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Triest: Ist diese Brutalität noch zu retten?
Spectrum

Il Quadrilatero di Rozzol Melara in Triest ist der Versuch, eine Kleinstadt in einem Gebäude zu beheimaten – ein beeindruckendes Scheitern, von dem man lernen darf. Über die brutalistische Umsetzung einer Vision.

15. August 2023 - Sigrid Verhovsek
Hinter einer Dornröschenhecke aus Bauzäunen ruht das etwa 60 ha große Areal des in den 1970er-Jahren aufgelassenen alten Hafens von Triest. Als „Porto Vivo“ soll er von ausländischem Investorengeld aus dem Schlaf geküsst werden. Zur selben Zeit, als der alte Hafen stillgelegt wurde, manifestierte sich auf einem Hügel etwa vier Kilometer östlich des Zentrums von Triest eine andere Art von Realität, fast eine Utopie: Knapp an der Stadtgrenze findet sich eine ungewöhnliche Megastruktur, die Il Quadrilatero di Rozzol Melara genannt wird. Eine möglichst autonome Satellitenstadt sollte günstige Mietwohnungen für 2500 Menschen bereitstellen, die minimierten Binnengrund­risse durch großzügige Gemeinschafts­bereiche ausgeglichen werden.

Leistbares Wohnen und generell der Mietwohnungsmarkt besitzen in Italien einen gänzlich anderen Stellenwert als in Österreich. Kommunales oder gemeinnütziges Bauen ist ein Nischenthema, die Aufgabe des sozialen Wohnbaus verblieb lange in Hand privatwirtschaftlicher Unternehmen. Bei gleichem Verstädterungsgrad und obwohl etwa gleich viele Menschen in Mehrparteienhäusern leben, ist in Italien das Eigentum die gewünschte soziale Norm. Der Anteil an marktpreisbasierten Mietwoh­nungen beträgt weniger als 15 Prozent, der Anteil an Sozialwohnungen macht weniger als fünf Prozent aus: Diese Optionen werden nur von Menschen aus den untersten Einkommensgruppen genutzt – bevorzugt als Übergangslösung. In Österreich machen Miet­wohnungen über 40 Prozent des Wohnungsbestandes aus – „zur Miete“ oder „gefördert“ wohnen ist hierzulande kein Stigma, sondern Standard.

Stahl, Glas und Beton

Nach dem Zweiten Weltkrieg baute der Wohlfahrtsstaat (beider Länder) gerne brutalistisch, in einer, laut Reyner Banham, neuen Verbindung von Ethik und Ästhetik: Stahl, Glas und Beton in klaren Formen und einfachen Geometrien zeigen unverschleierte ­Authentizität, Gemeinschaftsräume mildern Anonymität und Isolation der modernen Industriestadt. Soweit die Theorie, nach der auch der Triestiner Quadrilatero 1969–1982 von einem Kollektiv von 29 Architekten und Ingenieuren unter Leitung von Carlo Celli vom Studio Celli Tognion errichtet wurde.

Das „Viereck“ besteht in Wirklichkeit aus zwei L-förmigen Gebäuden mit Seitenlängen von je 200 Metern, die sich nicht anpassen, sondern dem Karst trotzig entgegenstehen. Die beiden offenen Ecken im Norden und Süden, durch die sich pfeilgerade die Via Pasteur zieht, wirken wie Sichtbeton-Schluchten mit 50 Meter hohen Seitenwänden. Riesige Pfeiler distanzieren das Gebäude vom Hang, der unbeeindruckt durchläuft. Das intendierte Spannungsfeld zwischen urbaner Erscheinung und freiem Umland wurde durch nachfolgende Bautätigkeiten in nächster Umge­bung zerstört. Der Innenhof wird durch­kreuzt von einer Brückenkonstruktion, die die Fußgänger verteilen soll. Ein kleines poolartiges Gebilde im Kreuzungspunkt ist bis auf Graffitis leer, einzig eine neugestaltete Bibliothek verheißt Wärme und Leben.

Das verbliebene Restgrün des Hofes ist zaghaft möbliert, ein Amphitheater bemerkt man erst auf den zweiten Blick. Trotz vorhandener Tiefgarage parken die Autos vor allem an der Straße und unter den Pfeilern. Das teils in respektabler Höhe liegende unterste Geschoß war als durchgehende Promenade gedacht, deren Shops und Gemeinschaftsräume heute leer stehen oder als Abstellräume dienen. Viele der anfangs ansässigen Geschäftstreibenden haben sich in unmittel­barer Nähe zu ebener Erde niedergelassen, wo es Laufkundschaft und Sichtbarkeit gibt. Geblieben sind eine Apotheke, ein Supermercato und eine kleine Bar/Trafik.

Die Gemeinschaftsbereiche wurden kaum betreut, die Hausverwaltung war überfordert durch das ungewohnte Flächenangebot. „Murales“ von örtlichen Künstlern wirken wie ein Echo auf Marylin Monroe und Gérard Philipe, die Alison und Peter Smithson in ihre himmlischen Straßen collagiert hatten: Hier serviert der verrückte Hutmacher Tee, Angelina Jolie eckt an Brad Pitt an, und die Grinsekatze verschwindet hinter den Spiegeln.

Überforderte Hausverwaltung

40 Stiegenhäuser erschließen als Zweispänner 648 Wohneinheiten mit einer mittleren Größe von 76 m² und zwei Schlafzimmern. Alle Einheiten besitzen eine Loggia. Derzeit wohnen etwa 1200 Personen im Quadrilatero, knapp acht Prozent der Wohnungen stehen leer.

Am Dach wiederholt sich die Promenade und bietet eine grandiose Sicht auf Triest – von der man sich nicht all zu sehr ablenken lassen darf, da dieser spezielle Höhenwanderweg anscheinend vorwiegend zum Gassigehen benutzt wird.

Die ästhetischen und funktionalen Zitate der großen Vorbilder sind deutlich – die Unité d’Habitation und ein wenig La Tourette von Le Corbusier, die halbkreisförmigen, von oben beleuchteten Gänge aus dem Kimball Art Museum von Louis I. Kahn, in minimierter Form auch die runden Fenster des Parlamentsgebäudes in Dhaka, und natürlich die „streets in the air“ der Smithsons, uneingelöste Sehnsucht nach lebhaftem Fußgängergeschehen und Nachbarschaft.

Zwischen all der Utopie hat es der menschliche Maßstab schwer. Dazu kommen jene Probleme, die ein Gebäude dieses Alters und dieser Bauart hat: Sichtbeton altert nicht anmutig, die Energiewerte sind schlecht, und eine Anpassung an generell geltende Standards ist notwendig. Abbruch wurde angedacht, aber 2002 wurde seitens der Eigentümergesellschaft ATER nominell mit der Renovierung begonnen – sie dauert an. Die Schwierigkeiten scheinen mit der Größe des Bauwerkes exponenziell anzusteigen, und dieses eigenartige Gebilde ist zudem nicht ikonisch wie die Wohnmaschinen eines Le Corbusier, die frisch renoviert wieder begehrt sind, wenn auch nicht von der Klientel, für die sie einst gedacht waren.

Über den Hügeln von Triest stellt sich kaum die Frage einer Gentrifizierung, sondern eher, ob man wieder gemeinschaftliches Leben in die dafür be­stimmten Räume locken kann. Zum Tee mit dem Hutmacher vielleicht?

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