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Wunderhöhle für die Wissenschaft
Der Standard

Im Gilder Center, dem neuesten Zubau des American Museum of Natural History in Manhattan, haben Jeanne Gang und ihr Team Funktionalität, Forscherdrang und Spieltrieb meisterhaft verknüpft.

26. August 2023 - Colette M. Schmidt
Seit Mai ist New York um eine bemerkenswerte Sehenswürdigkeit reicher: Das Richard Gilder Center für Wissenschaft, Bildung und Innovation ist der jüngste Zubau des American Museum for Natural History (AMNH). Das 150 Jahre alte Museum erstreckt sich über vier Häuserblöcke auf der Upper West Side Manhattans und war bei Einheimischen und Touristen schon bisher beliebt. Aber auch viele Menschen, die gar nie in New York waren, kennen es, weil sie eine Nacht mit Ben Stiller und Robin Williams hier verbracht haben – die Komödie Night at the Museum spielt hier.

Mutter Natur

Das Gilder Center stiehlt den ehrwürdigen alten Museumsgebäuden nun aber die Schau, und wahrscheinlich wird das auch so bleiben. Auch im Sommer nach der Eröffnung kommen viele Besucherinnen und Besucher nicht nur, um die Welt von Insekten zu erkunden, sondern um diesen Bau zu erleben.

Es ist ein höhlenartiger Bau mit sechs Etagen, der hier scheinbar aus der Erde gewachsen oder zumindest von Mutter Natur selbst erschaffen wurde. Vermutlich etwa zu der Zeit, aus dem die berühmten Dinosaurierskelette im AMNH stammen. Doch hier haben Menschen mit rauem Beton anschmiegsam Räume geschaffen, deren Wände Wellen schlagen, und Mutter Natur heißt in diesem Fall Jeanne Gang. Die Architektin hat den Bau mit dem von ihr in Chicago gegründeten Studio Gang entworfen. An die Flintstones erinnere das riesenhafte Center, meinte etwa der Guardian. Doch bei aller Liebe für die Zeichentrickwelt der Familie Feuerstein wird der Vergleich der eleganten Verknüpfung von Funktionalität, Forscherdrang und Spieltrieb dieses Gebäudes nicht gerecht.

Geöffnete Sackgassen

Zusätzliche Ausstellungsräume, ausgestattete Klassenzimmer und eine Bibliothek mit einem wunderbaren Blick über die Stadt wurden geschaffen. Doch nebenbei haben es Gang und ihr Team geschafft, 33 Verbindungen zwischen zehn bestehenden Museumsteilen herzustellen und den gesamten Campus samt früheren Sackgassen dabei zu erschließen.

Die neue Höhlenburg öffnet sich zur Columbus Avenue hin und empfängt Gäste in einem von natürlichem Licht durchfluteten, hohen Atrium. Von hier aus hat man einen guten Überblick über alle Ausstellungen und Sammlungen. Auf Stufenbänken kann man in Ruhe überlegen, wo man beginnen möchte.

Ist man über das alte Hauptgebäude gekommen, überrascht die Leichtigkeit, mit der der Übergang gelungen ist. Plötzlich im neuen Gebäude gelandet, geht man weiter und bemerkt, wie sich der Strom der Besuchenden etwas verlangsamt, bis die meisten plötzlich stehen bleiben. Nicht weil es Engpässe gäbe, sondern weil die Leute stehen bleiben, um staunend durch eine der Öffnungen hinunter ins Atrium zu schauen. Von den Canyons im Westen der USA hat sich das Studio Gang hier inspirieren lassen.

Das Staunen kann mehrere Minuten dauern. Das ist vielleicht das schönste Kompliment für eine Museumsarchitektur, noch dazu in einer Stadt, in der es an ikonischen Museen nicht mangelt. Fast genau gegenüber, auf der anderen Seite des Central Park, liegt das ebenfalls rund 150 Jahre alte Metropolitan Museum und schräg gegenüber das legendäre Guggenheim von Frank Lloyd Wright.

Einige der Öffnungen, durch die natürliches Licht in das Atrium fällt, korrespondieren mit der näheren Umgebung des Gilder Center. Der Eingang rahmt ein benachbartes Gebäude ein und zu „Manhattanhenge“, wenn viermal im Jahr vor und nach den beiden Sonnenwenden die Straßenzüge von Westen nach Osten im Sonnenuntergang glühen, soll auch das Gilder Center besonders leuchten.

Nach innen strahlt der Bau jedenfalls trotz seiner rund 21.400 Quadratmeter Größe Geborgenheit aus, sicher auch für die Kinder der Schulklassen, die hier viele Exponate auch angreifen dürfen. Während in älteren Museumsteilen Dinosaurier stehen und ein lebensgroßer Wal von der Decke hängt, ist die Riesenhöhle nämlich den ganz kleinen Lebewesen gewidmet: Man lernt hier alles über Insekten aller Art, wobei einige Arten auch lebendig beobachtet werden können. Nicht alle sind so hübsch wie jene im Butterfly Vivarium auf der zweiten Ebene, wo einem rund tausend Schmetterlinge umflattern.

Virtuell ist hingegen ein anderes Highlight im neuen Museumsbau: die Ausstellung Invisible Worlds (Unsichtbare Welten) erzählt mit flirrenden Bildern von intensiven Farben und glasklarem Sound, wie alles Leben auf der Erde miteinander verbunden ist. Ganze Familien stehen hier etwa im Regenwald und kommen den Bäumen in den 360-Grad-Projektionen so nah, dass sie Insekten über die Baumrinden krabbeln sehen. Minuten später sind sie in den Tiefen des Ozeans Auge in Auge mit Plankton. Die eigenen Schritte können dabei Projektionen am Boden beeinflussen.

Jeanne Gang will, dass das Gilder Center „zum Entdecken und Erforschen“ einlädt, „nicht nur symbolisch auf einer wissenschaftlichen Ebene, sondern zu einem großen Teil auch im Sinne dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein“.

Auf Augenhöhe mit allem Leben auf dem Planeten: Das ist der rote Faden der didaktischen Inhalte des Museums, die Architektur nimmt diesen durchwegs auf – egal ob man vor übergroßen Honigwabenmodellen steht oder selbst wie eine Ameise durch die geschwungenen Gänge des Zubaus läuft.

Vertrauen in die Wissenschaft

Angesichts der Begeisterung, mit der das Museum von Medien und den Gästen aufgenommen wird, ist es wahrscheinlich leichter zu verkraften, dass es 465 Millionen Dollar (rund 427 Millionen Euro) und nicht wie anfangs budgetiert 325 Millionen Dollar kostete und statt 2019 erst 2023 fertig wurde.

Ellen Futter, 30 Jahre Präsidentin des AMNH, übergab die Museumsleitung nur Wochen vor der Eröffnung ihrem Nachfolger Sean Decatur.

Bei der Eröffnung hoffte Futter, dass das Gilder Center in einer „kritischen Zeit“ Menschen helfen werde, „die Natur besser zu verstehen, der Wissenschaft zu vertrauen und sich dazu inspirieren zu lassen, unseren kostbaren Planeten und seine zahlreichen Lebensformen zu beschützen“. Wo könnte das besser gelingen?

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Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

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