Jahren der DDR) kann man derzeit sehen, wie viele Vorschläge es gab. Es finden sich darunter durchaus bedenkenswerte Lösungen. Die von Jan Kleihues etwa, der die rekonstruierten, fulminanten Barockschwünge Andreas Schlüters mit der sonoren Markanz seiner gut proportionierten Werkstein-Kuben kombiniert. Stephan Braunfels wagte es, die geschlossene Form des einstigen Schlosses – von dem vergessen ist, dass es die Berliner und auch so mancher Hohenzollern deswegen „die Kaserne“ titulierten – an der Ostflanke zu öffnen und damit überraschende neue Perspektiven zu gewinnen.
Ebenfalls an dieser vierten, kaum zu rekonstruierenden Seite, für die der Ausschreibungstext denn auch Neues gestattete, schlug das Bremer Büro Haslob Kruse & Partner eine Fassade als wehende Goldfolie vor, die an die Spiegeleffekte und kupferbedampften Glaswände des Palasts der Republik erinnert. Der Frankfurter Christoph Mäckler bot, selbstbewusst wie immer, an, die rekonstruierten Partien mit seinen markanten, immer etwas neoexpressionistisch anmutenden Großformen zu verbinden. Die wohl bestechendste Lösung legten die Berliner Kuehn Malvezzi vor, die, inspiriert vielleicht von Hans Döllgasts legendärem Wiederaufbau der Münchner Alten Pinakothek, den historischen Corpus und seine Fassaden unter Verzicht auf die Kuppel in „urpreußischem“ Backstein nachzeichnen wollten, der erst allmählich überdeckt würde mit Schlüterrepliken.
Doch selbst noch mutigere Lösungen hätten unter den derzeitigen Umständen keine Chance gehabt. Die Republik will wieder das Schloss, je getreuer dem Original, desto besser; je dezenter das Neue, desto lieber. Dass dem so ist, belegt Guido Hinterkeusers Band, der eine im April 2007 abgehaltene Tagung über beispielgebende Schlossrekonstruktionen dokumentiert. „Menschen, die einem Schloss entgegentreten“, so formuliert Wolfgang Wiese in seinem Beitrag über das Mannheimer Schloss das aktuelle Motto nicht nur für Rheinland-Pfalz, sondern für Berlin und die Republik, „erwarten nicht nur die äußere, sondern auch die innere Wirkung. Beeindruckt von einer prunkvollen Atmosphäre, sind sie weitaus eher bereit, sich auf das meist unnahbare Thema Geschichte einzulassen.“
Wolfgang Wiese erfindet denn auch gleich eine neue denkmalpflegerische Kategorie – die „strukturelle Rekonstruktion“. Was damit gemeint ist, zeigt Mannheim, wo sechzig Jahre nach der Zerstörung und einem modernen Wiederaufbau des Inneren eine Raumfolge in nachempfundenem Rokoko und Empire eingefügt wurde. Was Denkmalpfleger, aber auch viele Liebhaber historischer Baukunst vor etwa einem Jahrzehnt als „nicht Fisch noch Fleisch“ bezeichnet hätten, erhält nun das Lob der Experten.
Welcher Missbrauch mittlerweile mit dieser Sehnsucht betrieben wird und dass „prunkvolle Atmosphäre“ inzwischen oft den Gesetzen der Warenästhetik folgt, belegt Dankwart Guratzsch in seinem Beitrag über den (Teil-)Wiederaufbau des Braunschweiger Schlosses als prächtig atmosphärische und konsumstimulierende Fassade einer riesigen Mall. Alle übrigen Beiträge aber kreisen mehr oder weniger deutlich um das absolute Muss einer Berliner Schlossrekonstruktion: Noch einmal ist man gerührt und möchte sofort einen Aufruf zum Nachbau unterschreiben, wenn Saskia Hüneke aufweist, mit welcher Brutalität die DDR das standfeste Potsdamer Stadtschloss schliff und welche Fülle an wiederverwendbaren Statuen, Architekturteilen, Ziergittern und Reliefs bereitliegt. Erneut imponiert die Hartnäckigkeit, mit der Warschau das von den Deutschen gesprengte Schloss aus dem Nichts wiedererstehen, nachbauen oder bedeutungsgerecht interpretieren ließ. Ungläubig liest man vom derzeit stattfindenden Nachbau des Palasts der Großfürsten von Litauen in Vilnius, der vor dreihundert Jahren schon verschwand und dessen Auferstehung angeblich sogar die Unesco gutheißt.
Auch Hans Kollhoff – im Wettbewerb gescheitert – äußerte sich 2007 zur Berliner Rekonstruktion. Sein knappes Plädoyer für „Weiterbauen“, sprich: eine Kombination aus Rekonstruktion und interpretierendem Ergänzen, imponiert. Aber es ging beziehungsweise geht an der allgemeinen Stimmung vorbei: Deutschland will momentan auf Biegen oder Brechen die Rekonstruktion. Die Großherzigkeit, mit der man dabei auch im doppelten Wortsinn oberflächliche Imitate akzeptiert, bezeugt, dass wir einer Obsession verfallen sind. Sie gleicht unseren Träumen von Kindheit. So, wie fast jedermann – notfalls auch wider besseres Wissen – mit ihr Geborgenheit und Glück verbindet, verbindet die allgemeine Vorstellung mit der Wiederkehr des Schlosses unbewusst die Kontinuität der Kinderjahre. Dass dies eine Illusion ist, könnte der Blick in die Geschichte zeigen. Doch die ist, wie Wolfgang Wiese konstatierte, derzeit „unnahbar“.
[ Guido Hinterkeuser (Hrsg.): „ Wege für das Berliner Schloss/Humboldt-Forum“. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945–2007). Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2008. 280 S., 184 Farb- u. S/W-Abb., Grundrisse, br., 44,90 €. ]